Christian Wachter beschäftigt sich in seiner nun als Buch vorliegenden Göttinger Dissertation mit digitalen Hypertexten als Vermittlungs- und Wissenskonstruktionsformen in den Geschichtswissenschaften. Ausgehend von der, wie der Autor es selbst einschätzt, nicht neuen, aber grundlegenden Feststellung, dass „Wissen […] nicht anders als mit Medien vermittelt werden“ kann (S. 17), widmet er sich in „Geschichte digital schreiben“ einem ganzen Komplex an Themen, die sich unter der Frage subsumieren lassen, wie die Bedeutung von Medien für die „Evokation und Vermittlung von Erkenntnis“ in der Historiografie genauer einzuschätzen sei (S. 17). Als Untersuchungsfeld dienen digitale Hypertextstrukturen als non-lineare, nicht-materielle Formen der Geschichtsschreibung, womit klassische Sender-Empfänger- bzw. Broadcast-Modelle aus den Kommunikationswissenschaften grundsätzlich hinterfragt werden. Ausgehend von einer Untersuchung, wie sich Hypertexte als Publikationsmedium nutzen lassen, um eine „Historiografie jenseits linear gedachter Geschichte(n)“ (S. 23) zu betreiben, geht es Wachter dabei nicht um eine Ersetzung traditioneller linearer Geschichtsschreibung im Allgemeinen, sondern um eine Erweiterung derselben im Rahmen historischer Projekte.1
Die Untersuchung ist in ein transdisziplinäres Reflexionsfeld eingebettet, in dem der Autor versucht, einen bislang vorhandenen „blinden Fleck“ mithilfe der Fokussierung auf Hypertexte zu erhellen, nämlich die Frage, in welchem Medium welche Erkenntnis formuliert wird bzw. werden kann. Der Theorierahmen besteht deswegen aus einem Komplex von wissenschaftstheoretischen, historiografischen Zugängen, insbesondere verbunden mit Theorien aus der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Daneben kommen auch Überlegungen aus der Erzähltheorie, der Literaturwissenschaft, der Informatik und nicht zuletzt der Medienästhetik zur Diskussion. Der Forschungsgegenstand wird insofern, das impliziert schon der Perspektiven- und Methodenmix, interdisziplinär untersucht. Wachter setzt damit Hypertext-Studien fort, die hauptsächlich in den 1980er-, mehr noch in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren ihren Boom hatten, seitdem aber einerseits auf neue theoretische Grundlagen jenseits der Geschichtswissenschaften gestellt und andererseits in weiteren Disziplinen verfeinert worden sind. Als Referenzpublikation dient dem Autor die 2007 vom Wiener Historiker Jakob Krameritsch publizierte Dissertation „Geschichte(n) im Netzwerk“2, wobei sich Wachter, das sei kritisch angemerkt, allzu detailliert mit den Unterschieden beschäftigt, die seine Publikation von jener älteren unterscheidet. Allein das Fehlen einschlägiger historiografischer Werke seitdem und auch die technischen Neuentwicklungen rechtfertigen eine solche Untersuchung des Gegenstandes ohne Zweifel.
In sieben Hauptkapiteln (plus Einleitung, Fazit und Ausblick) diskutiert Wachter, manchmal etwas ausschweifend bzw. repetitiv, den epistemologischen und medientheoretischen Kontext seiner Arbeit, erklärt im Detail die Gründe für die Analyse von digitalen Hypertexten, erörtert ausführlich das Verhältnis zwischen Hypertext und traditionelleren historiografischen Textformen und erklärt schließlich, welche Konsequenzen sich aus dieser Untersuchung ergeben. Der Autor argumentiert dabei umfassend, dass digitale Hypertexte die lineare Geschichtserzählung zwar nicht ersetzen, aber das Erzählrepertoire – abhängig vom jeweiligen Vorhaben der Forschenden – konstruktiv erweitern können. Konkret bedeutet dies, im Gegensatz zu den Ausführungen von Krameritsch, der eine postmoderne, netzwerkartige Wissensrepräsentation in den Geschichtswissenschaften forderte, ein Plädoyer für eine „visualisierte Multilinearität“ (S. 214), die strukturierte Hypertexte verlangt und auf ein individuelles Knowledge Design setzt. Die Bestandsaufnahme wird dann durch Überlegungen zu den Konsequenzen für die Sprachlogiken hypertextueller Geschichte(n)erzählung ergänzt. Wachter kommt zum Ergebnis, dass sich in diesen narrativen Formen besonders deutlich zeige, wie wichtig eine angemessene Auswahl und Reflexion von multimodalen Darstellungsweisen sei.
