V. Streichhahn u.a. (Hrsg.): Krieg und Geschlecht

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Titel
Krieg und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Interdisziplinäre Perspektiven zu Geschlechterfragen in der Kriegsforschung


Herausgeber
Streichhahn, Vincent; Altieri, Riccardo
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mette Bartels, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Vincent Streichhahn und Riccardo Altieri haben mit ihrem Sammelband eine Studie herausgegeben, die sich aus interdisziplinärer Perspektive mit Geschlechterfragen in der Kriegsforschung befasst. Auch wenn „Krieg und Geschlecht“ bereits seit den 1990er-Jahren besonders im angelsächsischen Raum1 Thema einer Reihe von Forschungsarbeiten ist, besitzt eine umfassende geschlechtersensible Militär- und Kriegsgeschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft eher ein Nischendasein. Ziel des Sammelbandes ist es, die Perspektiven der mehrheitlich androzentrischen deutschsprachigen Forschung auszuweiten. Die insgesamt 18 internationalen Wissenschaftler:innen bieten in ihren Aufsätzen eine geographisch und zeitlich geweitete Perspektive; sie eröffnen ikonographische, raumhistorische, diskurstheoretische, rechts-ethnologische, biografische und theoretisch-methodologische Ansätze. Die insgesamt 16 Beiträge sind in fünf Themenkapitel gruppiert.

Das erste Kapitel, „Kriegsmobilisierung und -propaganda“, befasst sich in drei Aufsätzen mit den beiden Weltkriegen. Den Auftakt macht Julia Richter, die am Beispiel von Ego-Dokumenten und sogenannten Heldenmutterpropaganda-Schriften im Kontext des Ersten Weltkrieges untersucht, ob und wenn ja wie die Sinnstiftungsmaßnahmen der Kriegspropaganda zu einer dauerhaften Neuausrichtung der gesellschaftlichen Frauenrolle führte. Richter kann belegen, dass eine Neukonzeption des Weiblichkeitsentwurfs jedoch nicht intendiert war. Im folgenden Beitrag analysiert Anna Schiff anhand der Zeitschrift „Die Dame“ (1933–1943), wie Sexualität als Medium der Propaganda für jugendliche Frauen genutzt wurde. Schiff legt dar, dass solche Propaganda durchaus zu einer stückweisen Enttabuisierung vorehelicher Sexualität beitrug, indem junge Mädchen mobilisiert wurden, Frontsoldaten Liebesbriefe zu schreiben und sie damit „ihre Sexualität in den Dienst des Krieges“ stellten (S. 60). Anhand finnischer und deutscher Propagandafotografien von gefangenen sowjetischen Soldatinnen und Zivilistinnen untersucht Olli Kleemola, inwieweit Feindbilder durch Fotografien geschaffen beziehungsweise verstärkt wurden. Kleemola arbeitet verschiedene Bilder visualisierter Weiblichkeit heraus, die von den Nationalsozialisten benutzt wurden, um den Werteverfall des Sowjet-Systems zu demonstrieren und den Glauben an den „Endsieg“ aufrechtzuerhalten. Auf finnischer Seite wurde hingegen „Humor als Propagandatechnik“ (S. 80) eingesetzt, um dem Feind die Bedrohlichkeit zu nehmen.

