Ein weiterer Tagungsband zur Mediengeschichte liegt vor. „Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert“ – der Titel verspricht umfassende historische, kommunikations- und politikwissenschaftliche Erkenntnisse. Die Spanne der Themen ist breit: Eine theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Andreas Gestrich) findet sich ebenso wie ein rechtshistorischer Überblick zum Presse- und Urheberrecht im 19. Jahrhundert (Elmar Wadle). Vom Journalismus des „Jungen Deutschland“ (Christian Müller) über pressegeschichtliche Beiträge zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik (Hans-Peter Becht, Jörg Requate, Barbara Duttenhöfer, Gerd Meier) bis hin zu einer kritischen Beurteilung des Medienmarktes nach 1968 (Karl Geibel) reicht das Spektrum der Themen.
Die Einleitung des Herausgebers Clemens Zimmermann führt auf knappem Raum in die Thematik ein. Aufgabe der Mediengeschichte müsse es sein, statt eines umfassenden Begriffs von Öffentlichkeit stärker die historisch wandelbaren Teilöffentlichkeiten in den Blick zu nehmen. Zudem sei die Sozialisation der Journalisten, ihre Selbstwahrnehmung und -inszenierung in ihren Folgen für die politische Kultur analytisch zu durchdringen. Trotz aller Einsichten in Funktionsweise, Marktmechanismen und Selbststilisierung der Branche bleibt der Journalismus bei Zimmermann primär ein Öffentlichkeit herstellender Machtfaktor, der sich seit dem 19. Jahrhundert zu einer vierten Gewalt im Staate entwickelt habe. Auch der gegenwärtige politische Journalismus geht für Zimmermann keinesfalls im „Politainment“ auf, sondern ist letztlich eine dem Gemeinwohl verpflichtete und auch tatsächlich nutzende Angelegenheit, die mit Erfolg ihr eigenes „news management“ betreibe.
Andreas Gestrich ist einer der wenigen Autoren, die dieses fortschrittsoptimistische Masternarrativ in Frage stellen. Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ unterzieht er vor dem Hintergrund der kommunikationshistorischen Forschung der letzten Jahrzehnte einer ebenso kritischen wie aufschlussreichen Neulektüre, die letztlich auf ein „Showdown“ der alten Antipoden Habermas und Luhmann hinausläuft – mit Punktvorteilen für Luhmann. Gestrich kommt zu dem Ergebnis, dass sich Habermas’ modifiziertes Model der Öffentlichkeit „nicht mehr wirklich stark von systemtheoretisch inspirierten Ansätzen unterscheidet“ (S. 38). Er hält jedoch am praktischen Nutzen von Habermas’ vernunftgeleitetem Öffentlichkeitsverständnis fest, da es auch als „methodische Fiktion“ der Zivilgesellschaft großen Nutzen habe.
Leider nehmen die nachfolgenden, stärker empirischen Beiträge Gestrichs Anregungen nur selten auf. Stattdessen dominieren Versuche, das innovative Potential eines politischen Journalismus auch in bislang wenig erforschten Bereichen und Epochen aufzuzeigen. Barbara Duttenhöfer etwa verweist auf die journalistischen Innovationen um 1900, die von der Frauenpresse, den Anfängen eines „investigativen Journalismus“ sowie der rapide an Bedeutung gewinnenden Bildberichterstattung ausgegangen seien. Allerdings erstaunen mitunter die Schlussfolgerungen, die sie aus ihren Befunden zieht. So zeigt Duttenhöfer zunächst anschaulich, dass der Journalismus über Mode und andere „typische Frauenthemen“ einigen wenigen Frauen Zugang zur Männerdomäne des professionellen Journalismus verschaffte. Aufstiegschancen, zum Beispiel in das Politikressort zu gelangen, boten sich ihnen aber nicht. Offen bleibt, welche Relevanz solchen „weiblich besetzten Teilöffentlichkeiten“ tatsächlich zukam. Auch dass es den Generalanzeigern im Kaiserreich gelang, mit einem „qualitätsvollen Lokaljournalismus“ ihre „öffentlichkeitskritische Funktion“ (bei Duttenhöfer normativ-habermasianisch gedacht) ebenso zu erfüllen wie der „investigative Journalismus amerikanischer Provenienz“ (S. 168), ist eine gewagte Behauptung, die jedenfalls nicht empirisch belegt wird.
Überzeugen kann Frank Böschs Ansatz, mit W. T. Stead und Maximilian Harden zwei einflussreiche Persönlichkeiten des englischen und deutschen Journalismus um die Jahrhundertwende vergleichend gegenüberzustellen und so die Veränderungen im Spannungsfeld zwischen Politik und Journalismus zu verdeutlichen. In beiden Ländern gelang es „Volkstribunen“, durch politische Kampagnen und die Inszenierung von Skandalen auch ohne hohe Auflagen dieses Spannungsverhältnis nachhaltig zu verändern. Zwar scheiterten beide Exzentriker gemessen an ihren eigenen, „missionarischen“ Ansprüchen, doch halfen sie entscheidend mit, den sich professionalisierenden Journalismus gegen Politik und Kulturkritik zu emanzipieren.
