N. Lafi (Hrsg.): Municipalités méditerranéennes

Cover
Titel
Municipalités méditerranéennes. Les réformes urbaines ottomanes au miroir d'une histoire comparée (Moyen-Orient, Maghreb, Europe méridionale)


Herausgeber
Lafi, Nora
Reihe
STUDIEN, herausgegeben vom Zentrum Moderner Orient, Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V., 21
Erschienen
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Astrid Meier, Historisches Seminar, Universität Zürich

Um es gleich vorwegzunehmen: Dies ist ein sehr anregendes Buch zu einem äußerst spannenden Thema, aber es ist leider auch ein Buch verpasster Chancen. Im Zentrum des Interesses steht der beschleunigte Wandel der Städte im östlichen und südlichen Mittelmeerraum im 19. Jahrhundert. Gerade für urbane Räume unter osmanischer Herrschaft wird diese Periode oft als Transformation von einer traditionellen „islamisch“ oder „orientalisch“ geprägten Stadt zur modernen Stadt europäischen Zuschnitts angesehen. Auf den ersten Blick scheint sich diese Entwicklung bis heute in der augenfälligen Trennung zwischen islamisch geprägter Altstadt mit ihren engen Sackgassen und den modernen Vierteln der kolonialen Städte mit ihren großzügigen Boulevards zu manifestieren. Doch der historische Wandel betraf nicht nur die Gestaltung des gesamten städtischen Raums und seine Nutzung in einer Zeit beträchtlichen demographischen und urbanen Wachstums, sondern nicht zuletzt auch die Arten, wie städtischer Raum verwaltet wurde und wer darin einbezogen war.

Der Band ist das Resultat einer kollektiven Unternehmung von etwa zwanzig Forscherinnen und Forschern, die sich mehrmals zum Austausch trafen. Ausgangspunkt war das Interesse an der Rolle munizipaler Räte in den osmanischen Städten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies war laut Herausgeberin Nora Lafi ein kritischer Moment in der Geschichte der städtischen Gesellschaften: „Mais autour de la question du passage d’institutions urbaines anciennes, ou d’Ancien régime [...], à des institutions de type municipal, on retrouve partout un des points essentiels de l’histoire des sociétés urbaines.“ (S. 14) Demgemäß lag die Stadtverwaltung unter dem Ancien régime in den Händen eines Rates von Notablen, der den städtischen Raum (u. a. Märkte) und die gesellschaftliche Ordnung entlang berufsständischer und konfessioneller Linien kontrollierte. Unter dem neuen, „munizipalen“ Regime basierte die Mitgliedschaft im Rat auf einem Zensuswahlrecht, das auf der Steuerkraft von Individuen aufbaute, insbesondere was Immobilbesitz betraf. Berufsständische Organisation und konfessionelle Gemeinschaft spielten nunmehr eine untergeordnete Rolle. Der Band versucht, diesen Übergang von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung nahöstlicher Städte in verschiedene Richtungen hin zu kontextualisieren. Gegen simple Erklärungen wie die bloße Imitierung eines europäischen Modells verspricht das Vorwort, sowohl nach den Vorläufern der neuen, „reformierten“ und „modernen“ Formen von Stadtverwaltung und -planung zu suchen als auch parallele Entwicklungen in Europa in den Blick zu nehmen. Weiter interessieren die langfristigen Auswirkungen dieser Reformen.

