R. Denz: Bürgerlich, jüdisch, weiblich. Frauen im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (1918–1938)

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Titel
Bürgerlich, jüdisch, weiblich. Frauen im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (1918–1938)


Autor(en)
Denz, Rebekka
Reihe
Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne (16)
Erschienen
Berlin 2021: Neofelis Verlag
Anzahl Seiten
392 S., 4 SW-Abb.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hendrik Schemann, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Rebekka Denz reiht sich mit ihrer nun veröffentlichten Dissertationsschrift über Frauen im „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (C.V.), der mitgliederstärksten Organisation des deutschen Judentums (1893–1938), in eine Liste von Publikationen ein, die in den letzten Jahren über den Verein erschienen sind. Durch die Wiederentdeckung des Vereinsarchivs in den 1990er-Jahren wurde seit 2002 mit Avraham Barkai eine Publikationswelle angestoßen, die sich gegen die häufig zionistisch dominierte Historiographie der Nachkriegszeit stellt, und bis heute nicht abgeklungen ist.1 Denz fokussiert sich in ihrer Studie auf „Arbeitsschwerpunkte von Frauen in diesem Verein“ (S. 10), ihre Wahrnehmbarkeit und schließlich die vermittelten und gelebten Geschlechternormen in dieser gemischtgeschlechtlichen Organisation. Der Betrachtungszeitraum beginnt mit der Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts 1918 und damit dem Zeitpunkt, an dem Frauen in Deutschland die vollen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten erwarben. Er endet mit der Zwangsauflösung des Vereins nach den Novemberpogromen im Jahr 1938. Die eindrucksvolle Quellengrundlage bilden dabei zum einen die publizistischen Erzeugnisse des C.V. wie die Vereinszeitung(en), die unter verschiedenen Namen erschien(en), ihre Monatsausgaben, die Kulturzeitschrift ‚Der Morgen‘, Broschüren, Denkschriften und Bücher, die im C.V.-nahen Philo-Verlag publiziert wurden, kurzum: „das gesamte journalistische Textkorpus […], das vom Centralverein im Untersuchungseitraum direkt oder aber in dessen nahem Umfeld herausgegeben wurde.“ (S. 19). Zum anderen fanden das digitalisierte Vereinsarchiv und die ‚Blätter des Jüdischen Frauenbundes‘ Aufnahme.

Das zentrale Ordnungsprinzip der Studie ist die Kategorie des Geschlechts, weshalb zunächst Frauen im Betrachtungszeitraum in ihren beruflichen, kulturellen, sozialen und politischen Kontexten in den Blick geraten. Denz folgt damit ihrer Grundannahme „der multiplen Zugehörigkeiten oder hybriden Identitäten der Protagonistinnen“ (S. 11). Danach stehen schließlich diejenigen Frauen im Fokus, die Teil des jüdischen Bildungsbürgertums waren und zur ‚Vereinselite‘ gehörten. Eine der zentralen und konsequent verfolgten Prämissen der Studie, nämlich die „nachträgliche Konstruktion eines ‚weiblichen Kosmos‘“ (S. 13) zu vermeiden, erweist sich als gewinnbringende Perspektive. Dadurch geraten auch gemischtgeschlechtliche Vereinsfelder in den Blick. Dabei bewegt sich die Autorin auf zwei Ebenen; Einerseits „in Bezug auf die ‚weibliche Sphäre‘, also den öffentlichen Raum für und von Frauen innerhalb der Organisation“, und andererseits auf der „allgemeinen Organisationsebene“ (S. 13 f.) und der Mitwirkung von Frauen in ihr. Als zusätzliche Analysekategorien finden sich die zeitgenössischen Begriffe ‚Frauenfrage‘, ‚Frauenthemen‘ und der von Denz ergänzte ‚Frauenbezug‘.

