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Titel
Tourismus-Geschichte.


Autor(en)
Hachtmann, Rüdiger
Reihe
Grundkurs Neue Geschichte
Erschienen
Göttingen 2007: UTB
Anzahl Seiten
190 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerlinde Irmscher, Humboldt-Universität zu Berlin

Rüdiger Hachtmanns Tourismus-Geschichte gehört zu den ersten Bänden einer neuen Reihe der Uni-Taschenbücher, dem „Grundkurs Neue Geschichte“. Konzeptionell an „gängigen Veranstaltungsthemen der BA/MA-Studienordnungen“ orientiert, soll sie, nach Darstellung des Verlags, Studierenden einen Einstieg und problemorientierten Überblick über verschiedene Themenfelder bieten. Auf Studienzwecke zugeschnitten sind Darstellungsweise und Gestaltung mit Begriffserläuterungen, Kästen mit Definitionen, Schaubildern usw. Ein vom Autor zusammengestelltes Internetangebot informiert zusätzlich über Quellen und gibt weitere Literaturhinweise. Die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches korrespondiert mit dem Anliegen des Verlags – wer Lehrveranstaltungen zur Tourismusgeschichte machen möchte, war bisher auf sich allein gestellt und musste sich den „problemorientierten“ Überblick selbst erarbeiten.

Wie ist dem „vielschichtigen Phänomen des modernen Tourismus“ (S. 10) überhaupt beizukommen. Dieser hat historische Wurzeln, von Rüdiger Hachtmann als „Proto-Tourismus“ bezeichnet, und entfaltet sich, vorangetrieben vom Bürgertum als „Schrittmacher“, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert in verschiedenen Formen.

Begrifflich ist zu bestimmen, wie mit den verschiedenen Komposita umgegangen werden soll. Sind Massen- und Individualtourismus, Billig- und Sozialtourismus eindeutig sozialen Gruppen zuzuordnen, wie es der öffentliche Diskurs nahe legt? Massen- wie Individualtourismus als nicht sozial gebundene, sondern „relationale“ Kategorien (S. 12) aufzufassen, ermöglicht es, der elitären „Touristenschelte“ zu entgehen und aristokratische wie bürgerliche Touristen als „Massen“ zu beschreiben. Andererseits sind billige, sozial verträgliche Reiseangebote nur als Massenprodukt zu haben, während Bürgerlichkeit mit der Hochschätzung von Individualität verbunden ist. Bei Skizzierung von gesellschaftlichen Grundbedingungen, die den „modernen Tourismus“ hervorgebracht haben, wird zwischen der emanzipatorischen „bürgerlichen Gesellschaft“ und der industriegesellschaftlichen „Moderne“ unterschieden. So können die Aktivitäten der faschistischen „Opera Nazionale Dopolavoro“, von „Kraft durch Freude“ und dem FDGB-Feriendienst der DDR unter diesen Begriff subsumiert werden. Die Einleitung endet mit einer Inspektion der Tourismushistoriographie als Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, um die gern ein Bogen gemacht werde. Mit den unterschiedlichsten theoretischen Ansätzen wird um die Deutungsmacht für ein Phänomen gekämpft, dass sich als außerordentlich „verästelt und facettenreich“ erweist. Rüdiger Hachtmann mag sich deshalb konzeptionell nicht binden, bevorzugt aber eine sozialgeschichtliche Perspektive, mit der der Entwicklung des Tourismus vor allem im deutschen Raum nachgegangen werden soll. Diese resultiert aus dem Wechselverhältnis unterschiedlichster Faktoren: dem Aufkommen der Eisenbahn, der Entstehung eines Bedürfnisses nach Tourismus, der Herstellung von Freizügigkeit, dem Auseinandertreten von Arbeit und Freizeit, der Ausweitung finanzieller Möglichkeiten, der Entstehung einer touristischen Infrastruktur.

