Manchmal scheint es, dass die Quelle selbst ihre Studie findet. Dies ist bei dem in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten Verzeichnis der Haushaltsvorstände des Wiener Widmerviertels aus dem Jahr 1448 der Fall. Über die Analyse dieser Quelle entwickelt Thomas Ertl ein Bündel an Fragestellungen rund um die Wohnverhältnisse und die Sozialtopografie von Wien. Dabei berücksichtigt er routiniert die bisherige deutschsprachige Geschichtsschreibung, fokussiert sich aber nicht auf eine spezifische These. Vielmehr schöpft er das Erkenntnispotential des Verzeichnisses von 1448 aus, um ein Panorama des spätmittelalterlichen Wiens als sozialem Raum zu schreiben. Die ersten Kapitel widmen sich der Quellenkritik des Verzeichnisses (S. 16–44), dann folgen demografische Auswertungen (S. 44–78), eine sozialräumliche Beschreibung des Widmerviertels (S. 79–101), eine Untersuchung der sozialen und beruflichen Topografie des Viertels (S. 102–127), Überlegungen zur sozialen und wirtschaftlichen Stellung der Frauen (S. 128–139) und schließlich ein Kapitel über die „Wohnverhältnisse im Widmerviertel und darüber hinaus“ (S. 140–175). Dieser wesentliche Beitrag zur lokalen Stadtgeschichte bringt durch eine Fülle von Ergebnissen – etwa zur Steuerverwaltung, zu Mietverhältnissen oder zur Vorstadt – die allgemeine Städteforschung weiter.
Die Feuerstättenliste des Widmerviertels von 1448, die in tabellarischer Form ediert wird (S. 182-213), enthält keine Schätzung, ist also kein Schatzsteuerverzeichnis, diente aber wahrscheinlich der Stadtverwaltung als Vorlage für die Besteuerung von regelmäßigen und außerordentlichen Vermögenssteuern. Sie erfasst nur eines der vier Stadtviertel und ist unvollständig, da zwei Doppelblätter in der Mitte des Heftes verloren gegangen sind. Für die Innenstadt ist somit nur die Hälfte der Häuser überliefert (S. 18, 73). Ertl weiß sich aber mit einem breiten Spektrum von weiteren Quellen zu helfen: Grundbüchern für Immobilientransaktionen, Privatverträgen und Testamenten aus den Stadtbüchern, städtischen Rechnungsbüchern, archäologischen Ausgrabungen und dem Steueranschlag von 1526 als Vergleichswert.
Bezüglich der Mietsverhältnisse ist die Studie besonders gewinnbringend. Ertl kann die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen Bürgern als Hauseigentümern und Inwohnern als Mietern ohne Bürgerrecht differenzieren. Die Stadtverwaltung nahm wahrscheinlich bewusst die Verwischung der Begrifflichkeit im Kauf, um eine flexible Steuer- und Einbürgerungspolitik zu erlangen. Die Feuerstättenliste kennzeichnet gleichermaßen Hausbesitzer und Inwohner, die fast zahlgleich erscheinen. Im Stadtzentrum stellten die Inwohner sogar zwei Drittel der Namen (S. 54), in der Vorstadt dafür nur ein Drittel (S. 44). Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Ertl auch die kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen im Besitz von Häusern sowie die Besitzer von mehreren Häusern mehrfach dazu zählt. Im Verzeichnis werden die im eigenen Haus wohnenden Hausbesitzer mit dem Zusatz per se gekennzeichnet; wenn dieser Zusatz fehlt, erhält der erste erwähnte Mieter in der Regel den Zusatz hof, was wahrscheinlich bedeutet, dass er der Hauptmieter für das ganze Haus und nicht nur für eine Etage oder ein Hausanteil war, was im Umkehrschluss das Wohnen des Hausbesitzers im vermieteten Haus ausschließt. Wenn ich all diese Hausbesitzer zusammenrechne, die vermutlich nicht im Haus wohnten (39 für die Innenstadt, 55 für die Vorstadt), komme ich zu einem Verhältnis von 73 Prozent Inwohnern zu 27 Prozent Hausbesitzern in der Innenstadt und von 39 Prozent unbehausten zu 61 Prozent behausten Haushalten in der Vorstadt. Diese hier von mir vorgenommene Neuberechnung bekräftigt nur Ertls Aufwertung des Mietsverhältnisses in Wien und im spätmittelalterlichen Kontext insgesamt.
Thomas Ertl bewertet ebenfalls die Vielfalt der Wohnverhältnisse. In der Innenstadt hatten die Häuser im Schnitt 1,87 Inwohner, in der Vorstadt nur 0,51. Die Mehrheit der Häuser mit Inwohnern beherbergte in der Vorstadt nur eine Inwohnerfamilie, in der Innenstadt hingegen mehr als zwei (S. 62). Der Rekord waren 16 Inwohner. Inwohner konnten Mieter und sogar Untermieter (S. 164) sein, aber auch Diener, Angestellte, minderjährige Kinder im Haus des Vormundes oder Personen mit testamentarisch geregelten Nutzungsrechten an einem Hausteil (S. 48).
