M. Mann: Die dunkle Seite der Demokratie

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Titel
Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung


Autor(en)
Mann, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
861 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thorsten Bonacker, Zentrum für Konfliktforschung und Institut für Soziologie, Philipps-Universität Marburg

Einem verbreiteten Vorurteil zufolge sind ethnische Säuberungen und Genozide in erster Linie eine Folge zu schwacher und fragiler Staatlichkeit sowie sozialer und ökonomischer Rückständigkeit – und deshalb besonders häufig in afrikanischen Ländern anzutreffen. Ein großer Vorzug des Buches von Michael Mann ist es, mit solchen eurozentrischen Vorurteilen gründlich aufzuräumen und stattdessen den Blick auf die eigene dunkle Vergangenheit zu lenken. Genozide fanden, so Mann, historisch nicht nur wesentlich häufiger in Europa statt. Vielmehr sind sie strukturell mit dem von Europa ausgehenden Projekt der politischen Moderne, der Demokratie, verbunden. Manns zentrale These lautet deshalb auch: „Ethnische Säuberungen“ sind die „dunkle Seite der Demokratie“, die allerdings keineswegs zwangsläufig zum Vorschein kommen muss. Ob Demokratisierungsprozesse in kollektive Gewalt umschlagen (oder umgekehrt), hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die Mann in seiner über 800 Seiten starken Studie identifizieren will.

Zumindest implizit knüpft er damit an eine gesellschaftstheoretische Tradition an, in deren Verlauf Autoren wie Adorno, Elias oder Bauman dem Zusammenhang zwischen „Moderne und Gewalt“1 nachgegangen sind. Ihnen zufolge sind Genozide wie der Holocaust nicht ein Resultat von unzureichender Modernisierung, sondern sie sind ein systematischer Bestandteil der kulturellen und politischen Moderne. Ohne die Institutionen der Moderne wären die Genozide des 20. Jahrhunderts unmöglich gewesen.

Im Gegensatz allerdings zu Adorno und auch zu Bauman ist Michael Mann ein historischer Soziologe, der den Zusammenhang zwischen Moderne und Gewalt nicht aus gesellschaftstheoretischen Überlegungen herleitet, sondern ihn durch verschiedene Fallstudien zu belegen versucht. Diese Studien umfassen das gesamte 20. Jahrhundert und reichen vom Völkermord an den Armeniern und dem Holocaust – dem der umfangreichste Abschnitt gewidmet ist – über die kommunistischen Säuberungen durch Stalin, Mao und Pol Pot bis zu Jugoslawien und Ruanda. Ausgehend von seiner historischen Soziologie der Staatsgenese und seiner Theorie der Quellen sozialer Macht rückt Mann dabei vor allem die Konstitution des modernen, territorialen Nationalstaats in den Mittelpunkt seiner Erklärung der Entstehung und des Verlaufs ethnischer Säuberungen.2 Wie in verschiedenen anderen Arbeiten betont Mann auch hier die überragende Bedeutung, die die Genese des modernen Staats für die Struktur und den Wandel sozialer Beziehungen und damit auch für den Ausbruch von Gewalt zwischen verschiedenen Gruppen hat. Ethnische Säuberungen lassen sich deshalb für Mann nur vor dem Hintergrund von Staatsbildungsprozessen und der Genese des jeweiligen Nationalstaats angemessen verstehen. Allerdings erlaubt es ihm sein vierdimensionales Machtkonzept, die Erklärung von Genoziden nicht auf die politischen Faktoren zu beschränken, sondern diese mit kulturell-ideologischen, ökonomischen und militärischen Faktoren zu verknüpfen.

Das Ziel der Studie besteht in einer makrosoziologischen, kausalanalytischen Erklärung, wie es zu ethnischen Säuberungen kommen kann. Gleich zu Beginn verwirft Mann zwei mögliche Erklärungen: eine individualistische und eine ebenfalls auf der Makroebene angesiedelte demokratietheoretische Erklärung. Gegen die individualistisch argumentierende Rational-Choice-Theorie wendet Mann ein, sie könne letztlich nicht erklären, wie sich individuelle Präferenzen so gewandelt haben, dass sie zu mörderischem Handeln führen. Der liberalen Theorie des demokratischen Friedens entgegnet er, dass es für die These, in Demokratien seien die Menschen friedlicher, zu viele Gegenbeispiele gebe. So verhielten sich europäische Siedler ab dem 17. Jahrhundert unter konstitutionellen Regierungen mörderischer als unter autoritären. Überhaupt gebe es einige autoritäre Staaten, die bei ihren Versuchen, ethnische Konflikte nicht eskalieren zu lassen, durchaus erfolgreich gewesen seien. Mann wiederholt hier ein Argument aus der Transitionsforschung, das besagt, dass kollektive Gewalt vor allem dort wahrscheinlicher ausbricht, wo autoritäre durch demokratische Ordnungen ersetzt werden.

Methodisch liegt der Studie zunächst ein weiter Begriff der ethnischen Säuberung zugrunde, der geeignet ist, vergleichend vorzugehen. Mann unterscheidet systematisch zwischen unterschiedlichen Formen ethnischer Säuberung, nicht ohne vorher den Begriff als solchen problematisiert zu haben. Ethnische Säuberung kann die Form institutionellen Zwanges annehmen, in der eine Gruppe eine andere diskriminiert und kulturell unterdrückt. Diese Unterdrückung kann staatlich verordnet und institutionalisiert und mehr oder weniger offen gewalttätig und mörderisch sein. Erst den uneingeschränkten und geplanten Massenmord will Mann Genozid nennen, den er vom partiellen geplanten Massenmord, dem Politizid und dem Ethnozid unterscheidet.