Die historische „Erzählung“ beginnt mit einem Blick auf den „Proto-Tourismus“ von der Antike bis zur Grand Tour der Adligen. Welche Parallelen gab es zum modernen Tourismus, wo trat dieser gar ein Erbe an, welche sozialen und strukturellen Konstellationen brachten Formen des „Proto-Tourismus“ hervor? Die Antike erweist sich da als besonders ertragreich, während in der Frühen Neuzeit viele Momente eher am touristischen Reisen hinderten. Dennoch waren viele Menschen unterwegs – etwa weil es der ständische Bildungskanon so verlangte. Das galt für Gesellen ebenso wie für junge Adlige. Die Walz und die Grand Tour werden als Vorläufer des modernen Tourismus dargestellt, die jedoch an Bedeutung verloren, was für eine andere Reiseform nicht in diesem Maße gilt: die Pilgerreise.

Im zweiten Kapitel wird das Bürgertum als „Schrittmacher des modernen Tourismus“ eingeführt. Hier werden dessen Wurzeln nicht nur in Reiseformen, etwa der Bildungsreise oder dem Revolutionstourismus aufgesucht, sondern auch in kulturellen Veränderungen, etwa dem gewandelten Naturverständnis. Als „Sattelzeit“ des modernen Tourismus, als Umbruchsphase, nach der der „Tourismus“ dem heutigen immer ähnlicher wurde, werden die Jahre zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts ausgemacht (S. 59-60). Allerdings hätten daran vor allem die bürgerlichen Männer partizipiert. Rüdiger Hachtmann spricht von einer „geschlechtsspezifischen Polarität“ des bürgerlichen Tourismus.

Nun ist der historische Übergang zum Massentourismus geschafft. Kommerzielle Dienstleistungsunternehmen traten in völlig neuen Dimensionen auf den Plan – Reiseveranstalter wie Thomas Cook. Dennoch blieb das Publikum vorwiegend mittelständisch. Cook konnte auf Eisenbahnen als Transportmittel zurückgreifen und schnell wurden die Transporteure zu Land und Wasser selbst zu Reiseveranstaltern. Wirtschaftliche wie touristische Modernisierung sind, so die weiterreichende These, an die Eisenbahn gebunden. Parallel zur Entstehung des Eisenbahnnetzes wurde im deutschen Sprachraum der Begriff „Tourist“ eingebürgert. See- und Heilbäder, Alpen und Mittelgebirge wurden zu touristischen Zielregionen und zugleich Austragungsorte des Ringens um soziale Distinktion, vor allem zwischen Adel und Bürgertum.

Für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts werden im folgenden Kapitel neben dem kommerziellen Tourismus zwei andere Tourismusformen eingeführt: der Sozialtourismus und der Jugendtourismus. Ausdrücklich tritt Rüdiger Hachtmann der trickle-down-Theorie entgegen, die davon ausgeht, dass sich touristische Praxen von „oben“ nach „unten“ verbreitet haben und verweist auf eigene, autonome Traditionen der Proletarier und entsprechende Institutionen wie die sozialistischen „Naturfreunde“. In anderen europäischen Ländern sei der gewerkschaftliche Sozialtourismus erfolgreich gewesen. Auch nichtsozialistische Gruppen strebten nach Reiseformen, die nicht kommerziell geprägt waren, wie sich besonders am Jugendtourismus nachweisen lässt.

Für die folgende Zeit des Nationalsozialismus wird als besonders folgenreich festgehalten, dass sich einerseits in den 1920er-Jahren der Kreis derer vergrößert hatte, die touristische „Bedürfnisse“ entwickelten, andererseits aber aufgrund von niedrigen Einkommen bzw. relativer Verarmung an eine adäquate Befriedigung dieses Bedürfnisses nicht zu denken war.