Diese hochgesteckten Ziele spiegeln sich im etwas ungleichgewichtigen Aufbau des Bandes wider. In einer ausführlichen Einleitung rekapituliert die Herausgeberin die Geschichte dieses Forschungsprojektes und versucht, Einwänden methodischer Art bereits hier zu begegnen, indem sie stark die allmähliche Entwicklung einer gemeinsamen Fragestellung herausstreicht. Es schließt sich ein erster Teil mit zwei Beiträgen an, der dem Vergleichspunkt „Italien“ gewidmet ist. Anhand der munizipalen Reformen von 1780 in Livorno zeigt Samuel Fettah, wie unter dem System eines aufgeklärten Absolutismus mit der Ausweitung der Wählerschaft und der Integration der jüdischen Gemeinschaft in den neuen Rat tendenziell eine neue städtische Elite geschaffen wurde, obwohl alte, „adelige“ Privilegien durchaus weiter galten. Denis Bocquet zeichnet in einem überblicksartigen Artikel die Geschichte der Stadtverwaltung von Rom vom 16. bis zur Inkorporation ins Königreich Italien im Jahr 1870 nach.

Der zweite Teil zu den osmanischen Reformen ist zweifellos das Kernstück des Bandes und thematisiert die oben beschriebene Transformation an den Fällen Jerusalem, Beirut, Damaskus und Tunis. Dabei sticht besonders der weit ausholende Artikel von Yasemin Avci und Vincent Lemire mit einer Re-Evaluation der osmanischen Munizipalität in Jerusalem zwischen 1867 und 1917 hervor. Er thematisiert das bewusste Vergessen dieser Institution der städtischen Selbstverwaltung unter kolonialen und post-kolonialen Vorzeichen. Es war darum ein Glücksfall, dass mit siebzehn Bänden von osmanisch-türkischen Protokollen (1870-1914) die Arbeit dieses Rates besonders gut dokumentiert ist. Insbesondere die innovative Diskussion von Instanzen der Stadtverwaltung unter dem „Ancien régime“ bietet willkommene Anknüpfungspunkte für diejenigen Forschungsrichtungen, die mit der Zeit vor den Tanzimat (1839-1876) befasst sind. Sie fangen gerade an, sich eingehender damit zu beschäftigen, wie städtischer Raum verwaltet wurde und welche Instrumente zur Verfügung standen. 1 Dies wird sicher dazu führen, dass der Beginn der Moderne und das Ende des Ancien régime nicht mehr so klar datiert werden können, wie es an verschiedenen Orten dieses Bandes geschieht. Formen von „moderner“ Stadtverwaltung existierten bereits vor dem 19. Jahrhundert. So muss die Bautätigkeit in den osmanischen Städten schon vor der Einführung der munizipalen Räte einer Art Planung unterworfen gewesen sein.

Jens Hanssen konzentriert sich in seinem Beitrag auf die personelle Zusammensetzung des Stadtrates von Beirut. Dabei betont er die Bezüge der im Rat versammelten Personen zum kulturellen und intellektuellen Umfeld ihrer Zeit (1860-1908). Stefan Weber verweist in seinem Artikel stärker auf die Aktivitäten des Rates und wie sich unter seiner Planung Infrastruktur und Plan von Damaskus von 1864 bis 1918 veränderten. Der vierte Beitrag stammt von der Herausgeberin Nora Lafi und zeigt am Beispiel von Tunis in einer sehr interessanten und überzeugenden Langzeitperspektive Brüche und Kontinuitäten in der Art auf, wie und von wem die Stadt verwaltet wurde. Auch sie verweist mit den Quartiervorstehern (shaykh al-balad) auf einen alten Funktionsträger der osmanischen Stadtverwaltung, von dem wir noch viel zu wenig wissen.

Der dritte Teil umfasst zwei Beiträge, die die Modalitäten der Stadtverwaltung unter kolonialen Vorzeichen betrachten. Carla Edde verweist am Beispiel von Beirut auf die ambivalente Umsetzung der modernisierenden Diskurse der „mission civilisatrice“ in der Instrumentalisierung des Stadtrates, „puisque la perte de pouvoir réel de la municipalité se fait au moment où celle-ci est dotée de moyens corrects de fonctionnement“ (S. 285). Der zweite Beitrag von Denis Boquet in diesem Band zeichnet nach, wie in den Jahren um 1912 die Stadtverwaltung von Rhodos aus der Perspektive der italienischen Besatzer aussah. Im vierten Teil schließlich thematisiert Emna Bchir El Aouani am Beispiel eines Erschließungsprojektes in der Stadt Tunis die Probleme gegenwärtiger Stadtplanung.

