Österreichische Klöster, an denen die Unbilden der Säkularisation weitgehend spurlos vorbeigegangen sind, bergen oft noch ungehobene Schätze handschriftlicher Überlieferungen. Einen solchen (auch bisher nicht völlig unbekannten) Schatz im steirischen Benediktinerstift Admont zu heben, schickt sich Christina Lutter in ihrem Buch an, einem Buch dessen Anspruch, wie der etwas sperrige Titel suggeriert, nichts weniger als umfassend ist.
Der erste und einleitende Teil des Buches (S. 1-51) dient der Formulierung und theoretischen Einordnung der Fragestellung sowie ihrer Erläuterung am Beispiel des Hortus deliciarum der Herrad von Hohenburg. Lutter erweist sich in diesem Abschnitt als bestens vertraut mit den gängigen Theorien von Cultural Studies und Gender Studies. Schon hier finden sich allerdings Auffassungen, die eher seltsam berühren, so etwa die Anregung, Kategorien wie ‚Klasse’ oder ‚Rasse’ hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion und Wirkungsweise mit den so komplexen und vielschichtigen vormodernen Konzepten ordo und ‚Ethnizität’ zu vergleichen. Ob damit nicht genau das getan wird, was Lutter im selben Absatz der traditionellen Mediävistik vorhält, dass nämlich deren begriffliche Konzepte oft auf Vorannahmen beruhten, die moderne Vorstellungen unhinterfragt in die Vergangenheit projizieren (S. 4)?
Im zweiten Teil wird zunächst der Gegenstand von Lutters Buch, das 1074 vom Salzburger Erzbischof Gebhard gegründete Stift Admont und der diesem im frühen 12. Jahrhundert angeschlossene Frauenkonvent, vorgestellt. Ausführlich werden die Stellung Admonts in den monastischen Reformbewegungen der Zeit sowie die Unterordnung des Frauenkonvents unter den Männerkonvent beschrieben und das Zusammenwirken in Buchproduktion und Bibliothekswesen behandelt, wobei sich Lutter auf die Forschungen von Stefanie Seeberg und Alison Beach stützt[1], das weiterhin bestehende Desiderat einer fundierten Untersuchung der Admonter Skriptorien im 12. Jahrhundert aber auch nicht erfüllen kann. Auf dieser Grundlage behandelt Lutter nun in einer „handschriftenkundlichen Fallstudie” (S. 64) einige Texte, die entweder im Admonter Nonnenkonvent entstanden oder eng mit ihm verbunden sind – die Admonter ‚Vita magistrae’, Texte des Abtes Irimbert von Admont, die Briefe Gerhochs von Reichersberg an die (Admonter?) Nonnen, die ‚Admonter Nonnenbriefe’[2], Marienlegenden, liturgische Bücher – und erläutert an ihnen verschiedene Aspekte des monastischen Lebens, wie die Frage der cura monialium durch Angehörige des Männerkonvents, des geistlichen Lebens, von Lesung und Gebet, Tugend und Laster, Wissen und Wissenserwerb sowie Körper und Körperlichkeit. Ein abschließender Abschnitt untersucht die sozialen Netzwerke, in denen der Admonter Frauenkonvent zu finden ist. In einem Anhang werden einige der vorher behandelten Texte abgedruckt.
Für eine „handschriftenkundliche Fallstudie” (S. 64) weist Lutters Buch sehr problematische Eigenheiten auf. Dies sei etwas ausführlicher an einem Beispiel vorgeführt. Auf den Seiten 138-143 bespricht Lutter eine Sammlung von Marienlegenden, die im Admonter Codex 638 überliefert sind. Zwei dieser Legenden werden ausführlich paraphrasiert und außerdem im Anhang (S. 235-237) abgedruckt. Nicht untersucht wird hingegen die Sammlung insgesamt, was nicht nur wesentlich für ein adäquates Verständnis der jeweiligen Einzellegende und ihres Gebrauchs durch die Admonter Nonnen gewesen wäre, sondern auch ergeben hätte, dass es sich keineswegs um eine Einzelüberlieferung handelt, sondern um die aus einigen Handschriften bekannte und bereits 1731 vom österreichischen Benediktinerhistoriker Bernhard Pez gedruckte Sammlung, die im Admonter Codex durch weitere Texte ergänzt ist[3] – auch diese Feststellung ist sicher von nicht geringem Interesse im Hinblick auf die Admonter Verhältnisse im 12. Jahrhundert. Von der Qualität der Texterstellung durch Lutter kann sich jeder selbst überzeugen, da zwei Seiten der Handschrift auf S. 338 abgebildet sind: Allein in diesem Textabschnitt (S. 236f.) finden sich vier Transkriptionsfehler, im gesamten Text sind es zwölf teilweise sinnstörende Fehler[4] – für knapp mehr als zwei Druckseiten schon recht beachtlich. Ebenso schwer sinnstörend ist die völlig willkürliche Interpunktion, die mitunter auch die in der Handschrift gesetzten Interpunktionszeichen missachtet, Fragepartikel übersieht und auch die Hilfestellung durch die in der ersten Legende gelegentlich auftretende rhythmische Form nicht nützt. Dass Lutter nicht bemerkt hat, dass ihr Text in der vorliegenden Form streckenweise kaum verständlich ist, lässt durchaus Zweifel aufkommen, ob ihre Lateinkenntnisse wirklich ausreichend sind. Ebenso schwer wiegen die zahlreichen nicht erkannten Zitate und Anklänge aus der Bibel; auch ein Anklang an liturgische Texte wurde übersehen.