R. Miettinen: Suicide, Law, and Community in Early Modern Sweden

Cover
Titel
Suicide, Law, and Community in Early Modern Sweden.


Autor(en)
Miettinen, Riikka
Reihe
World Histories of Crime, Culture and Violence
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 346 S.
Preis
€ 83,19
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Brunner, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz

Wie für den deutschsprachigen Raum beispielsweise die einschlägigen Studien von Alexander Kästner gezeigt haben, war im vormodernen Europa der Suizid eine der großen sozialen und kulturellen Herausforderungen für die Gemeinschaften, in denen er geschah.1 Seine Erforschung hat gerade in Bezug auf die Frühe Neuzeit zu einigen innovativen Arbeiten geführt, etwa in rechts-, religions- oder auch körpergeschichtlicher Hinsicht. Die finnische Historikerin Riikka Miettinen stellt in ihrer Monografie den rechtlichen Umgang mit Selbsttötungen im frühneuzeitlichen Schweden in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Ihr Ansatz wendet sich gegen die These eines starken, sozialdisziplinierenden frühneuzeitlichen Staates, der zunehmend erfolgreich seine Werte auf die Bevölkerung habe übertragen können. Bei Schweden handelt es sich auch deshalb um ein besonders interessantes Fallbeispiel, weil es sich einerseits um ein sehr dünn besiedeltes Königreich handelte, und andererseits um ein Gebiet von sowohl sprachlicher als auch religiöser Vielfalt, wo nicht unerhebliche Unterschiede in Lebensweisen und Wertevorstellungen der verschiedenen Gemeinschaften und Gruppen vorherrschten. Miettinen nutzt die Akten von niederen Gerichten als Sonde, um zu einem tieferen Verständnis darüber zu gelangen, in welchem Verhältnis die jeweiligen Gemeinschaften zur Rechtspraxis im Umgang mit Selbsttötungen standen.

Nach einer Einleitung, die vor allem den Forschungsstand in Bezug auf Schweden wiedergibt, rekonstruiert das zweite Kapitel die Einstellungen zu und Reaktionen auf Selbsttötungen. Miettinens Beobachtungen decken sich dabei weitestgehend mit dem, was sich auch über andere europäische Länder sagen lässt. Auch in Schweden wurden die sterblichen Überreste posthum bestraft, vor allem kam es zu erheblichen Restriktionen hinsichtlich der Beerdigungsmöglichkeiten von Selbstmördern. Während es im frühen 18. Jahrhundert zu noch schärferen Gesetzgebungsinitiativen von Seiten des schwedischen „Staates“ kam, legten die höheren Gerichte oftmals nachsichtigere Entscheidungen an den Tag, insbesondere wenn es gelang, überzeugend darzulegen, dass der Suizidale im „Wahnsinn“ gehandelt habe. Dann konnte das von den Hinterbliebenen erklärte Ziel einer kirchlichen Bestattung oftmals erreicht werden. Die geistlichen Autoritäten waren auch in Schweden häufig vor allem an der seelsorgerlichen Betreuung interessiert, sofern nicht der Eindruck entstehen konnte, dass man die Selbsttötung befürwortete.

In den Kapiteln 3 bis 5 legt Miettinen aus unterschiedlichen Perspektiven dar, wie persistent und wichtig die lokalen Gegebenheiten im Umgang mit dem Suizid gewesen sind, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeiten, unabhängig von den zunehmenden obrigkeitlichen Versuchen, Einfluss zu nehmen und eine stärkere Befolgung der eigenen Gesetze zu erreichen. In Kapitel 3 geht es um die gerichtlichen Verfahren als solche. Zu Prozessen kam es nur, wenn jemand von einer Selbsttötung berichtete. Miettinen kann zeigen, dass es vor Ort vielfältige Herausforderungen, wie sie es nennt, gab, die sich der gerichtlichen Annahme eines Falls entgegenstellten; angefangen damit, dass im schwedischen Verfahren keine Verpflichtung bestand, etwas zu bezeugen, und folglich auch keine Strafen, die das Unterlassen sanktionierten. Nicht weniger problematisch war die Konkurrenz zwischen kirchlichem und staatlichem Recht, die ihrerseits zu einer Stärkung der lokalen Autoritäten führte.