Der zweite Kapitelabschnitt versammelt Beiträge, die sich mit der Heimat- und Kriegsfront auseinandersetzen. Jana Günther untersucht das Agieren militanter und gemäßigter Suffragist:innen und Suffragetten in Großbritannien während des Ersten Weltkrieges. Indem die britische Frauenbewegung in allen Facetten Kriegsdienst an der „Heimatfront“ leistete, war es der britischen Regierung erschwert, ihre anti-suffragistischen Argumente zu forcieren. Diese Krisensituation nutzten die frauenbewegten Akteurinnen gezielt, um politische Forderungen voranzutreiben. Aus einer raumhistorischen Perspektive untersucht Katharina Seibert die weibliche Kriegskrankenpflege zur Zeit des Spanischen Bürgerkrieges und zeigt auf, wie durch die Frontnähe der Sanitäterinnen die diskursiv hergestellte Vermännlichung der Front infrage gestellt wurde. Am Beispiel der Gewaltgeschichte Barcelonas in der Zeit von 1900 bis zum Militärputsch Francos widmet sich Florian Grafl der Opfer-Täterinnen-Frage und zeigt die Relevanz weiblicher Teilnahme in den Gewaltkonflikten auf, wobei weniger das kurzzeitige Agieren der direkten Frontkämpferinnen bedeutsam war, sondern die Übernahme vielfältiger Unterstützungsfunktionen – wie der Beschaffung und Bereitstellung von Munition und Waffen –, die Frauen zu aktiven Täterinnen werden ließ. Im folgenden Beitrag analysiert Agnes Laba den Einfluss nationalsozialistischer Männlichkeitskonzepte in den besetzten Gebieten während des Zweiten Weltkriegs. Laba zeigt eindrucksvoll, wie die Hypermaskulinität der Wehrmachtssoldaten, die sich in „Virilität, Militarismus und Brutalität“ (S. 151, Fn. 14) ausdrückte, zu einer Neustrukturierung des Alltags in den besetzten Gebieten führte und inwiefern dadurch auch geschlechterspezifische Praktiken und Geschlechterrollen verhandelt wurden.

Der dritte Thementeil befasst sich mit Fragen von Gewalterfahrungen und ihrer Aufarbeitung. So untersucht Olga Radchenko Handlungsweisen von nicht-jüdischen Frauen, die im Reichskommissariat Ukraine Menschen vor dem Holocaust zu retten versuchten. Radchenko macht hierbei in ihrer mikrohistorisch angelegten Studie erstmalig ein breites (aus dem Russischen übersetztes) Quellenmaterial dem deutschen Publikum zugänglich und rekonstruiert in eindrucksvoller Weise verschiedene Rettungsstrategien unterschiedlicher weiblicher Akteursgruppen. Radchenko kommt zu dem Ergebnis, dass „die biologische Rolle der Frau als Mutter“ (S. 183) ein wichtiges Anlasskriterium darstellte, um besonders Kinder und Jugendliche zu verstecken, zu „assimilieren“ und Geburtsurkunden zu fälschen. Die beiden folgenden Beiträge führen nach Zentralamerika und Afrika. Am Beispiel Guatemalas zeigt Anja Titze die erschreckenden Ausmaße sexualisierter Gewalt gegenüber der indigenen Bevölkerung zur Zeit der bewaffneten Konflikte zwischen 1960 und 1996. Vergewaltigungen, sexuelle Folter, Sklaverei und Tötungen gehörten zu einer ausgewiesenen Vernichtungstaktik der staatlichen Akteure, die bis heute für ihre Taten nur unzulänglich strafrechtlich verfolgt und geahndet werden. Die Schwierigkeiten einer Täter:innenbestrafung konstatieren Anja Zürn und Catherine Crasser auch im Kontext des Ersten (1996–1997) und Zweiten Kongokrieges (1998–2003), in denen sich sexualisierte Gewalt perpetuierte und in ihren Formen zunehmend brutalisierte. Die beiden Wissenschaftlerinnen heben hervor, dass eine juristische Aufarbeitung der Gräueltaten nur durch generelle gesellschaftliche Strukturänderungen erzielt werden kann.