Der Hauptteil der Studie ist in zwei Abschnitte gegliedert und verfolgt einen nicht-chronologischen Ansatz. Im ersten leuchtet Denz zunächst die Handlungsräume durch einen konzisen organisations- und ideengeschichtlichen Umriss des C.V. und anschließend durch eine geschlechterspezifische Betrachtung von Frauen im aschkenasischen Judentum in Deutschland und schließlich durch die Frauenrollen und -bilder im (jüdischen) Bürgertum aus. Im zweiten, weitaus umfangreicheren, Hauptteil rücken die „Lebenswelten und Erfahrungswelten“ (S. 65) in den Mittelpunkt der Untersuchung. In diesen vier Kapiteln des zweiten Hauptteils werden zunächst durch einen kollektivbiographischen Ansatz elf weibliche Führungspersonen der C.V.-Arbeit betrachtet. Im zweiten Kapitel werden Publikationsprofile von zehn Frauen erarbeitet, die in der C.V.-Presse tätig waren. Zu erwähnen ist dabei, dass nicht alle Vereinsmitglieder waren, wodurch es Denz gelingt, die Tätigkeit von Frauen in der Organisation von der Mitgliedschaft zu entkoppeln. Im Anschluss werden die Frauenrollen und -bilder im Pressewesen des C.V. in den Blick genommen. Hier fließen gleichermaßen Pressebeiträge von weiblichen und männlichen C.V.-Mitgliedern in die Analyse ein. In Kapitel drei folgt daraufhin ein Abschnitt über die C.V.-Frauenarbeit, der die Gründung von Frauengruppen und ihre lokalen, regionalen und reichsweiten Aktivitäten und schließlich erneut die vermittelten Frauenrollen und -bilder umfasst. Im letzten Kapitel folgt eine Betrachtung der Beziehungsgeschichte des ‚Jüdischen Frauenbundes‘ und des C.V. Denz Arbeit zeichnet sich nicht nur durch eine breite Quellenbasis aus, sondern auch durch eine umfangreiche quantitative und qualitative Analyse der C.V.-Presse und damit einer Auswahl von über 2.700 Beiträgen, deren Aufarbeitung unter dem Aspekt der Geschlechterrollen / -bilder bisher ein Desiderat in der jüdischen Geschlechterforschung darstellte. Die Autorin kommt dabei zu überzeugenden Ergebnissen und kann nachweisen, dass die ‚jüdische Frau‘ im C.V. ab den frühen 1920er-Jahren zunehmend am öffentlichen Diskurs über weibliche und männliche Geschlechterbilder partizipierte. So stießen die Frauen einerseits häufig auf Widerstände ihrer meist männlichen Vereinskollegen, wurden aber andererseits auch vielfach von diesen unterstützt, sogar zur Aktivität gedrängt. Das neue Bild als „deutsche Staatsbürgerin jüdischen Glaubens mit ihren Rechten und Pflichten“ (S. 179) kollidierte zwangsläufig mit ‚klassischen‘ Rollen, die die Frau häufig eher im privaten als im öffentlichen Raum verorteten. Denz ergründet den Facettenreichtum der verschiedenen Rollenbilder der „‘neuen (jüdischen) Frau‘“ (S. 317), die sich zunehmend im gemischtgeschlechtlichen Diskurs bemerkbar machte und dabei eine ausgesprochen aktive Position einnahm. Bemerkenswert scheinen dabei die Anforderungen, die an die (jüdische) Frau der Moderne gestellt wurden. So sollte sie einerseits als Vermittlerin im interreligiösen, aufklärerischen Dialog auftreten, zeitgleich ihre ‚Aufgaben‘ als Ehefrau, Mutter, berufstätige Frau, Erzieherin und schließlich mit Fortschreiten der NS-Zeit als „‘Hüterin der Tradition‘“ (S. 318) erfüllen. Denz zeichnet dabei durch eine umfangreiche und detaillierte Betrachtung der C.V.-Presse, der C.V.-Frauengruppen und ihrer praktischen Arbeit verschiedene Typen jüdischer Frauen nach, die sich im Spannungsfeld zwischen Tradition und (erzwungener) Moderne befanden. Folgerichtig kommt sie dabei zu dem Ergebnis, dass jüdische Frauen maßgeblichen Anteil an der allgemeinen Arbeit des C.V., der Professionalisierung des C.V.-Pressewesens, der Antisemitismusabwehr bzw. Aufklärung und schließlich ab den 1930er-Jahren zunehmend an der „jüdischen Renaissance“ (S. 197) hatten. Der C.V. selbst zeigte sich in diesen Zusammenhängen erstaunlich empfänglich für Reformen und seine Führung zeigte ein überraschendes Maß an Modernisierungswillen.

