„Thin woolen threads sewn on linen orchestrate a 24-meter long narrative of Sámi culture and history. […] Instead of representing chronological order, history and the present are interwoven”, beschreibt die Kuratorin Charis Gullickson das gewebte Kunstwerk Historjá (2003-2007) der sámischen Künstlerin Britta Marakatt-Labba, das in Ausschnitten den Umschlag des norwegischen Sammelbands Samenes historie. Fra 1751 til 2010 (‘Geschichte der Sámi. Von 1751 bis 2020‘), herausgegeben 2021 von Astri Andresen, Bjørg Evjen und Teemu Ryymin, ziert. Die grafische Gestaltung führt Leser:innen unmittelbar zum zentralen Thema des Bandes, dem historischen Verhältnis Norwegens zu den ethnischen Minderheiten der Sámi 1 und (in geringerem Umfang) der Kvener. Die zwei Bildausschnitte auf der Rückseite illustrieren die Tendenz der in den einzelnen Beiträgen nachgezeichneten historischen Entwicklungen, von schweren Spannungen (Kautokeino-Aufstand 1852) bis zur Zusammenarbeit und politischen Selbstständigkeit (Sametinget, seit 1989).
Samenes historie hebt sich von bestehenden Historiografien insofern ab, als dass eine möglichst umfassende und komplexe, teils grenzübergreifende Darstellung sámischer Geschichte in Norwegen angestrebt wird, die lokale, regionale, rechtliche, politische und soziale Aspekte miteinander verbindet.2Samenes historie. Fra 1751 til 2010 ist der zweite Band zur sámischen Geschichte Norwegens und ergänzt den 2004 von Lars Ivar Hansen und Bjørnar Olsen herausgegebenen, 2022 in einer Neuauflage erschienenen ersten Band zu den Jahren bis 1750. Vom Vorgänger übernommen wurden im hier besprochenen Werk vor allem das Verständnis von Ethnizität und der Fokus auf Sámi als selbstständige Akteure in der norwegischen Geschichte. Samenes historie ist ein ambitioniertes Projekt und in seinem Umfang ein wissenschaftlicher Meilenstein für zukünftige Sámi-Geschichtsschreibung. Es ist daher passend, dass die Herausgeber:innen das Buch dem Historiker Henry Minde (geb. 1945) gewidmet haben, dessen Lebenswerk prägend war für die Professionalisierung einer Geschichtsschreibung durch Sámi.
Mit seinen elf vielfach gemeinschaftlich verfassten Kapiteln ist Samenes historie zudem ein gelungener Versuch, die besten Eigenschaften eines Sammelbands mit der inhaltlichen und formalen Kontinuität einer Monografie zu kombinieren. Dabei repräsentieren die Autor:innen drei Generationen von Forscher:innen, die im größeren oder kleineren Umfang die politischen Konflikte der 1970er-Jahre selbst miterlebt haben. Die einzelnen Beiträge sind bestrebt, eine möglichst große Vielfalt an linguistischen, kulturellen, lebensweltlichen und geschlechterhistorischen Dimensionen, Kontinuitäten und Brüchen herauszuarbeiten. Chronologisch entlang zentraler historischer Wendepunkte strukturiert, ist jedes Kapitel so trotz der großen Vielfalt an verwendetem Quellenmaterial, methodischen Ansätzen und geografischen Differenzen in sich geschlossen, wozu auch die ergänzenden Essays und kurzen Exkurse – etwa zu quellenkritischen Betrachtungen oder weiterführenden Forschungsergebnissen – beitragen.
Der zeitliche Rahmen des Sammelbands reicht, wie der Untertitel ankündigt, von der Unterzeichnung des sogenannten Lappen-Codicills von 1751, das erstmals rechtliche Grundlagen für die grenzüberschreitenden Rentierwanderungen festlegte, bis in die ersten zwei Dekaden der selbständigen parlamentarischen Repräsentation in Norwegen, dem Sametinget. Im Gegensatz zu Marakatt-Labbas den Umschlag zierendes Kunstwerk wird in Samenes historie also „eine klassische“, chronologische Geschichte geschrieben, in der sich der Umfang moderner norwegischer Geschichtsschreibung von der Nationsbildung Anfang des 19. Jahrhunderts über den Zweiten Weltkrieg bis in die Neuzeit widerspiegelt. Dennoch sind die Verflechtungen von Vergangenheit und Gegenwart allgegenwärtig. So werden historische Prozesse vielfach entsprechend ihrer aktuellen Relevanz in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte eingebettet, wodurch sich spannende Fragen ergeben: Welche Einflüsse hatte etwa die Nationsbildung auf ethnische Selbst- und Fremdwahrnehmung? Warum blieben Sámi in so vielen Historiografien ‘unsichtbar‘? Inwiefern veränderten sozialdarwinistische Theorien die Sicht auf sámische Identität? Welchen Einfluss hatte die nationalsozialistische „Rassenlehre“ auf das ambivalente Verhältnis der deutschen Besatzungsmacht – und Norwegen selbst – zu den Sámi? Die Autor:innen begegnen diesen Fragen mit solider Argumentation, die auch nicht davor zurückscheut, auf verbleibende Leerstellen zu verweisen. Allgemein lassen die Beiträge jedoch kaum eine Gelegenheit aus, zeitgenössische Debatten mit historischen Entwicklungen in Verbindung zu bringen. Dazu gehören Konflikte wie Bergbau, Forstwirtschaft und nomadische Rentierhaltung ebenso wie der Bau von Windkraftanlagen in der Region Trøndelag. Etwas zu kurz kommt die kritische Reflexion der Rolle von Museen und Kunstsammlung in der Tradierung von Stereotypen und ebenso aktuellen Bestrebungen einiger Einrichtungen, historischen Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken. Vom Bedarf und politischen Willen einer Aufarbeitung vergangener Beziehungen zwischen Mehrheitsbevölkerung und ethnischen Minderheiten auch über Norwegen hinaus zeugen unter anderem die unterschiedlichen ‘Wahrheits- und Versöhnungskommissionen‘, die seit den 1970er-Jahren berufen wurden. Samenes historie steuert hierzu durch differenzierte historische Analysen einen wichtigen Anteil bei.
Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die dominierenden historischen Erzählungen über Sámi an Assimilationsprozesse im Sinne einer Norwegisierung (fornorskning) gebunden. Die Fornorskningspolitik wird in Samenes historie im Gegensatz zu vielen anderen Publikationen nicht als monolitischer Prozess beschrieben, sondern als politische Richtlinie, die sich nur teilweise in der Praxis etablierte, häufig auf offenen und verdeckten Widerstand stieß und teils einfach ignoriert wurde. Mit seiner Einbindung lokalhistorischer Forschung und der daraus resultierenden Pluralität und Komplexität des gesellschaftlichen Alltags verfolgt Samenes historie einen differenzierteren Ansatz. Dazu gehört auch der Aufschwung sámischer Kultur, Kunst und Handwerk seit den 1960er-Jahren, oft als Sámi Revival bezeichnet, den der Band als Reaktion auf die Lehren aus der Besatzungszeit und den traumatischen Erfahrungen der Zwangsevakuierung der Finnmark 1944/45 interpretiert, welche trotz der umfassenden Zerstörungen zu einem neuen Selbstbewusstsein in Bezug auf sámische Identität und Kultur geführt hätten. Ein weiterer wichtiger Wegbereiter der in den letzten Kapiteln betrachteten gesellschaftspolitischen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die frühe ethnopolitische Mobilisierung, vor allem die Wahlen des sámischen Lehrers und Politikers Isak Saba (1875-1921) ins Stortinget 1906 und 1909, und das Samisk landsmøte in Trondheim 1917. Besonders hervorzuheben ist auch das Kapitel zur Demografie, das Entwicklungen, Faktoren und potentielle Fallstricke der Statistiken, Volkszählungen, Fremdzuschreibungen und Bevölkerungsstrukturen der Sámi in Norwegen analysiert. Das wichtigste Ergebnis des Kapitels ist die Feststellung, dass die Bevölkerungsentwicklung ähnlichen Mustern wie jener der Mehrheitsgesellschaft folgte. Allerdings führte der Druck durch norwegische Besiedlung und systematische Unterdrückung sámischer Identifikation ab etwa 1900 zu einem Ungleichgewicht in den Volkszählungen und schließlich sogar zur Befürchtung, dass die Sámi als Volksgruppe vom ‘Aussterben‘ bedroht seien. Diese Sorge wurde, wie in weiteren Beiträgen des Bandes herausgearbeitet, im 20. Jahrhundert sowohl als Argument für als auch gegen eine gezielte Förderung von Kultur und Sprache instrumentalisiert.
Samenes historie überzeugt insbesondere auch durch die kritische Reflexion eigener Prämissen und Definitionen, gängiger Mythen und häufig anzutreffender Missverständnisse; so etwa zum geografischen Siedlungsgebiet (Sápmi), das sich nachweislich weiter erstreckt als viele – wenn nicht die meisten – Darstellungen angeben. Ebenso grenzen sich die Beiträge des Bandes von vielen populären Darstellungen und Stereotypen ab, indem zum Beispiel die Rentierhaltung keinen unverhältnismäßig großen Raum einnimmt, sondern vielmehr als sámischer ‘Kulturträger‘ und als Symbol für eine historisch besonders prominente Auffassung einer traditionellen Lebensweise verstanden wird. Die Autor:innen leisten somit durch good practice einen wichtigen Beitrag zu einer verantwortungsvollen und selbstkritischen Forschungslandschaft.
Angesichts der vielen positiven Eigenschaften des Bandes ist es bedauerlich, dass aktuell nur eine Fassung in norwegischer Sprache verfügbar ist, laden Vergangenheit und besondere Verortung der Sámi doch förmlich dazu ein, grenzüberschreitende Geschichte zu schreiben. Es wäre daher nur wünschenswert, dass Sámi-Historiker:innen in Schweden und Finnland diese Publikation als Referenz nutzen und darauf aufbauen. Allen Beiträgen ist zudem gemein, dass eine Grundkenntnis über politische Strukturen, Institutionen und jüngere Geschichte der nordischen Länder vorausgesetzt wird. Der Band ist keine Einstieglektüre für eine allgemein interessierte Öffentlichkeit. Insgesamt ist Samenes historie. Fra 1751 til 2010 eine wegweisende Fachpublikation, die in ihrer sehr umfassenden Darstellung auch von Widersprüchen und Diskontinuitäten ein komplexes Bild webt und hoffentlich für lange Zeit als Standard für moderne sámische Geschichtsschreibung zitiert werden wird.
Anmerkungen:
1 Die Rezension verwendet die Selbstbezeichnung „Sámi“ anstelle der im Deutschen üblichen Schreibweise „Samen“.
2 Für einen Vergleich mit sámischer Geschichte insbesondere in Schweden siehe etwa Per Guttorm Kvenangen, Samernas historia, Jokkmokk 1996, das durch eine breite Zeitspanne von Urzeit bis Moderne einen starken Überblickscharakter hat. Eher deskriptiv und weniger stark auf aktuellen Forschungsergebnissen aufbauend, ist die in Norwegen erschienene dreibändige Reihe von Odd Mathis Hætta, Samisk kultur og historie 1-3, unbek. Ort, 2021.