[5] Willkürliche Interpunktion und mangelhaftes Sprachverständnis haben ferner zur Folge, dass die rhetorische Struktur der Texte nicht begriffen wird. Das wirkt sich vor allem bei der zweiten Legende schwerwiegend aus. Obwohl der Begriff altercatio – Streitgespräch – sogar im Text vorkommt, werden die Berührungspunkte zu dieser literarischen Form nicht erkannt und daher auch keine daraus folgenden weiterführenden Überlegungen angestellt. Im selben Text wird auch das in der mittelalterlichen Literatur und Kunst so wirkmächtige Motiv der Seelenwaage übersehen. Schließlich wird die Gattungszugehörigkeit der Texte insgesamt nicht problematisiert; Lutter beschränkt sich darauf, sie der (später hinzugefügten) Rubrik in der Handschrift folgend als miracula zu bezeichnen, erkennt aber nicht den Charakter der Texte als exempla[6] und kann daher auch keine davon ausgehenden Überlegungen zu Funktion und Gebrauch dieser Texte im monastischen Alltag der Admonter Nonnen anstellen. All diese Gesichtspunkte hätten aber entsprechend den Darlegungen in Teil 1 durchaus ihren Ort im Buch haben sollen! Mehr noch, wenn Lutter intertextuelle Bezüge, Schnittstellen zwischen Oralität und Literalität, literarische Motive und Gattungen nicht erkennt, wie will sie dann die den Texten zugrunde liegenden „Diskurse” und „Narrative” zutreffend bestimmen und seriös, losgelöst vom gängigen Jargon, in allein quellenorientierter Analyse- und Interpretationsarbeit untersuchen? Mag sich auch die Darstellung gut und flüssig lesen, in dieser Aufgabe, die doch die eigentliche des Historikers/der Historikerin ist, versagt Lutter.
Das letzte Kapitel tritt für „eine Geschichte der Möglichkeiten” ein. Das Buch ist selbst eine solche Geschichte der Möglichkeiten, und zwar der übersehenen und ungenützten. So eingängig es geschrieben ist, so skandalös ist es in handwerklich-hilfswissenschaftlicher Sicht, so unzuverlässig und beliebig daher in seinen Ergebnissen. Es nährt den Eindruck, dass die zahlreichen „turns”, denen die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren ausgesetzt war, letztlich nur Schwindel bewirkt haben – wie das bei heftigen Drehbewegungen eben passiert. Falls das Buch als repräsentativ für Stand und Tendenzen der deutschsprachigen Mediävistik anzusehen sein sollte, bleibt nur betroffenes Schweigen.
Anmerkungen:
[1] Seeberg, Stefanie, Die Illustrationen im Admonter Nonnenbrevier von 1180. Marienkrönung und Nonnenfrömmigkeit. Die Rolle der Brevierillustration in der Entwicklung von Bildthemen im 12. Jahrhundert, Wiesbaden 2002; Beach, Alison I., Women as Scribes. Book Production and Monastic Reform in Twelfth-Century Bavaria, Cambridge 2004.
[2] Beach, Alison I., Voices from a Distant Land. Fragments of a Twelfth-Century Nuns’ Letter Collection, in: Speculum 77 (2002), S. 34-54.
[3] Mit den gängigen Hilfsmitteln wäre man rasch auf Pez, Bernhard, Venerabilis Agnetis Blannbekin ... Vita et Relevationes ... Accessit Pothonis Presbyteri et Monachi ... Liber de Miraculis sanctae Dei Genitricis Mariae, Wien 1731 (Nachdruck Ithaca 1925) gestoßen. Die Zuschreibung an Boto von Prüfening ist unzutreffend. Vgl. auch Mussafia, Adolf, Studien zu den mittelalterlichen Marienlegenden I, in: Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien 113 (Wien 1886), S. 917-994, hier S. 936-953, wo auch die Admonter Handschrift behandelt wird.
[4] Z.B. S. 235 Z.12: statt mihi facta dimissa richtig mihi sunt dimissa; Z. 19f. statt ignes, qui me urivit infernales richtig ignes, qui me urunt infernales; S. 236 Z. 9 statt ad tormenta seculi rapiant richtig ad tormenta secum rapiant; Z. 31 statt scire nunc velite richtig scire nunc velim; S. 237 Z. 5 statt nimio furore agitata richtig nimio furore agitati, etc.
[5] Z.B. S. 236 Z. 8f. latrones in gyro obsident – vgl. Iob 19,12; Z. 29f. Misericordia autem superexaltat iudicio – vgl. Iac 2,13; etc.
[6] Vgl. etwa Bremont, Claude; Le Goff, Jacques; Schmitt, Jean-Claude, L’ „Exemplum”, Turnhout 1982; Berlioz, Jacques; Polo de Beaulieu, Marie Anne (Hrsg.), Les Exempla médiévaux. Introduction à la recherche, suivie des tables critiques de l’Index exemplorum de Frederic C. Tubach, Carcassonne 1992.