K. Salmi-Niklander u.a. (Hrsg.): Friction, Fragmentation, and Diversity

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Titel
Friction, Fragmentation, and Diversity. Localized Politics of European Memories


Herausgeber
Salmi-Niklander, Kirsti; Savolainen, Ulla; Taavetti, Riikka; Laine, Sofia; Salmesvuori, Päivi
Erschienen
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 110,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melanie Hussinger, Geschichte Osteuropas und Ostmitteleuropas, Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Die Mehrschichtig- und Vieldeutigkeit historischer Gedächtnisse im europäischen und postsozialistischen Raum beleuchtet der 2022 in der University Press Amsterdam erschienene Sammelband „Friction, Fragmentation, and Diversity“. Entlang zehn unterschiedlicher Fallbeispiele, die das Herausgeber:innen-Kollektiv Kirsti Salmi-Niklander, Sofia Laine, Päivi Salmesvuori, Ulla Savolainen und Riikka Taavetti im Untertitel als „localized politics of European memories“ identifizieren, soll der staatliche wie nichtstaatliche Umgang mit der zeitgeschichtlichen Vergangenheit aufgezeigt werden. Dabei schicken sie die Prämisse voraus, dass die geschichts- beziehungsweise erinnerungspolitische Betrachtungsweise der einzelnen Fallbeispiele die Möglichkeit zur Analysierung von Erinnerungen auf persönlicher, gruppenbezogener, nationaler, wie transnationaler Ebene bereithalte. Prozesse der Politisierung, der Umstrittenheit von Erinnerungsinhalten sollen dabei nachvollziehbar gemacht werden. Weiterhin untergliedert sich der Sammelband, dessen empirische Forschungen der einzelnen Kapitel zu großen Teilen auf in den 2010er-Jahren durchgeführten Interviews fußt, in zwei Teile sowie drei methodische Konzepte: „diversity“, „friction“ und „fragmentation“. Neben der proklamierten Abkehr vom nationalen Bezugsrahmen soll es dabei um das Zusammenspiel zwischen individuellen und gruppenspezifischen Erinnerungen sowie deren „Reibungen“ aneinander gehen.

Thematisch reichen die Inhalte vom Umgang mit den sowjetischen Repressionen, den Okkupationserfahrungen und dem Zweiten Weltkrieg bis hin zum deutschen Erinnerungsdiskurs um die 68er-Bewegung. Geografisch bewegen sich die Beiträge schwerpunktmäßig in den baltischen Ländern und dem europäischen Osten, aber auch Fallbeispiele aus der Türkei und Deutschland sind vertreten. Die „difficult past“1 (S. 27 und 145) und die Aufarbeitung ebendieser zieht sich als roter Faden durch den Band, wobei einige Schlüsselzugänge der memory studies, wie etwa die Foucaultsche „counter-memory“, die von Marianne Hirsch ausformulierte „post memory“, oder Ideen der literaturwissenschaftlich ausgerichteten „trauma studies“ durch die Kapitel führen, was dem Sammelband zur methodischen und interdisziplinären Stringenz verhilft, der sich so – dies sei vorweggenommen – verdient in die Arbeiten der transcultural memory studies2 einfügt.

Der erste Teil des Bandes, „Politicized Memories and Pasts“, widmet sich zunächst der Debatte um die Umbenennung des estnischen Okkupationsmuseums in „Museum of Freedom Vabamu“ als Fenster einer grundsätzlichen Transformation der Erinnerungskultur zur kommunistischen Vergangenheit Estlands vor dem Hintergrund des Generationenwandels. Kirsti Jõesalu und Ene Kõresaar zeigen in ihrem Beitrag die sensible Verortung des Okkupationsbegriffs im kulturellen Gedächtnis Estlands als „core of Estonian political identity“ (S. 30) auf. Überzeugend gelangen sie zu dem Schluss, dass die estnische Gesellschaft – der Diskurs verbleibt im estnischsprachigen Teil der Bevölkerung – die „difficult past“ wie gewohnt erinnern möchte, und sich somit neuen Zugängen zur Vergangenheitsbewältigung, wie sie die Umbenennung des Museums implizierte, größtenteils verschloss. Im Jahr 2018 eröffnete schließlich als Kompromisslösung das „Vabamu Museum of Occupations and Freedom“.