Das vierte Themenkapitel steht unter der Überschrift „Kunst und Wissenschaft“. Hier widmet sich Ute Sonnenleiter einem nahezu unerforschten Terrain, indem sie deutschsprachige Theaterschauspieler:innen zur Zeit des Ersten Weltkriegs ins Zentrum ihrer Analyse rückt. Sonnenleiter zeigt, wie die Umstände des Kriegs einerseits die traditionellen Geschlechternormen -und rollen ausweitete und sie anderseits festschrieb. So agierten zum Beispiel Theaterkünstlerinnen durch ihren Auftritt im „Fronttheater“ im öffentlich-männlichen Raum, verkörperten hier aber gleichzeitig die Heldenmutterrolle. Im folgenden Beitrag untersucht Messan Tossa mittels einer literaturwissenschaftlichen Zugangsweise weibliche Opfer- und Täterfiguren der afrikanischen Bürgerkriege. Tossa elaboriert die These, dass die aktive Teilnahme von Frauen am Kriegsgeschehen zu einer Erweiterung ihrer Handlungsräume führte und die Annahme von Frauen als ausschließliche Opfer untergräbt. In der belletristischen Aufarbeitung – wie Tossa am Beispiel zweier fiktiver Romane verdeutlicht – wird dieses emanzipatorische Moment indes komplett ausgeblendet. Mit weiblichen Handlungsräumen befasst sich auch Anna Horstmann im folgenden Beitrag. Auf Grundlage der double-helix-Theorie (Gleichzeitigkeit von Fort- und Rückschritten) vergleicht Horstmann die Beteiligung von Frauen in der deutschen Chemieindustrie im Ersten und Zweiten Weltkrieg und lotet aus, inwieweit die Umstände der beiden Weltkriege die Handlungsmöglichkeiten und Karrierechancen von Chemikerinnen beeinflussten. Einer anderen Berufsgruppe – den Medizinerinnen – widmet sich Julia Nebe. Durch eine biographie-wissenschaftliche Herangehensweise am Beispiel der Ärztin Gertrud Soeken analysiert Nebe, wie sich Frauen in die NS-Ideologie einschrieben, um ihre Berufskarriere bewusst voranzutreiben. Nebe legt dar, dass es nach dem Krieg trotz der nationalsozialistischen Verstrickungen nicht zu einem unmittelbaren Einbruch der Karriere Gertrud Soekens kam – ähnlich wie bei einer Vielzahl anderer Akteur:innen auch.

Der letzte Themenkomplex versammelt Beitrage, die sich mit der Erinnerungskultur in Nachkriegszeiten befassen. Hier zeigt Sebastian Engelmann am Beispiel des pädagogischen Heftes „Kindernöte“ (1950–1957) auf, wie Erziehung und Geschlecht im von Ambivalenz und Restauration geprägten Nachkriegsdeutschland in Erziehungsratgebern miteinander verknüpft wurden und inwieweit diese mit den Kriegserfahrungen der Mütter und Väter verbunden waren. Anhand der der fast 100-jährigen Lebensgeschichte der Sozialistin und Antimilitaristin Rosi Wolfenstein erforscht Riccardo Altieri im abschließenden Beitrag, wie sich die beiden Weltkriege, zahlreiche kriegsähnliche Konflikte sowie der Kalte Krieg als „psychische, soziale und historische Einflussfaktoren“ (S. 321) auf Lebensbiographien verstehen lassen.

Die Herausgeber Vincent Streichhahn und Riccardo Altieri sowie die internationalen Autor:innen haben mit diesem Sammelband einen wichtigen Beitrag zur geschlechtergeschichtlichen Erweiterung der Kriegs- und Militärgeschichte geleistet. Ein großes Verdienst des Buches ist seine interdisziplinäre Ausrichtung, die vielfältige theoretische Fragestellungen und methodisch-methodologische Herangehensweisen offenbart. Die inhaltliche Konzeption trägt dieser Vielfältigkeit in stimmiger Weise Rechnung, indem die Beiträge sowohl ein breites thematisches als auch geographisches Spektrum umreißen. Neben europäischen, afrikanischen und zentralamerikanischen Fallbeispielen wären allerdings auch Beiträge über asiatische Länder wünschenswert gewesen. So war der Vietnamkrieg bekanntlich in mannigfaltigen Bezügen geschlechtergeprägt (systematische sexuelle Gewalt an der einheimischen Bevölkerung, Frauen als Helferinnen der Vietkong-Kämpfer etc.). Und auch die weitere Erforschung der staatlich intendierten Zwangsprostitution in Japan während des Zweiten Weltkriegs erscheint in Anbetracht der aktuell brisanten Lage überaus lohnend.2

Den Gesamtverdienst des Buches schmälern diese Hinweise allerdings keinesfalls und es bleibt zu hoffen, dass die zukünftige Kriegs- und Militärforschung durch diesen Sammelband für die Einbeziehung von Geschlechterfragen nachhaltig sensibilisiert werden mag.

Anmerkungen:
1 Karen Hagemann / Stefan Dudink / Sonya O. Rose (Hrsg.), The Oxford Handbook of Gender, War, and the Western World since 1600, New York 2020.
2 Kathrin Erdmann, Gerichtsurteil in Südkorea. Keine weiteren Entschädigungen für „Trostfrauen“, in: ARD tagesschau online, 21.04.2021, <https://www.tagesschau.de/ausland/asien/suedkorea-japan-trostfrauen-101.html> (26.12.2021).

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