Dem Verhältnis von Zionismus und C.V.-Idee kann Denz eine neue Ebene hinzufügen, indem sie den Konflikt in der gesinnungsbasierten Abwehrarbeit des C.V. und der in den Vereinsstatuten des ‚Jüdischen Frauenbundes‘ festgelegten „Wahrung strengster Neutralität“ (S. 295) ausführlich darstellt und damit die Aushandlung der Abwehrfrage zwischen zionistischen und C.V.-Frauen sichtbar macht. Die C.V.-Frauengruppen traten dem Frauenbund korporativ bei und waren in diesem Milieu mit zionistischen Frauen konfrontiert, die eine Beteiligung an der Abwehrarbeit des Frauenbundes forderten. Dabei kommt Denz zu dem Ergebnis, dass trotz aller Kritik an zionistischen Positionen keineswegs „die C.V.-Idee zwangsläufig Antizionismus zur Konsequenz gehabt hätte oder hätte haben müssen“ (S. 206).

Zu kritisieren ist der Abschnitt des Fazits, in dem Frauen in der deutsch-zionistischen Bewegung und im Centralverein anhand der Studie von Tamara Or verglichen werden.2 Auch wenn die Ergebnisse überzeugend sind und bspw. Phänomene wie die verzögerte Übernahme von Führungspositionen als „Beispiele für einen nur langsam einsetzenden Normen- und Rollenwandel“ (S. 310) klassifizieren, kann jedoch gefragt werden, ob dieser Abgleich in der Ausführlichkeit notwendig gewesen wäre, zumal der Hauptteil der Studie überzeugend ist und zionistische Frauen verhältnismäßig nur geringen Raum einnehmen. Auch wäre es denkbar gewesen, im Hauptteil die Lehrpläne und die Arbeit der nicht-zionistischen Auswanderungsschule des C.V. ‚Groß-Breesen‘ unter geschlechterspezifischen Aspekten zu analysieren, da dort eine deutliche Differenzierung zwischen Mädchen und Jungen vorgenommen wurde, die letztlich von ihrer Groß-Breesener Erziehung geprägt im Exil zu jüdischen Frauen und Männern heranwachsen sollten. Diese Kritikpunkte schmälern jedoch nicht den überaus positiven Gesamteindruck der Studie, die sich durch klare Definitionen, Transparenz, einen umfangreichen Quellenkorpus, ein hohes Maß an Akribie, Innovation und Anschlussfähigkeit auszeichnet. Der letzte Aspekt kommt nicht zuletzt durch den umfangreichen Anhang zu Stande, der neben Index und biographischer Synopse auch viel statistisches Material liefert. Durch ihre Studie füllt Denz große Freistellen in der Forschung über das deutsche Judentum, der (jüdischen) Geschlechtergeschichte und der Historiographie über den C.V. Schließlich regt die Studie aber auch zu weiteren Fragen über die Organisation an, die auf das Verhältnis von erzwungener und freiwilliger Modernisierung des C.V. und des Judentums in Deutschland abzielen.

Anmerkungen:
1 Für eine weitgehend vollständige Publikationsliste siehe die Bibliographie auf der Forschungsplattform ‚Centralverein.net‘: <https://centralverein.net/ressourcen/bibliographie/> (17.08.2021).
2 Tamara Or, Vorkämpferinnen des Zionismus: Die deutsch-zionistischen Frauenorganisationen (1897–1938), Frankfurt am Main 2009.

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