Das von Christian Gerlach aufgestellte Postulat, die NS-Führung habe gegen die sowjetische Zivilbevölkerung und gegen Kriegsgefangene einen „Hungerplan“ verfolgt, war in letzter Zeit zunehmender Kritik ausgesetzt. Erst jüngst lehnte auch Johannes Hürter diesen Begriff ab und plädierte für die Verwendung der Bezeichnung „Hungerkalkül“.1 Gespannt ist man deshalb auf die Ergebnisse der Untersuchung „Exploitation, Resettlement, Mass Murder” von Alex J. Kay. Die an der Humboldt-Universität in englischer Sprache abgeschlossene Dissertation beschäftigt sich nahezu ausschließlich mit den deutschen Planungen vor dem Angriff auf die Sowjetunion. Im Mittelpunkt steht dabei die Ausbeutungspolitik, die Kolonial- und Umsiedlungspolitik sowie die Frage nach der polykratischen Herrschaftsstruktur, wobei der Rolle des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenbergs, besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Bisherige Studien, so konstatiert Kay, hätten die Entwicklung der Planungen und die Zusammenarbeit der Akteure meist vernachlässigt. Im Zentrum seiner Untersuchung steht deshalb die Kooperation bei den Vorbereitungen zur Neuordnung der besetzten Gebiete und bei der Implementierung einer wirtschaftlichen Ausbeutungspolitik. In mehreren Kapiteln beschäftigt er sich mit der Radikalisierung der Ausbeutungsplanungen, dem Aufbau einer Zivilverwaltung, den Plänen zum Mord an den Juden, der Bevölkerungspolitik, den Erwartungen und der Politik am Vorabend des Angriffes sowie den Entscheidungen Hitlers zur brutalen Verschärfung der Besatzungspolitik im Juli 1941. Die Studie wird durch eine chronologische Aufstellung der Ereignisse, durch Karten und ein Register sinnvoll ergänzt. Jüngere Veröffentlichungen zu Alfred Rosenberg und dem Ostministerium wurden allerdings noch nicht einbezogen.2 Die Untersuchung stützt sich vornehmlich auf Quellensammlungen und Literatur, Archive wurden nur in begrenztem Umfang genutzt: zwölf Akteneinheiten aus dem Militärarchiv in Freiburg, sieben Nummern aus dem Bestand des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete, fünf Akteneinheiten aus der Kanzlei Rosenberg usw.
Einführend werden die beteiligten Organisationen dargestellt, anschließend wird die Entscheidung Hitlers zum Angriff erläutert, die von Kay noch vor dem Besuch des sowjetischen Außenministers im November 1940 angesiedelt wird. Im folgenden Kapitel zur Germanisierungspolitik geht es um die offensichtlich erst nach dem 22. Juni 1941 einsetzenden Planungen von SS-Stellen. Hier stellt sich die Frage, warum Himmler und seine SS bis dahin noch keine Pläne für die Gebiete der Sowjetunion entwickelt hatten, obwohl sie ebenso wie Hitler der „Germanisierung des Ostens“ Priorität einräumten und die Ukraine als potentiellen „Lebensraum“ des Deutschen Reiches begriffen. Stattdessen verwendet der Autor mehrere Seiten auf ein erklärtermaßen unerhebliches Papier des Leiters des Verbandes der Deutschen Volksgruppen in Europa. Auch ein Abschnitt zu den sowjetischen Plänen des Jahres 1941, der vor allem der Widerlegung der so genannten „Präventivkriegsthese“ gewidmet ist, wirkt hier etwas deplatziert.