Jörg Requate untersucht die Veränderungen auf dem deutschen Zeitungsmarkt zwischen 1880 und 1920, als nicht nur die Generalanzeiger, sondern auch erste Boulevardzeitungen sowie die großen Berliner Pressekonzerne entstanden. Der Trend zur „kommerzialisierten Massenpresse“ sei jedoch nicht, wie die meisten älteren Arbeiten behaupten, mit einer Abkehr vom Politischen gleichzusetzen. Vielmehr hätten es gerade auch regionale Zeitungen verstanden, fragmentierte Teilöffentlichkeiten zu erreichen. Gerd Meier argumentiert in seinem Beitrag über die Regionalpresse in der Weimarer Republik, dass auch diese Zeitungen in den 1920er Jahren einen Politisierungsschub erlebten. Trotzdem spricht er den mittelgroßen Zeitungen nur eine beschränkte Innovationskompetenz zu: Die Zeitungen hätten die politische Rahmenbedingungen nicht mitgestaltet, sondern nur nachvollzogen. Dies gelte besonders für die „Parteipresse“, abgeschwächt aber auch für die bürgerlich-liberalen Zeitungen. Vor diesem Hintergrund erstaunt, dass Meier der Presse pauschal eine „Mitwirkung am Scheitern der ersten deutschen Demokratie“ zubilligt.
Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit dem Wahlkampf und seiner massenmedialen Begleitung. Hans-Peter Bechts Beitrag zeigt, dass die nicht parteigebundenen Zeitungen im Kaiserreich erst langsam zur Plattform für einzelne wahlkämpfende Richtungen wurden, da sie es sich aus Geschäftsinteresse und mit Rücksicht auf lokale Gegebenheiten oftmals nicht leisten konnten, einseitig Partei zu ergreifen. Zwar entstand langsam ein „politischer Massenmarkt“, doch blieb dies zunächst ein Phänomen der Großstadt. Dagegen ist der Wahlkampf in der Bundesrepublik in hohem Maße ein Medienereignis, wie Daniela Münkels Analyse der Wahlkampfstrategien der SPD, besonders unter Willy Brandt in den 1960er- und 1970er- sowie unter Gerhard Schröder in den späten 1990er-Jahren, verdeutlicht. Trotzdem sei der Begriff der „Amerikanisierung“ für diesen stärker personalisierten und unterhaltenden Politik(werbe)stil zumindest irreführend. Münkel spricht stattdessen von einem „selektiven Aneignungsprozess“, der nationale Besonderheiten der politischen Kultur respektiere.
Thomas Mergel plädiert in seinem instruktiven Beitrag zum politischen Journalismus in der Bundesrepublik dafür, die unterschiedlichen Journalistengenerationen stärker in den Blick zu nehmen, da es zwischen „Medienregimes, Phasen der politischen Kultur und Generationen“ einen mehr als nur zufälligen Zusammenhang gäbe (S. 194). Besonders die Generation der „1945er“, einer vom Krieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägten Journalistengeneration mit klarer westlicher Orientierung, habe mit ihrem Selbstverständnis als engagierte Aufklärer, woraus sich zugleich eine enge Verzahnung von Politik und Journalismus ergab, die politische Kultur der 1960er- und 1970er-Jahre nachhaltig geprägt. Hingegen sei seit den späten 1980er-Jahren eine zunehmende Distanzierung der Journalisten von der Politik zu beobachten. Das tagespolitische Geschäft werde von Journalisten nun als eine Nachrichtenquelle neben anderen, zum Teil besser verkäuflichen, gesehen. Diese Entwicklung setze vor allem Berufspolitiker unter Druck: Ein veränderter, „unterhaltsamer“ Politikstil sei die Folge. Zugleich hat für Mergel in den letzten Jahren der Glaube in die Leistungsfähigkeit von Politik generell abgenommen, auch unter Journalisten. Mit dem abnehmenden Optimismus in die Gestaltungskraft von Politik sei zugleich ein „Abschied von der politischen Verstärkerrolle“, die der Journalismus in der „alten“ Bundesrepublik ganz überwiegend als seine Aufgabe ansah, verbunden.
Karl Geibel schließlich zeichnet in seinem abschließenden Aufsatz über „Machtprozesse auf dem Medienmarkt“ ein düsteres Bild. Entgegen der etablierten verfassungs- und europarechtlichen Garantien der Pressefreiheit werde durch die anhaltenden Konzentrationsprozesse auf dem Medienmarkt die Meinungs- und Medienvielfalt als ein die Demokratie konstituierendes Element immer mehr eingeschränkt. Ein sich ausbreitendes politisches Desinteresse und „soziale Destabilisierung“ seien mögliche Folgen dieser Entwicklung. Neu sind solche kritischen Stimmen jedoch nicht, schon vor hundert Jahren warnte etwa Max Weber mit ähnlichen Argumenten vor einer „Vertrustung des Zeitungswesens“.
Der vorliegende Sammelband kann wegen seiner Themenbreite und der verschiedenen Perspektiven als einführender Überblick zur Geschichte des Journalismus in Deutschland dienen. Er ist nicht einer Deutungslinie verpflichtet, sondern enthält auch kontroverse Positionen und liefert Anregungen, um das schwierige Verhältnis zwischen Politik, Massenmedien und Öffentlichkeit historisch-empirisch genauer zu fassen. Diese Vorzüge stellen zugleich aber auch den größten Nachteil des Buches dar: Die einzelnen Beiträge stehen in der Regel unverbunden nebeneinander, ein gemeinsamer Theoriebezug ist nur selten erkennbar. Der Band spiegelt damit ein nach wie vor ungelöstes Problem der Mediengeschichte wider: In vielen Einzelfällen die alten Deutungskategorien und theoretischen Großentwürfe wie von Habermas transzendierend, werden diese mangels Alternativen nach wie vor als Stichwortgeber herangezogen, wenn es um die Verortung der empirischen Befunde in größere geschichtliche Zusammenhänge geht. Vielleicht liefert die Historisierung der Journalismusgeschichte, ein blinder Fleck des Sammelbandes, selbst einen Schlüssel zur Lösung dieses Problems.