Im Kapitel über den Tourismus im Nationalsozialismus kann Rüdiger Hachtmann auf eigene Forschungsergebnisse zurückgreifen. Das gilt vor allem für die Organisation KdF, die „die politischen und ökonomischen Spezifika des Dritten Reiches auf eigene Weise“ (S. 120) widerspiegelt. Damit ist zugleich der Standort der Betrachtung bestimmt: Die touristischen Initiativen sind weder „fortschrittlich“ noch „demokratisierend“ gewesen. Propaganda und kalkulierte Inszenierungen und nicht touristische Realitäten werden für die „optische Omnipräsenz des KdF-Tourismus im deutschen Alltag“ (S. 126) verantwortlich gemacht. Einen wahren Boom verzeichnete dagegen der kommerzielle Tourismus, der bis 1941 prosperierte.

Das letzte Kapitel über den Tourismus in Ost und West nach 1945 weicht schon äußerlich von den meisten bisher üblichen Darstellungen ab, in denen eine Beschreibung der bundesrepublikanischen Verhältnisse dominierte, während die DDR nur in einer Art Nachtrag mit wenigen Worten bedacht wurde. Inhaltlich wird die DDR in zwei theoretische Kontexte gestellt, als „poststalinistischer“ Gesellschaft gehen ihr die emanzipatorischen Qualitäten der „bürgerlichen“ ab. In einen europäischen Kontext ergibt sich, dass die Deutschen in Ost und West, wenn auch auf unterschiedlichem Wege, an der dritten, dieses Mal dauerhaften Tourismuskonjunktur des 20. Jahrhunderts teilhatten. Diese Konjunktur führte, wie schon in der Überschrift angeführt, zu einem „sozialen und geographischen Dammbruch“, ohne dass Differenzierungslinien verschwunden wären, die sich im „ob“ und „wie“ des touristischen Reisens zeigten und zeigen. Bezogen auf die Weltgesellschaft konstatiert Rüdiger Hachtmann im abschließenden Ausblick, werde eher mit einer Reproduktion von Ungleichheit auf einer neuen Ebene zu rechnen sein. Insofern erweist sich der Tourismus für Vergangenheit und Gegenwart als Spiegel der „allgemeinen gesellschaftlichen, ökonomischen und infrastrukturellen Verhältnisse“ (S. 172) – von Produktionsbedingungen, technologischem Wandel, von Herrschaftsformen, zeittypischer Kultur und gesellschaftlichen Differenzierungslinien.

Das Ziel, Studierenden eine problemorientierte Einführung in die Geschichte des Tourismus zu geben, wird mit dem vorgelegten Buch zweifellos eingelöst. Die wichtigsten Themen und Perspektiven sind ausgewiesen oder ausgeführt und die Fakten so aufbereitet, dass mit ihnen gearbeitet werden kann. Etwas unklar bleibt, ob der Ansatz, die touristische Reise, entsprechend ihrer Herkunft aus dem Dunstkreis der Mußeklassen, als Reise allein „zum Vergnügen“ aufzufassen, wirklich noch wie selbstverständlich trägt, wenn auch der „Sozialtourismus“ oder die proletarischen Traditionen aufgenommen werden. Rezeptionsschwierigkeiten dürfte Studierenden die ein wenig launig formulierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Tourismus-Geschichte und möglichen theoretischen Zugängen machen. Fachkollegen können mit Recht nachfragen, ob die Erlösung aus dem Mauerblümchen-Dasein nicht vielleicht doch nur fachübergreifend zu bewerkstelligen ist, eingeschlossen eine kulturelle Perspektive, ohne die auch Rüdiger Hachtmann nicht ganz auskommt. Ein wenig hinter dem aktuellen Stand der Forschung ist die Darstellung der Geschlechterperspektive geblieben. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre geben Anlass zu der Vermutung, dass wir noch viel zu wenig über Möglichkeiten und Realität weiblichen Reisens vor allem im 19. Jahrhundert wissen. Erst dann wird zu entscheiden sein, ob das, was nicht sein sollte, auch tatsächlich nicht stattgefunden hat.

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