Dieses Buch behandelt wichtige Fragen der frühmittelalterlichen pragmatischen Schriftlichkeit, d.h. der Sprachen, die in den Urkunden vorkommen, insbesondere in Gebieten, in denen neben Latein, der wichtigsten Schriftsprache überhaupt, auch germanische Umgangssprachen erstmals in der Schriftkultur begegnen. Wie Francesca Tinti in ihrer Einleitung (S. 1–21) erklärt, wurden im angelsächsischen England im Laufe des 7. Jahrhunderts Urkunden eingeführt; die ältesten erhaltenen königlichen Urkunden in lateinischer Sprache stammen aus diesem Jahrhundert. Bald darauf wurde Altenglisch für eine Vielzahl von Zwecken verwendet und die Dokumentarkultur wurde zweisprachig. Diese Entwicklungen in England werden mit Entwicklungen im ostfränkischen Reich verglichen. Im 10. und 11. Jahrhundert kam es zu einer Divergenz zwischen England und diesen Gebieten: Während sich der Gebrauch des Altenglischen neben dem Lateinischen verfestigte, wurde Deutsch erst viel später zur bevorzugten Dokumentationssprache. Hier sieht man „fluid contact zones“, in denen der Kontakt mit Romanisch Sprechenden zu „a certain degree of bilingualism” zwischen den romanisch- und germanischsprachigen Teilen des Frankenreiches führte (S. 8). Diese unterschiedlichen sprachlichen Entwicklungen spiegeln sich in der Herstellung, Verwendung und Aufbewahrung der Urkunden wider. Gelegentlich wurden auch andere Sprachen berücksichtigt: Insgesamt werden Texte in rund 24 Sprachen bzw. Sprachvarianten genannt.
Auf die Einleitung von Francesca Tinti folgt ein meisterhafter Überblick über die neueren Arbeiten zur frühmittelalterlichen Schriftlichkeit mit Blick auf "Charters, Languages, and Communication" von Rosamond McKitterick (S. 22–67) und ein ebenso hilfreicher Überblick über den Wissensstand zur frühmittelalterlichen Mehrsprachigkeit in den „peripheral regions” des ostfränkischen Königreichs von Wolfgang Haubrichs (S. 68–116). Den Hauptteil dieses reichhaltigen Buches bilden zehn Kapitel, die sich mit dem Vorkommen germanischer Volkssprachen entweder in angelsächsischen Urkunden oder in Urkunden aus den Territorien, die sich vom ostfränkischen Reich zum ottonischen Reich nördlich der Alpen entwickelten, befassen. Ein elftes Kapitel beschäftigt sich mit den Spuren der Zweisprachigkeit in den norditalienischen Privaturkunden des achten und neunten Jahrhunderts (Marco Stoffella, S. 296–341). Janet L. Nelson liefert schließlich einen Epilog zum Band (S. 522–538).
In der Einleitung erklärt Francesca Tinti, warum Urkunden eine ausgezeichnete Wahl sind, um die Interaktion zwischen Latein und den germanischen Volkssprachen und, allgemeiner, die mittelalterliche Mehrsprachigkeit zu studieren. Urkunden werden datiert und lokalisiert, was das Studium der geografischen Vielfalt und diachroner Entwicklungen ermöglicht. Sie sind mit bestimmten Ereignissen verknüpft, deren Teilnehmer zum Beispiel in Zeugenlisten erfasst werden konnten. Urkunden waren ihrer Natur nach auch performativ und bewegten sich im Bereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Und schließlich konnten verschiedene Register der lateinischen Sprache und der verschiedenen Volkssprachen ihren Weg in die Urkunden finden. Daher war die Wahl der Sprache in ihrer Produktion wichtig (S. 12–13).
Was die Linguistik betrifft, so hat die Bedeutung der Sprachwahl nicht nur für die Entscheidung über die Sprache einer Urkunde, sondern auch für die Sprache der Teile einer Urkunde dazu geführt, dass die Begriffe der Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit allmählich den der Diglossie ablösen (Tinti, S. 11, und McKitterick, S. 48). Sehr oft wechseln sich innerhalb einer einzigen Urkunde zwei Sprachen ab: Latein und eine germanische Umgangssprache. Dieses Code-switching führte zu einem Bewusstsein für den Sprachgebrauch (Edward Roberts und Francesca Tinti, S. 188–229). Die wichtigsten Vorkommen dieser sprachlichen Konzepte werden im Band im Index verzeichnet, wobei die Begriffe "diglossia" und "trilingualism" fehlen; letzteren Terminus verwendet Charles Insley (S. 342–377, hier S. 361) für die Situation, in der Latein mit Altenglisch und Kornisch koexistierte.
