Gegenüber der früheren Forschung liegen „ländliche Gesellschaften“ derzeit im Trend geschichtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit, und sie werden nicht mehr nur aus der Perspektive der Grundherrschaft, sondern als differenzierte Gebilde betrachtet. Gleichwohl bleibt viel zu tun. Es ist daher zu begrüßen, dass ein internationaler Kreis renommierter Fachleute sich des Themas angenommen hat. Noch bemerkenswerter ist es, dass das Ergebnis zwar in acht jeweils von einem oder zwei Mitgliedern der Arbeitsgruppe redigierten Kapiteln vorgeführt wird, insgesamt aber eine Gemeinschaftsarbeit ist und eine kohärente Gesamtschau der Problematik darstellt, die die Forschungsprobleme keineswegs verschweigt.
Kapitel 1 („Questions to pursue“) benennt vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher nationaler, aber doch ineinander übergreifender Forschungstraditionen die Leitfragen des Bandes nach Gruppenverhalten (statt nach „communities“), Siedlung und Netzwerken, mit einer Menge weiterer Fragen (zum Beispiel nach Dauer, gemeinsamen Werten, Inklusion und Exklusion, dem Umgang mit innerer Differenzierung und Eingriffen von außen), von denen man allerdings von vornherein auch eingestehen muss, dass sie sich für das frühe Mittelalter allenfalls ansatzweise beantworten lassen. Weitere Vorteile liegen darin, dass die ländlichen Gesellschaften hier nicht mehr als Vorstufen hoch- und spätmittelalterlicher Verhältnisse, sondern vom Charakter des frühen Mittelalters (mit dem Schwerpunkt auf dem 9. und 10. Jahrhundert) her betrachtet werden sowie in der vergleichenden, europäischen Perspektive anhand von neun Regionen (östliche Île-de-France, Bretagne, Südbelgien, Mittelrheingebiet, Bayern, Schwaben, Toskana, Nordspanien sowie Süd- und Nordostengland). Dabei kann man an jüngere Arbeiten anknüpfen, deren Interesse sich an der Praxis ausrichtet. Kapitel 2 („Setting the Scene“) gibt einen kurzen Überblick über Entwicklung und Unterschiede der betrachteten Landschaften, die – oft unstabile – politische Geographie und die wichtigen Quellenarten (vor allem Urkunden).
Mit dem dritten Kapitel über die Sozialstruktur, redigiert von Nicolas Schroeder, beginnt der eigentliche, inhaltliche Teil zunächst mit Bemerkungen zu Häusern und Siedlungen, die fast ausschließlich archäologisch erschließbar sind, wegen der Holzbauten (und der begrenzten Ausgrabungsflächen) aber viele Unsicherheiten bergen. Wenn man die ältere archäologische Literatur kennt, ist es nicht überraschend, dass man hier kaum zu geschlossenen vergleichenden Ergebnissen gelangen kann, doch gibt es Indizien für eine zunehmende Dichte und Strukturierung im Verlauf der dreieinhalb untersuchten Jahrhunderte. Die differenzierte Landgesellschaft erschließt sich weder aus dem (weit festeren) Rechtsstatus noch aus der Begrifflichkeit (obwohl gerade Begriffsuntersuchungen hier Differenzierungen wie auch Entwicklungen deutlich machen konnten). Jedenfalls gab es rechtliche, soziale und wirtschaftliche Abstufungen von Freiheit (und, so wäre zu ergänzen, auch von Unfreiheit). Dass sich eine mikroregionale Elite in Schenkungen und eine Mittelschicht in den Zeugen offenbart, erscheint mir jedoch zu pauschal und bedarf noch genauerer Analysen. Zu Recht wird die Unterschiedlichkeit der betrachteten Regionen betont, doch dürfte die Diversität in einzelnen ländlichen Siedlungen derselben Region oft kaum geringer gewesen sein. Mit der Kennzeichnung „often varied“ ist das eher untertrieben ausgedrückt. Das Kapitel bietet insgesamt aber einen guten strukturellen Einblick mit konkreten Beispielen. Zu Recht wird mehrfach gewarnt (und das kann gar nicht genug betont werden), wie unsicher vieles noch ist.