Eine weitere politisierte Debatte, die 68er-Bewegung in Deutschland, untersuchen Priska Daphi und Jens Zimmermann, denn diese sei ein noch immer kontroverses Thema. Anhand von Interviews mit Blockupy-Aktivist:innen und einer sehr kurz gehaltenen Zeitungsanalyse gehen sie der Frage nach, inwiefern heutige Aktivist:innen die „counter-memory“ der 68er-Bewegung teilen. Das estnische Okkupationsmuseum tritt im dritten Kapitel erneut in das Zentrum der Betrachtung, wenngleich unter ganz anderem Gesichtspunkt: Riikka Taavetti widmet sich mit der politischen Verfolgung Homosexueller einem kaum sichtbaren Themenbereich der sowjetischen Repressionserfahrungen. 2016 entfachte die Ausstellung „Not Suitable for Work. A Chairman’s Tale“ über das Leben eines queeren sowjetischen Bürgers des zeitgenössischen estnischen Künstlers Jaanus Samma im Okkupationsmuseum eine hitzige Debatte, anhand derer Taavetti „the cultural value of victimhood“ (S. 80) im estnischen nationalen Gedächtnis analysiert. Überzeugend zeigt Taavetti auf, wie umstritten sich die Anerkennung von aufgrund ihrer Homosexualität verurteilten Personen als Opfer staatlicher Willkür der ehemaligen UdSSR in der Praxis darstellt, und bilanziert schlüssig: „perhaps the Chairman offered the first step toward the new Museum of Freedom“ (S. 95).

Eine stark methodisch unterfütterte Darstellung der „social memory“ zur lettischen Geschichte bieten Laura Ardava- Āboliņa und Jurijs Ņikišins in ihrem Beitrag an. Anhand nationaler Meinungsumfragen aus dem Jahr 2016 versuchen sie eine Annäherung an gesellschaftlich empfundene „transformative events“ (S. 99) des 20. Jahrhunderts. Sowohl generationelle als auch ethnische Unterteilungen dienen als Analysekategorie, wobei die Meinungen ethnischer nicht-Lett:innen – vor allem der russischsprachige Bevölkerungsanteil – sich im Wesentlichen auf den Zweiten Weltkrieg konzentrierten, während ethnische Lett:innen viel häufiger die sowjetischen Repressionen als „worst event“ (S. 116) benannten. Auch verweisen die Autor:innen auf die Herausforderungen durch die zwei Informationsräume der diametralen russisch- und lettischsprachigen Medienlandschaften. Der Einfluss der russischen Propaganda dürfte hier nicht zu unterschätzen sein, insbesondere mit Fortlaufen des russischen Angriffskrieges.

Unter dem Analysespektrum des soziokulturellen Traumas widmet sich auch Gulsina Selyaninovas Beitrag den sowjetischen Repressionen, genauer dem „Anti-Soviet Ishanism Establishment Case“ des Jahres 1948 in der Uralregion.3 Unter Bezugnahme der Untersuchungsakten sowie Oral-History-Interviews identifiziert die Autorin, wie sowohl Verhaftete als auch ihre Familienangehörigen mit der Verurteilung lebten, und resümiert unter anderen, dass in der „post-memory“ als Konsequenz die Sufi-Tradition des Urals verloren gegangen sei.

Dass eine offizielle Begegnung mit der „difficult past“ am Beispiel der finnischen Kompensationsgesetzgebung für die Internierung deutscher und ungarischer Bürger in Finnland (1944–46) aus dem Jahre 2014 negative Rezeption erfährt, verdeutlicht Ulla Savolainen in ihrem Beitrag, der den zweiten Teil des Bandes, „Friction and Diversity“, eröffnet. Auf Grundlage von Oral-History-Interviews mit ehemaligen Kinder- und Jugendinternierten blickt sie hinter die Kulissen des Diskurses um das Gesetz und schlussfolgert, dass trotz der inhaltlichen Kritik die Gründe für die Unzufriedenheit der Betroffenen vielmehr im kulturellen Umgang mit der Vergangenheit zu finden seien.

Auf Basis unveröffentlichter Briefe aus dem Permer Staatsarchiv und Interviews mit Urenkeln der Repressierten widmet sich auch Anna Koldushko den politischen Repressionen der Permer Region. Koldushko kehrt sich bewusst und sinnhaft vom Konzept des sozialen oder kulturellen Traumas ab und versteht die leidhaften Erfahrungen als persönliche Traumata, sogenannte „imprisonment traumas“ (S. 170), die weder von den Opfern noch von ihren Familienangehörigen und Freunden als solche anerkannt wurden. Auslöser der traumatischen Erfahrungen waren demnach die Verhaftungen als „fait a accompli“ (S. 183), die Lebensbedingungen in den Lagern, Folter, sowie die Schwierigkeiten der Rehabilitierung nach Rückkehr der Gefangenen.