Gerade die Untersuchungen zur Aufteilung eines Hauses im Sinne des Nutzungsrechtes oder gar des Besitzes gehören zu den interessantesten Seiten des Buches. Testamente erwähnen häufig die gleichmäßige Aufteilung eines Hauses unter zwei oder mehreren Erben, ohne jedoch die Details preiszugeben (S. 145, S. 159). Erben konnten ihren Hausteil frei verkaufen, so dass unterschiedliche Familien und Haushalte sich einen Hausbesitz teilen konnten. Rund 213 der 2047 in den Grundbüchern eingetragenen Immobilientransaktionen zwischen 1438 und 1448 betrafen Hausanteile, was Ertl als hohen Anteil bewertet (S. 160). Der Begriff des Stockwerkeigentums sei allerdings irreführend, da meist Räume in verschiedenen Stockwerken sowie Nutzungsrechte von gemeinsamen Räumen (Küche, Stube, Hof, Latrine, Brunnen…) zu einem Hausanteil gehörten. Die Erbteilung des Hauses am Graben 26 unter drei Schwestern im Jahr 1414 veranschaulicht eindrucksvoll diese Teilungspraxis (S. 145f.).
Gerade im Stadtzentrum hatten viele Häuser Anbauten und Gewerberäume, die separat vermietet oder verkauft werden konnten. Wohnen, Erwerb und Arbeit war nicht immer räumlich vereint (S. 153). All diese Aspekte tragen erfolgreich und in mehreren Hinsichten zu einer Revision der Idee des „ganzen Hauses“ bei, die die ältere Forschung dominierte: „In der neueren Forschung hat sich jedoch gezeigt, dass die Vorstellung von einer vormodernen häuslichen Wohn-, Arbeits- und Konsumationseinheit von Familien, Gesinde und Gesellen unter der Herrschaft eines Hausvaters die städtischen Verhältnisse im späten Mittelalter nur bedingt abbildet“ (S. 49).
Was die Sozialtopografie des Widmerviertels betrifft, sind die Ergebnisse weniger ergiebig. Der Verfasser zeichnet ein etwas unbefriedigendes berufstopographisches Tableau des Viertels anhand der Berufsangaben der Feuerstättenliste, die für ein Drittel der Namen vorhanden sind. Ungeachtet der differenzierten Forschungsdebatte nimmt er für Wien und die spätmittelalterlichen Städte eine „räumliche Konzentration der Berufsgruppen“ (S. 112) an, ohne diese für Wien gründlich belegen zu können. Die Beispiele von Mietern eines selben Hauses, die im selben Wirtschaftsbereich arbeiteten, sind interessant, aber eher anekdotisch, und die Wohnhäuser der Gewerbetreibenden werden nicht genau kartiert. In der Vorstadt dominierten die Weinbergarbeiter (Hauer). Entgegen der Annahme der älteren Literatur ist das Hofgesinde kaum nachweisbar.
Die Liste von 1448 nennt 49 Witwen, was 6 Prozent der Namen umfasst (S. 130), ein eher ungewöhnlich niedriger Anteil. Das Verhältnis zwischen unbehausten und behausten Witwen entspricht dafür demjenigen der allgemeinen Bevölkerung, auch wenn der Anteil der behausten Witwen in der Vorstadt überdurchschnittlich hoch war (S. 133). Witwen standen also nicht schlechter da als die übrigen männlichen Haushaltsvorstände. Frauen trugen in der Regel den Namen des Vaters oder Ehemannes, aber Abweichungen von diesem Schema in Testamenten und Verträgen zeigen besonders unabhängige Frauen. Ob diese Einzelbeispiele ausreichen, um die These einer besseren Entfaltungsmöglichkeit für Frauen in spätmittelalterlichen Städten als in ländlichen und adeligen Familien zu belegen (S. 139), darf diskutiert werden, denn dafür fehlen eine repräsentative Quellenlage und eine zuverlässige Vergleichsgröße.
Ertls insgesamt erfrischende und dichte Studie schwankt zwischen enzyklopädischer Darstellung und problemorientierter Quellenanalyse. Viele Themen werden mitberücksichtigt, selbst wenn die Hauptquellen nicht viel hergeben, etwa bei der Auflistung der Haustypen in Wien im letzten Kapitel. Dieser panoramaartigen Darstellung fehlt es teilweise an Fokus und der Forschungsstand wird an mancher Stelle zwangsläufig verkürzt, etwa wenn die spätmittelalterliche Stadt pauschal als öffentlicher Raum dargestellt wird, der „geprägt war von Gestank, Lärm und Unrat“ (S. 140). Dennoch ist das Buch mit großem Gewinn zu lesen und bietet gerade Studierenden eine gelungene Hinführung in die Thematik. Das Schönste ist aber, dass das Buch erst den Anfang darstellt, da Thomas Ertl ein DFG-Projekt zur digitalen Erfassung der Wiener Grundbücher begonnen hat1, was eine methodische Fokussierung und spannende Ergebnisse verspricht. Zudem stellt Ertl auf der letzten Seite des Buches (S. 182) eine interdisziplinäre und vergleichende Perspektive in Aussicht.
Anmerkung:
1 Zum DFG-Projekt "Mapping Medieval Vienna. Wiens Sozialtopographie im 15. Jahrhundert" vgl. <https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/460256739> (14.12.2021).