Warum also verpasste Chancen? Zum ersten frappiert der Umstand, dass in einem kollektiven Forschungsunternehmen, in dem man sich laut Vorwort in mehrmaligen Treffen über methodische Fragen des Vergleichs und gemeinsame Fragestellungen austauschte, die Beiträge fast gänzlich auf sich selber bezogen bleiben. Die Ergebnisse der Untersuchung zu den einzelnen Fällen bleiben so isoliert und werden nicht in einer Synthese gegeneinander abgewogen und diskutiert.

Zweitens ist die Funktion des Vergleichs mit zwei, vielleicht mit Rhodos unter italienischer Herrschaft sogar drei Sonderfällen aus der europäischen Geschichte nicht unmittelbar einsehbar. Zu unterschiedlich ist die Qualität dieser Beiträge, die von einer Detailstudie (Livorno) über einen Forschungsüberblick (Rom) zu einer ersten Quellenskizze (Rhodos) reichen. Fast ganz aus dem Rahmen fällt der Überblicksbeitrag zu Tunis am Ende des 20. Jahrhunderts, weil seine erste Hälfte zum größten Teil wiederholt, was anderenorts schon detaillierter und genauer dargestellt wurde, und sein zweiter Teil in einen sehr unterschiedlichen Kontext gehört. Auch wenn, wie die Herausgeberin im Vorwort betont, die kollektive Arbeit vor allem in der Ausarbeitung eines gemeinsamen Fragekatalogs bestand, hätte man sich von einem komparativen Ansatz mehr und vor allem anregendere Resultate erhofft. Das verhält sich ebenso für Fragestellungen im Rahmen einer histoire croisée, die im Vorwort angesprochen, aber dann nirgends eingelöst werden.

Schließlich ist mir unverständlich, warum in einem Band, der zu interdisziplinärem Arbeiten aufrufen will, die Transkription von häufig eingestreuten arabischen und osmanisch-türkischen Begriffen so uneinheitlich ist, dass selbst SpezialistInnen über sie stolpern. Diese unnötige Hürde lässt sich nicht mit dem Hinweis entkräften, dass man eine möglichst einfache Transkription den einzelnen Autorinnen und Autoren überlassen hat (S. 9), denn zum einen werden selbst dort, wo genau transkribiert wird, uneinheitliche Systeme angewandt (so z. B. gehäuft S. 143, 148). Schwerer wiegt aber generell die überaus unsorgfältige redaktionelle Bearbeitung der Beiträge, die den Lesefluss an einigen Stellen empfindlich stört: So dürfte es nicht einfach sein, von der „jâmac ez-zitûna“ (S. 340) auf den berühmten Zaytuna-Hochschulkomplex in Tunis zu schließen.

Trotz dieser Kritik ist der Band all jenen wärmstens zu empfehlen, die etwas zur Geschichte von städtischen Gesellschaften unter osmanischer Herrschaft seit dem 18. Jahrhundert wissen möchten. Die Anregungen dieses Bandes werden sicher die Forschungslandschaft zur Stadtgeschichte in den nächsten Jahren mit gestalten. Auf eine Synthese der Resultate warte nicht nur ich gespannt.

Anmerkung:
1 So zum Beispiel in den Arbeiten von Stefan Knost zu Stadtviertelstiftungen u.a. in Aleppo, s. Knost, Stefan, Die Stadtviertelstiftungen in Aleppo von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Meier, Astrid; Pahlitzsch, Johannes; Reinfandt, Johannes (Hrsg.), Für immer und ewig? Islamische Stiftungen im historischen Wandel, Berlin, in Vorbereitung.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/