Diese Typisierung erlaubt Mann eine Einordnung der unterschiedlichen Fälle ethnischer Säuberung. Um die Faktoren identifizieren zu können, die ethnische Säuberungen wahrscheinlicher machen und die es bei einer Präventionsstrategie in Rechnung zu stellen gilt, formuliert Mann acht Thesen, die er dann in den unterschiedlichen Fallstudien jeweils prüft. Dabei zeigt sich, dass zum einen in unterschiedlichen Fällen verschiedene Faktoren ausschlaggebend waren und deshalb nur wenige dieser Thesen allgemein zutreffen, so dass eine allgemeine kausalanalytische Theorie ethnischer Säuberung kaum möglich ist. Zum anderen aber lässt sich sehr wohl ein Bündel von Faktoren nennen, die so etwas wie notwendige – wenn auch nicht in jedem Fall hinreichende – Bedingungen für die Eskalation ethno-politischer Konflikte in Richtung eines Genozids darstellen.

Die wohl interessanteste These von Mann lautet, dass sich ethnische Säuberungen dort entwickeln, wo Ethnizität die Klassenzugehörigkeit als wichtigstes Kriterium der sozialen Schichtung ersetzt. Die Wahrnehmung von kollektiver Benachteiligung und Unterdrückung, die für ethnische Konflikte charakteristisch ist, beruht nicht mehr auf sozialen Kategorisierungen, sondern auf einem Gefühl ethnischer Zugehörigkeit. Dort, wo andere ethnisch oder religiös definierte Gruppen für diese Situation verantwortlich gemacht werden, wächst das Potential ethnischer Säuberung. Dazukommen müssen allerdings auch territoriale Souveränitätsansprüche und reale oder imaginierte Gelegenheitsstrukturen, die zur Anwendung von kollektiver Gewalt ermutigen.

Ethnische Säuberungen stellen für Mann vor allem aus zwei Gründen die „dunkle Seite“ von Demokratien dar: Erstens fußt eine Vielzahl von Demokratien vor allem in Europa auf – etwa in den Kolonien praktizierten – ethnischen Säuberungen, die nicht immer, aber doch häufig äußerst gewalttätig verliefen. Zweitens neigen Demokratien dort zu ethnischen Säuberungen, wo der demos mit einer ethnischen Gruppe zusammenfällt und sich organische Vorstellungen von Staat und Nation durchsetzen. Allerdings stellt Mann ebenso unmissverständlich klar – wenn auch in leichtem Widerspruch zu seiner zentralen These –, dass Regime, die tatsächlich zu mörderischen Säuberungen greifen, niemals demokratisch seien, „denn so etwas wäre ein Widerspruch in sich selbst“ (S. 14).

Manns Studie überzeugt vor allem dort, wo konsequent versucht wird, eine makrosoziologische Erklärung ethno-politischer Gewalt auszubuchstabieren. Deutlich wird dabei, dass Genozide weder aus dem Nichts entstehen noch einfach auf strategisches Handeln von Individuen oder Gruppen zurückgeführt werden können. Vielmehr setzt der geplante Massenmord ein Mindestmaß an gewaltsamer Austragung ethno-politischer Konflikte bereits voraus. Genozidforschung bedarf, so ließe sich daraus schlussfolgern, einer umfassenderen Konflikt- und Gewaltforschung. Nicht nur methodisch, sondern auch politisch interessant ist zudem, dass Mann zwei kontrafaktische Fälle untersucht, in denen ethno-politische Konflikte nicht in ethnische Säuberungen mündeten (Indien und Indonesien). Von hier aus kann Mann auf wichtige Bedingungen schließen, die eine solche Eskalation verhindern (können). Genozidforschung sollte also nicht nur in Konflikt-, sondern auch in Friedensforschung eingebettet sein, die nach Voraussetzungen für Deeskalation von Konflikten fragt.3

Schwächen hat das Buch vor allem dort, wo Mann aus seinen Fallstudien Schlüsse für die politische Praxis ziehen will. Hier reichen die Schlussfolgerungen kaum über recht allgemeine Vorschläge für die Kontrolle des Waffenhandels und eine Rücknahme der imperialen Politik der Vereinigten Staaten hinaus. Interessanter wäre es an dieser Stelle gewesen, die gegenwärtigen internationalen Strategien zur Friedenskonsolidierung in Nachbürgerkriegsgesellschaften im Lichte der Ergebnisse der Fallstudien zu diskutieren. Denn hier zeigt sich ein echtes Dilemma internationaler Interventionen: Je stärker diese in ihren Wiederaufbaustrategien auf die Beteiligung aller ethnischen Gruppen setzen, desto eher werden Gefühle der Ausbeutung und Unterdrückung nicht klassenbezogen, sondern entlang ethnischer Zugehörigkeiten artikuliert. Und genau dies ist eine wichtige von Mann herausgearbeitete Voraussetzung für künftige ethnische Säuberungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Imbusch, Peter, Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005 (rezensiert von Klaus Latzel: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-169>).
2 Vgl. Mann, Michael, Geschichte der Macht, 3 Bde., Frankfurt am Main 1994.
3 Vgl. zur Diskussion um die Tragfähigkeit des Genozidbegriffes auch Kundrus, Birthe; Strotbek, Henning, „Genozid“. Grenzen und Möglichkeiten eines Forschungsbegriffs – ein Literaturbericht, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 397-423.

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