Gleichwohl stehen wir bei der Frage „kollektiven Handelns“ im vierten Kapitel („Making groups“, redigiert von Miriam Czock und Charles West) vor noch größeren Quellenproblemen, da das Phänomen zweifellos vorhanden, aber nur schlecht nachweisbar ist. Fränkische Rechtsquellen berücksichtigen das Dorf kaum, englische eher die „Hundertschaft“ („hundred“), die aber keine Siedlung darstellt, in Italien spielt es in Ausnahmefällen, in der Bretagne und in Spanien stärker eine Rolle. Sicher zu Recht wird angenommen, dass sich die rechtliche und soziale Diversität auch in der Ordnung des Zusammenlebens niedergeschlagen hat. Das Verhältnis gegenüber Fremden und Andersgläubigen lässt bei Landtransaktionen zumindest in Spanien eine Integration, bei Skandinaviern in England eine gewisse Akkulturation hinsichtlich der Namen und Gebräuche erkennen. Für eine „local identity“ gibt es nur wenige tragfähige Hinweise. Das liegt vermutlich aber nicht nur an der sozialen Heterogenität der Siedler, wie hier angenommen wird, sondern auch an der Überschneidung sozialer Einheiten. Urbare etwa deuten an, dass alle Hörigen einer Kirche (die homines des Heiligen), bei aller Differenzierung, als eine Einheit begriffen wurden; Mirakelgeschichten bestätigen, dass die Hörigen das auch selbst so sahen.
Das fünfte Kapitel, redigiert von Francesca Tinti und Carine van Rhijn, ist den Ortspriestern gewidmet und will deren Aktivitäten und Bedeutung als Verbindung zwischen den Laien und der kirchlichen Hierarchie aufzeigen (im Bewusstsein, dass Pfarrei und Siedlung meist nicht übereinstimmten). Ihr Wirken als Hirten mit allen Aufgaben von der Taufe bis zur Beerdigung spiegelt sich in den in den letzten Jahren gründlich aufgearbeiteten „Priesterbüchern“ wider, auch wenn sie eher Normen als die Realität darstellen. Kennzeichnend sind auch die vielen erhaltenen Predigten, vor allem im Frankenreich und in Italien, während es für den Erfolg der in einem Kapitular von 813 geforderten Übersetzung in die Volkssprachen kaum Textbelege gibt. Vor Ort nahmen die Priester am lokalen Leben teil und gehörten oft selbst ansässigen Familien an, zu denen sie weiterhin Verbindung hielten; als Grundbesitzer waren sie an zahlreichen Transaktionen und an vielen Urkunden und Geschäften als Schreiber beteiligt. Die Frontalkritik von Michael Richter an diesen Thesen ist hier unberücksichtigt geblieben.1 Umgekehrt nahm auch die Dorfgemeinschaft Anteil: vom Schutz des Priesters bis zu seiner Vertreibung.
Das sechste Kapitel („Interventions in local societies“, redigiert von Thomas Kohl und Marco Stoffella) geht den niedrigen Amtsträgern nach und überblickt zunächst die Vielfalt der Begriffe und Funktionen (Schultheiß, Zentenar, Gastalden, Vicegrafen, vicarii, tribuni, gerefa, saio und anderes mehr). Über das Amt selbst, dessen Kompetenzen zumeist über den Ort hinaus reichten, und über dessen lokale Rolle ist wenig bekannt, doch lassen sich, bei allen regionalen Unterschieden, auch hier immer wieder lokaler Besitz, Erblichkeit und Verwurzelung erkennen, auf die bei der Einsetzung offenbar Rücksicht genommen wurde. Die hier festgestellte überwiegende Tätigkeit in Recht und Gericht mag allerdings den vorwiegend normativen Quellen geschuldet sein. Eine Kontrolle durch die „Zentrale“ wurde den Normen nach zumindest angestrebt, doch wurde das Amt anscheinend auch für eigene Zwecke genutzt. Wie die Priester stellten auch die weltlichen Amtsträger eine Verbindung zwischen den Orten und den höheren Ebenen der Provinzen und des Reichs dar.