Urkunden sind schriftliche Dokumente, und das Buch verwendet und diskutiert daher auch die im Studium der Schriftkultur verwendete Terminologie. Schriftlichkeit ist allgegenwärtig, ebenso wie der Unterschied zwischen pragmatischer und gelehrter Schriftlichkeit (Nelson, S. 524). “The practice of government in Charlemagne’s empire would have been unthinkable without literacy, not just in Latin ... but in diverse vernaculars” (ebd.). Es wird von „incipient vernacular literacy” (Annina Seiler, S. 117–153, hier S. 117), von "graphicacy" und „learned visual literacy” (Rory Naismith, S. 488–512, hier S. 490) gesprochen. "Entanglement" („Verschränkung”) erscheint als „a useful portmanteau notion to denote complex networks of interdependence” (McKitterick, S. 53), wie sie möglicherweise durch die Verwendung der Schrift wiedergegeben werden. Abwesend ist das Konzept der „Schreibbarkeit” einer Sprache, entwickelt von Armando Petrucci, der unter anderem vorschlug, dass eine Sprache, um "scrivibile" („schreibbar”) zu werden, eine unverzichtbare textliche „Formalität” erwerben muss, um mit Sprachen konkurrieren zu können, die man schon schreiben konnte.1 Beim Code-switching innerhalb einer einzelnen Urkunde wird beobachtet, dass bestimmte Teile der Urkunde sich mehr an die Verwendung einer Landessprache anlehnen als andere. Die Autoren zeigen, dass Orts- und Personennamen, Vermerke auf dem Rücken der Urkunde (Robert Gallagher und Kate Wiles, S. 230–295), Umgehungen (von Grundstücksgrenzen) und bestimmte Formeln (Bernhard Zeller, S. 154–187) in der Landessprache geschrieben werden konnten. Latein hatte nicht immer die Wörter für diese Aussagen, die ein hohes Maß an Genauigkeit erforderten (Latein war hier mit anderen Worten weniger “schreibbar”), während Latein die Wörter für andere Formeln hatte (der Umgangssprache, wie wir annehmen müssen, fehlte hier noch das Vokabular und sie war daher in diesen Fällen weniger “schreibbar”). Die volkssprachlichen Teile ansonsten lateinisch geschriebener Urkunden konnten auch durch die Verwendung einer anderen Schrift unterschieden werden, das Sprachbewusstsein also auch durch graphische Präferenzen sichtbar gemacht werden.
Urkunden spielten eine wichtige Rolle in der Kommunikation. Sie waren fast nie „nur“ Aufzeichnungen; sie hatten „symbolic weight” (McKitterick, S. 37). Das Zusammenspiel von Latein und Volkssprache fand auf vielen Ebenen statt. Abgesehen von sprachlichen Aspekten machte die Materialität der Urkunden als Einzelblattdokumente, versehen mit visueller Symbolik und oft mit Siegeln, die Schriftstücke zu kraftvollen Symbolobjekten. Deren Verwendung, beispielsweise der königlichen Urkunden als Instrument der königlichen Machtausübung, war durch die Performativität dieser Diplome gekennzeichnet. Im Untersuchungszeitraum des Bandes kam es auch zu Entwicklungen in der Herstellung und Verwendung von Urkunden. In England entstanden beispielsweise writs, versiegelte, kurze Dokumente, die nur in Altenglisch verfasst waren; sie wurden eher auf der Ebene der Grafschaften als auf der der angelsächsischen Königreiche eingesetzt (Albert Fenton, S. 412–439). Ähnliche Dokumente fehlen auf dem Kontinent. Dort aber wurden im 9. Jahrhundert Chartulare entwickelt, die unter den Karolingern zu einer der „key archival institutions” wurden (Nelson, S. 523). In England wurden sie hingegen erst zu einem viel späteren Zeitpunkt eingeführt.
Abgesehen von Urkunden werden in den Kapiteln dieses äußerst reichen Bands regelmäßig auch andere Dokumente erwähnt: Güterverzeichnisse (Stephan Esders, S. 378–411; Kathryn A. Lowe, S. 440–487), Gesetzbücher, Pachtverträge, Gerichtsurkunden, Testamente und Münzen (Naismith, S. 488–521), um nur einige zu nennen. Es sind alles Schriftstücke, die wie Urkunden zum Bereich der pragmatischen Schriftlichkeit gehören. Wir werden aber auch daran erinnert, dass germanische Volkssprachen auch für Predigten, biblische Gedichte, Gebete, Taufgelübde, Heldendichtungen, Zaubersprüche, Segnungen, Rezepte und vieles andere mehr verwendet wurden. Auch die Kirche benutzte die Volkssprache (Tinti, S. 11–12).
Das Buch, dessen Einzelergebnisse hier nur angerissen werden konnten, zeigt eindrucksvoll auf, dass das Studium der Sprache frühmittelalterlicher Urkunden nicht nur für Linguisten und Urkundenforscher von Interesse ist. Vielmehr leistet es auch einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des frühen Mittelalters an sich. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch eine breite Rezeption erfährt und der hier gewählte multidisziplinäre und vergleichende Ansatz viele Nachfolger finden wird.
Anmerkung:
1 Armando Petrucci, Letteratura italiana. Una storia attraverso la scrittura, Rom 2017, S. 17.