Diese leiteten nämlich auch die Gerichtsverhandlungen selbst, die im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen. Dieses Kapitel eröffnet tiefe Einsichten in die Abläufe, die die Ermittlungen kennzeichneten. Ein besonderes Augenmerk bestand darin, die Intentionalität des Suizidalen genauer zu beleuchten, wofür recht umfängliche Untersuchungen im familiären und erweiterten sozialen Umfeld eingeholt wurden. Geleitet wurden die Untersuchungen von Amtsträgern aus der Region, gleiches galt für die Richter und für die Laien, die zuarbeiteten. Beide fühlten sich eher mit den Gemeinschaften vor Ort verbunden, als dass ihre Loyalität der Krone gegolten hätte. Das brachte aber oft auch mit sich, dass man nicht auf die Expertise von besser ausgebildeten Ärzten aus den größeren Städten zurückgriff, sondern die Angelegenheiten ausschließlich vor Ort klären wollte.

Im fünften Kapitel untersucht die Autorin die „Selectivity by the Court“. Hier geht es um die Frage, welche Bedeutung der Stand, das öffentliche Ansehen und auch die Frömmigkeit des Suizidalen hinsichtlich der Entscheidungen, die die Gerichte trafen, gespielt hat. Bestimmte Vorurteile, die in der Gesellschaft vorhanden waren, hatten nachweisbare Auswirkungen auf das Auskommen der Verhandlungen, und zwar auf beide Geschlechter gleichermaßen bezogen. „In general, behaviour contrary to God’s commandments and general morals and norms was clearly frowned upon, and thus ‚lowered‘ one’s social status“ (S. 273). Männer, die ihre Familien nicht mehr versorgen konnten, erzeugten Mitleid und Verständnis; Minderjährigen wurde ganz die Fähigkeit abgesprochen, für eine Selbsttötung verantwortlich zu sein. Die schlimmsten und grausamsten Strafen – die Art und Weise, wie mit den körperlichen Überresten eines Suizidalen umgegangen wurde – trafen die Armen, die „Außenseiter“ und diejenigen, die als ungläubig galten. Im Verdacht standen auch Kinder, die ihre Eltern nicht angemessen ehrfürchtig behandelten. Miettinens Beobachtungen lassen sich, soweit ich sehen kann, auch auf andere Ländern Europas übertragen. Hier hätte der Arbeit eine stärkere Kontextualisierung mit der bestehenden Forschung außerhalb Schwedens gutgetan.

Miettinens Studie stellt dennoch einen wichtigen Baustein für die Erforschung von Suiziden im frühneuzeitlichen Europa dar. Das Buch lebt von vielen mikrohistorischen Beobachtungen „von unten“, die ihre Hauptthese von der Persistenz lokaler Umgangsformen mit Selbstmördern, die sich nur langsam „von oben“ beeinflussen ließ, sinnvoll untermauern. Zu kritisieren ist allerdings vor allem der Verlag Palgrave: Jedes Kapitel hat eine eigene Bibliografie, die oftmals aber immer wieder dieselben Titel anführt – dies zieht nicht nur den Umfang des Buches in die Länge, es bietet darüber hinaus weder einen wissenschaftlichen Mehrwert noch einen praktischen Nutzen. Den Wert des Buches, das eine interessante, neue Perspektive auf die Geschichte des Phänomens der Selbsttötung und seine rechtliche Be- und gemeinschaftliche Verarbeitung liefert, schmälert dies jedoch keineswegs.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Alexander Kästner, Tödliche Geschichte(n). Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547–1815), Konstanz 2012.