Das siebte Kapitel („Interventions and Interactions“, redigiert von Steffen Patzold) fragt nach „äußeren Eingriffen“, die in der Regel in Form königlicher Kontrolle durch die Amtsträger auf drei Ebenen stattfanden: Krieg belastete die Landgesellschaft nicht nur durch Verwüstungen, Versklavungen und nachfolgende Hungersnöte – aber auch örtliche Selbsthilfe gegen Einfälle ist bezeugt –, sondern auch durch die Kriegsdienste (oder ersatzweise vereinbarte Abgaben) der freien Bevölkerung. Die Verfasser sehen die Selbstübereignung an Kirchen als einen Weg, dem zu entrinnen, doch mag eine solche „Kriegsdienstverweigerung“ zu modern gedacht sein und wäre jedenfalls nur ein Motiv von vielen für die Schenkungen. Zwangsläufig bleiben hier viele Fragen offen. Der zweite „Eingriff“ erfolgte durch die Justiz in Form der (regionalen, selten örtlichen) Gerichtsversammlungen. Deutlich wird ein herrscherliches Interesse, gegen Korruption und lokale Selbstregelungen anzugehen. Missi dominici und Bürgen schufen ein Kontrollinstument, das auf kirchlicher Ebene in den bischöflichen Sendgerichten eine Parallele fand. Der dritte Faktor, Besitz, liegt eigentlich auf einer anderen Ebene, auch weil ein Besitzerwechsel immer nur Teile der Dorfgesellschaft traf. Die interne soziale Differenzierung oder Streitigkeiten um den Freienstatus – auch davon ist nur ein Teil betroffen! – zeigen noch einmal die Uneinheitlichkeit der lokalen Gesellschaft auf.
Das bestätigt auch das letzte Kapitel („Neighbours, visitors, and strangers“, redigiert von Wendy Davies), das zugleich als eine Zusammenfassung gelesen werden kann. Es verweist auf nachbarschaftliche Zusammenhänge, gemeinsame Aktionen, Insider und Outsider und betont ein- und ausgangs noch einmal zu Recht die Diversität: regional, in der Struktur, Funktion und Bedeutung der Lokalitäten sowie innerhalb der Orte, mit internen und übergreifenden Netzwerken wie auch in den Eingriffen „von oben“.
Den Band beschließt ein nützlicher Anhang über die Quellenarten, an dem deutlich wird, dass Urkunden hier die wichtigste Rolle spielen, obwohl sie nur ganz bestimmte Ausschnitte beleuchten; manche Hinweise gerade zur „Nachbarschaft“ hätten im Übrigen die kaum herangezogenen Mirakelberichte geliefert. Ebenso nützlich ist das Glossar am Ende zur Erläuterung der lateinischen Begriffe, in die sich einige französische Übersetzungen (wie corvée oder demesne) eingeschlichen haben.