Auf die Rolle von Identität bei der Ausgestaltung des kulturellen Gedächtnisses gehen Serpil Açıkalın Erkormaz und Dilek Karal ein. Sie argumentieren, dass Identität und identitätsbasierte Erinnerungen wesentliche Determinanten für divergierende Erzählungen von Frauen bezüglich der kurdischen Frage und der Geschlechterrollen seien. Den Zweiten Weltkrieg und dessen gravierende Auswirkungen durch die Linse des „cultural trauma“ betrachtend, zeigt Anastasia Kucheva anhand von 46 biografischen Interviews und Archivanalysen individuelle „adaption strategies“ und Praktiken der Trauma-Anpassung der sowjetischen Bevölkerung in der Nachkriegszeit auf. Anders als Anna Koldushko stellt sie für die Nachkriegsgesellschaft und deren katastrophale Erfahrungen die Ausformung einer „collective experience of overcoming the trauma of war“ (S. 230) fest.

Als Plädoyer für die Pluralität von Erinnerungskultur(en) im nationalen Kontext kann das letzte Kapitel des Bandes verstanden werden. Zane Radzobe and Didzis Bērziņš widmen sich darin der Vielschichtigkeit der Erinnerungen über das 20. Jahrhundert im gegenwärtigen Lettland. Analysiert werden sowohl ritualisierte Gedenkpraktiken von ethnisch lettischen als auch russischsprachigen Bewohner:innen des Landes. Einmal mehr wird hier die Foucaultsche „counter-memory“ vorangestellt, um die Erinnerungsprozesse einzelner Gruppe entgegen dem existierenden „regime of truth“ des lettischen Staates zu fassen. Eine dieser hochgradig ritualisierten Gedenkveranstaltungen stellt die jährliche Begehung des 9. Mai innerhalb der russischsprachigen Gemeinschaft dar. Trotz der starken Politisierung und Unterstützung durch den russischen Staat könne diese Praxis als „counter-memory“ verstanden werden. Dass sich auch hier die Deutungen seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine verschieben, dürfte außer Frage stehen.

Der Sammelband tritt in Dialog mit den Arbeiten zum transcultural turn in der Gedächtnisforschung. Gleichzeitig bleiben die einzelnen Beiträge vielfach auf den nationalen Bezugsrahmen beschränkt – hier wären mehr komparative, länderübergreifende Beispiele nützlich gewesen. Gleichwohl verbindet das Buch durchgängig theoretische Konzeptionen mit empirischem Material. Zur Diskussion darf dabei die einleitende Aussage stehen, dass Erinnerungen immer eine politische Dimension haben (S. 13). Damit einhergehend stellt sich auch die Frage, ob das eingangs platzierte Konzept der „politics of memory“ durch einen ganzen Band tragen kann, lassen sich die präsentierten Fallbeispiele doch nicht zwangsläufig durch eine geschichts- oder erinnerungspolitische Brille lesen. Insgesamt überzeugt der Band jedoch durch seine erfrischenden Fallbeispiele und Mikrostudien, die sich teilweise ergänzen und durch eine hohe methodische Durchdachtheit auszeichnen. Da die empirische Arbeit vor allem in den 2010er-Jahren durchgeführt wurde, fordert der russische Krieg gegen die Ukraine auch an dieser Stelle ein allgemeines Überdenken der geschichts- und erinnerungspolitischen Analysen ein, ohne dass der Sammelband in Gänze sowie die einzelnen Beiträge an Bedeutung einbüßen.

Anmerkungen:
1 Zur „difficult past“ siehe Robin Wagner-Pacifici / Barry Schwartz, The Vietnam Veterans Memorial. Commemorating a Difficult Past, in: American Journal of Sociology 97 (1991), S. 376–420.
2 Siehe etwa Chiara de Cesari / Ann Rigney (Hrsg.), Transnational Memory. Circulation, Articulation, Scales, Berlin 2014; Rich Crownshaw (Hrsg.), Transcultural Memory, London 2014; oder Lucy Bond / Jessica Rapson (Hrsg.), The Transcultural Turn. Interrogating Memory Between and Beyond Borders, Berlin 2014.
3 „Ishanism“ bezeichnet eine zentralasiatische Ausprägung des Sufismus, einer mystischen Tradition des Islam.