Obwohl die Ausbeutung das Hauptziel des Feldzuges war, seien die gravierenden wirtschaftlichen Folgen des Angriffes vor dem 22. Juni nicht kritisch analysiert worden. Zur Kompensierung dieses Mangels habe Staatssekretär Herbert Backe das Konzept einer systematischen Hungerpolitik entworfen, wobei eine enge Verbindung zwischen den ökonomischen Planungen und der Ermordung von „rassisch und politisch Unerwünschten“ sowie Vertreibungen und Umsiedlungen festzustellen sei. In Erweiterung der Thesen Christian Gerlachs wird konstatiert, dass die Zusammenarbeit zwischen allen an den Planungen Beteiligten – Vierjahresplanorganisation, Ostministerium, Wehrmacht, SS – weitgehender war, als bislang vermutet und Übereinstimmung in der Frage des systematischen Massenmordes durch Hunger oder Vertreibung bestanden habe “explicit and enthusiastic agreement [...] on a wide range of central aspects of policy” (S. 209). Bezüglich der Behandlung der Ukraine – immerhin das für die deutsche Kriegführung wichtigste Gebiet – sei diese Einigkeit jedoch nicht erzielt worden, was wiederum die Frage aufwirft, ob man folglich die konstatierte Übereinstimmung derart in den Vordergrund stellen kann. Insbesondere für die Wehrmacht scheint dies fraglich. Wenn an anderer Stelle von “various and, at times, contrasting proposals from the planning staffs” (S. 158) die Rede ist, interpretiert Kay diese als letztlich marginale Differenzen über Methoden, die an dem übergreifenden rassenideologisch begründeten und auf Mordabsichten beruhenden Konsens wenig änderten. Einen konkreten „Hungerplan“ habe es allerdings nicht gegeben, es handelte sich vielmehr um ein „Konzept“, „too insufficiently thought through to be described as a ‚plan’“ (S. 207).
Die Pläne, insbesondere des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes, werden nicht als Strategie zur Absicherung der Kriegsführung unter den Bedingungen der Blockade begriffen, sondern – auch die militärische Operationsplanung – als vorgeschobene Rechtfertigung zur Durchsetzung rassistischer Politik: „Of course, racist attitudes [...] were decisive in shaping the preparations for both the war itself and the subsequent occupation“ (S. 121). Diese Prämisse erklärt die Verwunderung des Autors, dass die „Notwendigkeit“ des Hungertodes in den berüchtigten Richtlinien der Chefgruppe Landwirtschaft des Wirtschaftsstabs Ost vom 23. Mai 1941 ohne „a single racial-ideological remark“ begründet wurde (S. 135f.). Die organisatorischen Treffen werden in der Studie trotz des eklatanten Mangels an Quellen teilweise als Absprachen über die Hungerpolitik präsentiert. Lediglich das Ergebnisprotokoll der „Besprechung zwischen Staatssekretären“ am 2. Mai 1941 dokumentiert jedoch, dass über die massenmörderischen Konsequenzen einer rigorosen Ausbeutung in Anwesenheit hoher Vertreter gesprochen wurde. Nach bisherigem Forschungsstand – zu nennen wäre etwa Götz Aly – war es Herbert Backe, der auf diesem Treffen forderte, den Tod von Millionen Zivilisten in Kauf zu nehmen, um genügend Nahrungsmittel für die Wehrmacht und das besetzte Europa zu gewinnen. Kay interpretiert das Protokoll hingegen als einen gemeinsamen „Beschluß“. Sein Bestreben gilt dabei insbesondere der Aufwertung der Rolle Rosenbergs, obwohl die Erweiterung des Teilnehmerkreises der Besprechung um einen federführenden Rosenberg eine Vermutung bleibt.3 Den seiner These widersprechenden Eintrag in Rosenbergs Tagebuch legt Kay daher als „Irrtum“ aus. Tatsächlich traf sich Rosenberg jedoch erst am 3. Mai 1941 mit General Thomas und Staatssekretär Körner. Auch die Einladung Rosenbergs zu einem Treffen wird fälschlicherweise auf General Thomas bezogen, gemeint war hingegen General Jodl, worauf bereits Christian Gerlach hingewiesen hat.
Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Forschungsdiskussion wäre auch an anderen Stellen hilfreich gewesen. Wenn Kay ohne eigene Prüfung der Quellen behauptet, die deutschen Militärplaner hätten keinerlei Vorbereitung für die Aufnahme und den Arbeitseinsatz von Millionen Kriegsgefangenen getroffen und auf diese Weise deren Hungertod eingeplant, handelt es sich um eine Übernahme der Thesen Christian Streits, die durch Reinhard Otto und Rolf Keller bereits 1998 in Frage gestellt wurden.4 Wenn der Chef des Wehrwirtschaft- und Rüstungsamtes, General Thomas, als Vertreter des geplanten Massenmordes vorgestellt und seine Denkschrift vom 13. Februar 1941 neuerlich als Bestätigung für den in der Sowjetunion lockenden Gewinn präsentiert wird, ignoriert auch dies die bereits von Heinrich Schwendemann und Eckehard Dworok vorgebrachte Kritik.5 Auch leidet allgemein die Differenzierung, wenn allzu häufig von „Nazis“, „leading officials“ oder „Nazi policies“ die Rede ist, wenn Äußerungen Görings allein aufgrund seiner Stellung im Dritten Reich als „repräsentativ“ beschrieben werden oder der Umstand außer Acht gelassen wird, dass grundsätzliche Kritik im NS-System oft taktisch verbrämt werden musste. Hier liegt eine hermeneutische Schwäche der Untersuchung, die solchen Bedingungen der Diktatur zu wenig Aufmerksamkeit schenkt.
So bietet die Studie einen Überblick zum Aufbau, zur Zusammensetzung und Kooperation der beteiligten Stellen, sie ergänzt die Einordnung der bekannten Quellen durch Christian Gerlach aber kaum. In der für die Wehrmacht am 22. Juni 1941 maßgeblichen „Grünen Mappe“ zur wirtschaftlichen Ausnutzung der besetzten Gebiete hieß es lediglich: „Nahrungsmittel für die Bevölkerung sind vorhanden...“ Über die konkrete Ausgestaltung der Vorgaben Hitlers wurde eben keineswegs Einigkeit erzielt. Kay hat die Unterschiede in den Planungen zugunsten einer starken These zu sehr vernachlässigt, und er greift auch zu kurz, wenn er die im Mittelpunkt stehenden „Kriegsnotwendigkeiten“ als vorsorgliche Exkulpationsstrategie zur Verbergung rassenideologisch begründeter Massenmordbestrebungen begreift. Hinter Statistiken kann sich ebensoviel Schrecken verbergen, wie sie die Untermenschen-Ideologie bereithielt. Aus diesem Grund wurde eine Untersuchung des Verhältnisses von „Intention“ und „Situation“, von ideologischen Faktoren und Umständen jüngst als Desiderat bezeichnet.6 Zum Schluss muss einmal mehr die Frage gestellt werden, warum ein Verlag der Verbreitung seiner Publikationen durch derart hohe Verkaufspreise von vornherein so enge Grenzen setzt.
Anmerkungen:
1 Gerlach, Christian, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999; Hürter, Johannes, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006, S. 491.
2 Piper, Ernst, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005; Zellhuber, Andreas, „Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu...“. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941-1945, München 2006.
3 Jetzt auch Kay, Alex J., Germany’s Staatssekretäre, Mass Starvation and the Meeting of 2 May 1941, in: Journal of Contemporary History, Vol. 41 (2006), No. 4, S. 685-799.
4 Keller, Rolf; Otto, Reinhard, Das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen und die Wehrmachtbürokratie. Unterlagen zur Registrierung der sowjetischen Kriegsgefangenen 1941 – 1945 in deutschen und russischen Institutionen, in: MGM 57 (1998), S. 149-180.
5 Schwendemann, Heinrich, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion von 1939 bis 1941. Alternative zu Hitlers Ostprogramm? Berlin 1993; Dworok, Eckehard, Konventionelle Kriegführung und kriegswirtschaftliche Zwänge. Eine Analyse ökonomischer Aspekte der deutschen Kriegführung im Zweiten Weltkrieg, insbesondere gegen die Sowjetunion, Diss. masch., Kassel 1985.
6 Hartmann, Christian; Jureit, Ulrike (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005.