Das Buch ist in mehrfacher Weise bemerkenswert: In der engen Zusammenarbeit der Autorinnen und Autoren ist es ein Musterbeispiel für kooperative Veröffentlichungen. Der Blick auf die Gesamtheit der ländlichen Gesellschaft und der Landsiedlungen bietet ein neues, von früheren Überblicken deutlich unterschiedenes Bild, und der Vergleich verschiedener mittel-, west- und südeuropäischer Regionen bringt wichtige Differenzierungen in den Blick. Sehr gelungen ist auch die durchgängige Untermauerung des primär strukturellen Überblicks mit konkreten Quellenbeispielen. Das Ergebnis ist ein mutiger, instruktiver, quellennaher und somit rundherum nützlicher Überblick. Dass darin bei weitem noch keine „ultimative Gesamtdarstellung“ erreicht ist, ist den Autoren mindestens ebenso bewusst wie dem Rezensenten (und das sollten Leser bedenken). Zu reflektieren wäre auch, wie sehr manche regionalen Unterschiede der unterschiedlichen Quellenlage geschuldet sind. Die Arbeit an dem Thema steht eben noch am Anfang, hat hier aber gleich ein herausragendes Zwischenergebnis gefunden, das auf dem neueren Forschungsstand beruht und bestens verdeutlicht, wie sehr sich die Forschungsperspektiven in diesem Bereich gewandelt haben.
Im Vertrauen darauf, dass hinreichend deutlich geworden ist, wie sehr diese Veröffentlichung zu würdigen ist, seien abschließend (hoffentlich konstruktive) kritischere Bemerkungen zum Blickwinkel angefügt: Sicherlich ließe sich manches noch gründlicher behandeln, etwa die Bedeutung der Ortskirche als soziales Zentrum, das hinter der ausführlich behandelten Rolle der Priester hier etwas zurücktritt. Auffällig ist aber, dass in dem Bemühen der jüngeren Forschung, die gesamte Dorfgesellschaft in den Blick zu nehmen, die früher fast ausschließlich behandelte Grundherrschaft hier unverhältnismäßig zurücktritt. Das verengt das dargestellte Bild nun in umgekehrter Weise, da grundherrschaftliche Verhältnisse (sehr verschiedener Art) nicht nur in den meisten Regionen vorhanden und oft zentral waren, sondern aus der Grundherrschaft auch die ausführlichsten Quellen vorliegen. So wichtig und verdienstvoll es ist, die ländlichen Gesellschaften auch jenseits der Grundherrschaft zu erfassen, birgt deren Vernachlässigung doch die Gefahr, gegenüber ihrer früheren „Vorherrschaft“ in der Forschung jetzt ein nicht minder einseitiges Bild zu zeichnen. Hier wäre künftig sicherlich noch eine bessere Synthese zu erzielen. Das neue Bild kommt, damit verwandt, aber auch dadurch zustande, dass die ältere, oft materialreiche Forschung zum Thema fast ganz vernachlässigt wird. Eine substanzielle Auseinandersetzung mit früheren Ansichten hätte die neuen Perspektiven deutlicher herauskristallisieren können. Was mich an dem Buch schließlich am meisten stört, ist der Titel, der eine Verengung anderer Art impliziert. Abgesehen davon, dass „Strangers“ in dem ganzen Buch eigentlich nur am Rande vorkommen, erweckt der Titel – ganz entgegen dem auf Diversität pochenden Inhalt des Buchs – den Eindruck einer Zweiteilung der Landgesellschaft, die der differenzierten Wirklichkeit nicht entspricht und der unseligen Gliederung der mittelalterlichen Gesellschaft in „Krieger und Bauern“ durch Georges Duby2 nun eine andere, horizontale, aber nicht minder irreführend pauschale Ordnung entgegensetzt, die der hochdifferenzierten mittelalterlichen Landgesellschaft nicht gerecht wird und mit den guten, erzielten Beobachtungen des Bandes auch nicht übereinstimmt.
Anmerkungen:
1 Michael Richter, ‚Quisquis scit scribere, nullum potat abere labore‘. Zur Laienschriftlichkeit im 8. Jahrhundert, in: Jörg Jarnut / Ulrich Nonn / Michael Richter (Hrsg.), Karl Martell in seiner Zeit, Sigmaringen 1994, S. 392–404.
2 Georges Duby, Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, Frankfurt am Main 1977.