Anhand mehrerer Beispiele dekliniert der Autor schließlich seine theoretischen Überlegungen durch, wobei er zwischen Online-Sammlungen bzw. virtuellen Ausstellungen und „multilineare[r] Historiografie“ (S. 274) unterscheidet. Letztere entspricht am ehesten dem, was Wachter als Vorteil hypertextueller Narrative einstuft, wobei es ihm offensichtlich die multimodale Publikationsplattform „Scalar“ besonders angetan hat, ein von der Andrew W. Mellon Foundation und dem National Endowment for the Humanities in den USA gefördertes Werkzeug.3 Die mit diesem Open-Source-Schreib- und Publikationssystem erstellten digitalen Veröffentlichungen erfüllen die Anforderungen multilinearer Gestaltung von Geschichte(n), weil mehrere nachverfolgbare, multimodale Plots angelegt werden können, denen der Autor den Mehrwert dieser Form der Narration und somit großes Potential für die Erkenntnisvermittlung zuschreibt. Als konkrete Projekte erläutert er – recht knapp – eine Web-Darstellung zu „Visuality and Countervisuality 1954–2011“4 sowie eine Präsentation zur Geschichte der Ungleichheit in den USA.5
Für die Vermittlung von Geschichte(n) ergeben sich daraus mehrere Konsequenzen, wobei Wachter klarstellt, dass es sich um nicht mehr als Plädoyers handelt, weil schwer vorhersehbar sei, inwieweit sich hypertextuelle Historiografie in den historischen Disziplinen durchsetzen könne. Er spricht sich daher dezidiert für die Anerkennung dieser Form der Geschichtsdarstellung als sinnvolle Ergänzung zu den klassischeren Publikationsformen aus. Als besonders wirkmächtig stuft er die Visualisierungsmöglichkeiten in solchen digitalen Narrationen ein, die jene einer traditionellen Publikation schon jetzt übersteigen und wo künftig noch zahlreiche Entwicklungen zu erwarten sind. Der Autor merkt jedoch auch an, dass aufwendig gestaltete Hypertextnarrative „sehr viel Zeit und Geld“ verschlingen (S. 318). Außerdem kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder bei Produzent:innen / Autor:innen noch bei Rezipient:innen diese Form der Geschichtsschreibung als klassische Kulturtechnik angesehen werden, weshalb darüber hinaus noch die Vermittlung und Aneignung einer gewissen Medienkompetenz vonnöten ist. Damit nennt der Autor wohl die Kernprobleme seiner eigenen Plädoyers: So wünschenswert multimediale, multimodale, visualisierungsgesättigte Narrative in den Geschichtswissenschaften auch sein mögen – die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahrzehnte sowie die derzeitige Forschungspraxis sprechen mit wenigen Ausnahmen gegen den dafür nötigen Aufwand. Hinzu kommt, und das ist ein Aspekt, der bei Wachter vielleicht etwas unterbelichtet bleibt, dass derartige Geschichtserzählungen in der Produktion und der Rezeption Datenbanklogiken folgen. Die Surfenden solcher Geschichte(n) müssen daher schon einmal auf den Serependipitätseffekt hoffen, um für sie nützliche oder wichtige Informationen zu finden. Das historische Lernen ist dabei mitunter ebenso vom Zufall getrieben.
Christian Wachters „Geschichte digital schreiben“ ist keine Publikation für die breite Masse, zumal sich der Autor sehr präzise und ausführlich mit zahlreichen geschichts- und kommunikationswissenschaftlichen, informationstechnischen, philosophischen und nicht zuletzt linguistischen Theorien auseinandersetzt. Für all jene in den historischen Disziplinen, die sich für neue Formen der Geschichte(n)erzählung und -vermittlung interessieren, bietet der Band jedoch reichen Stoff zum Nachdenken, Nachrecherchieren und Ausprobieren anhand der vorgestellten Best-Practice-Beispiele. Die von Krameritsch stammenden Impulse sind in diesem Werk konsequent weitergedacht, und es gelingt Wachter überzeugend, die Nützlichkeit und Durchführbarkeit digitaler Hypertextprojekte als Ergänzung zur traditionellen Historiografie zu positionieren. Lohnend wäre es, mit dem hier vorgestellten Zugang auch Beispiele jenseits der E-Publikation zu untersuchen, etwa aus der Blogosphäre oder aus Social-Media-Plattformen, denn diese bedürfen mittlerweile ebenfalls einer strukturierten Untersuchung und einer Einordnung als alternative Formen der Geschichte(n)erzählung.
Anmerkungen:
1 Als frei zugängliche Kurzfassung einiger Hauptargumente, ausgezeichnet mit dem Essaypreis von „WerkstattGeschichte“, siehe Christian Wachter, Hypertext. Ein logisches Revival für das Erzählen von Geschichte, in: WerkstattGeschichte 84 (2021), S. 113-122, https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2021/09/WG84_113-122_Wachter_Hypertext.pdf (17.03.2022).
2 Jakob Krameritsch, Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung, Münster 2007; rezensiert von Fabio Crivellari, in: H-Soz-Kult, 04.03.2008, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-10878 (17.03.2022). Siehe auch Jakob Krameritsch, Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2009), S. 413-432, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2009/4566 (17.03.2022).
3https://scalar.me/anvc/scalar/ (17.03.2022). Das außerdem vorgestellte Projekt „The Differences Slavery Made: A Close Analysis of Two American Communities“ (http://www2.vcdh.virginia.edu/AHR/, 17.03.2022) ist ein wissenschaftlicher Artikel von William G. Thomas III und Edward L. Ayers aus dem Jahr 2003, bei dem die Autoren versuchten, mehrere Leseebenen durch das Material – Text, GIS-Karten, Bibliografie – zu gestalten. Aus heutiger Sicht erscheint die Publikation natürlich technisch überholt.
4https://scalar.usc.edu/nehvectors/mirzoeff/We-Are-All-Children-of-Algeria (17.03.2022). Diese Darstellung von 2012, die inzwischen technisch auch schon etwas überholt wirkt, ist eine Art multimediale Erweiterung eines konventionellen Buches: https://www.dukeupress.edu/the-right-to-look (17.03.2022).
5https://scalar.usc.edu/works/growing-apart-a-political-history-of-american-inequality/index (17.03.2022). Diese Präsentation, zuletzt aktualisiert im April 2020, macht in technischer Hinsicht einen geringfügig zeitgemäßeren Eindruck, aber es stellt sich generell die Frage, wie mit dem äußerst raschen Wandel in der medialen Aufbereitung solcher Angebote sinnvoll umzugehen ist. Zudem muss angesichts der zahlreichen Projekte in „Scalar“, die keine klassischen E-Publikationen darstellen, die in Wachters Buch getroffene Auswahl kritisch hinterfragt werden.