Titel
Angleterre - États-Unis. L'Europe en jeu?


Autor(en)
Mathiex, Jean
Erschienen
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Schnakenberg

Ist der Ärmelkanal breiter als der Atlantik? Zieht es Großbritannien eher in Richtung Amerika oder in Richtung Europa? Wie gestaltet sich das britisch-amerikanische Verhältnis heute, wie entwickelte es sich in den letzten 230 Jahren? Diese derzeit oft diskutierten Fragen sucht Jean Mathiex, „professeur agrégé“ und langjähriger Dozent am „Institut d’études politiques“ in Paris, in seiner Schrift „Angleterre-Etats-Unis. Europe en jeu?“ durch eine historische Betrachtung des britisch-amerikanischen Verhältnisses zu beantworten.

Anerkennung findet zunächst einmal der Mut, die Geschichte der viel beschworenen „special relationship“ zwischen Großbritannien und den USA auf knapp 220 Textseiten abzuhandeln, vor allem, wenn man en passant noch eine Bilanz der „bewegten Geschichte des europäischen Kontinents, dessen imperialistischer Abenteuer und der Expansion des Kapitalismus“ (Klappentext) zu ziehen beabsichtigt. Untersuchungen der anglo-amerikanischen Sonderbeziehungen liegen heute in großer Zahl vor. Nachdem Winston Churchill mit seiner vierbändigen und ab 1956 erscheinenden „History of the English-Speaking People“ den wohl bekanntesten Versuch unternahm, britische und amerikanischen Geschichte integrativ zu behandeln1, wurde die „special relationship“ in den folgenden Dekaden immer wieder in regelmäßigen Abständen sowohl von britischen als auch von amerikanischen Autoren untersucht.2 In den letzten Jahren, nach Fall des Eisernen Vorhangs und nach den substantiellen Fortschritten in Ausbau und Erweiterung der Europäischen Union, welche eine Neudefinition der transatlantischen Beziehungen nach sich zogen, sind innerhalb kurzer Zeit gleich mehrere anspruchsvolle Monografien zum Themenkomplex erschienen.3

„Angleterre-Etats-Unis“ unterscheidet sich von diesen thematisch ähnlichen Werken zunächst einmal dadurch, dass sein Autor Franzose ist. Mathiex ist Bürger eines Landes, das immer in äußerst ambivalentem Verhältnis zu den beiden großen angelsächsischen Mächten stand: Frankreich hatte gemeinsam mit den 13 nordamerikanischen Kolonien gegen England gekämpft (wobei Mathiex keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass der Sieg über die Metropole allein den Franzosen zuzuschreiben ist), dann in den europäischen Revolutionskriegen vergeblich auf amerikanische Unterstützung gehofft, später auf Seiten Großbritanniens und der USA zwei Weltkriege gefochten und gewonnen. Mit Großbritannien, den „rosbifs“, andererseits, verband Frankreich immer eine ganz besondere Freund-Feind-Beziehung. Vor diesem Hintergrund verspricht „Angleterre-Etats-Unis“ eine interessante Lektüre und einen anregenden Perspektivwechsel.

Mathiex teilt sein Buch in insgesamt sechs Kapitel ein. Das erste behandelt die gemeinsame Geschichte der amerikanischen Kolonien und des englischen Mutterlandes bis 1783; das zweite die Anfänge der zwischenstaatlichen Beziehungen beider Länder bis 1815; daran anschließend deckt das dritte Kapitel die nächsten einhundert Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges ab. Kapitel vier beginnt somit 1914 und endet mit der Entstehung der neuen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Kapitel fünf schließlich untersucht die Zeit zwischen der Suez-Krise 1956 und dem Falkland-Krieg 1982, bevor Mathiex im Schlusskapitel seine Ergebnisse zusammenfasst und eine Prognose zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen gibt.

Mathiex beginnt seine Ausführungen demnach mit dem ersten erfolgreichen Dekolonisationskrieg der Neuzeit, dem amerikanischen Unabhängigkeitskampf. Dabei nimmt die Darstellung der militärischen Strategien und Konfrontationen viel – zu viel – Raum ein. Eine Auseinandersetzung mit den politischen Vorstellungen der Kolonisten einerseits und denen der Engländer andererseits sowie mit soziokulturellen und ökonomischen Gemeinsamkeiten und Gegensätzen wäre hier sinnvoller gewesen. Anschließend an den Unabhängigkeitskrieg und die Gründung der USA wendet sich der Autor den folgenden rund dreißig Jahren zu. Einen Schwerpunkt setzt er auf die Neuordnung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern nach dem Frieden von Paris 1783, jener Ära, die Bradford Perkins als „First Rapprochement“ bezeichnet hat.4

Erst nach rund 70 Seiten gelangt Mathiex in Kapitel drei zu den einhundert Jahren zwischen dem Ende der Napoleonischen Herrschaft in Europa und dem Jahr 1914. Als großes Manko stellt sich hier (wie auch in der Folge) heraus, dass er die britisch-amerikanische Geschichte oft nicht wirklich integrativ, sondern eher getrennt voneinander abhandelt. Viele für die Beziehungen beider Länder zentrale Ereignisse, etwa die Auseinandersetzungen um die Festlegung der amerikanisch-kanadischen Grenze, die Diskussionen um einen Kanal zwischen Atlantik und Pazifik, die Konfrontationen während des amerikanischen Bürgerkrieges oder die Streitereien im Zuge der imperialen Expansion der USA werden bestenfalls am Rande berührt. Und während Mathiex die engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern scheinbar als „quantité negligeable“ betrachtet, reißt er die ausgeprägten kulturellen Gemeinsamkeiten sowie die zum Teil engen familiären Verbindungen innerhalb der anglo-amerikanischen Eliten (etwa Heiraten zwischen amerikanischem Geldadel und englischer Aristokratie) wenn überhaupt nur äußerst knapp an.

Nachdem die Vereinigten Staaten mit Eintritt in das neue Jahrhundert zur unbestritten stärksten Industriemacht der Welt herangewachsen waren und mit ihrem Kriegseintritt 1917 auch den Ausgang des Ersten Weltkrieges entschieden hatten, wurde der Rollentausch zwischen Großbritannien und seinem „Ableger“ auch für den weniger aufmerksamen Beobachter offensichtlich. Diese Neuordnung des Verhältnisses zwischen den beiden Staaten bestätigte sich dann während des Zweiten Weltkrieges. In diesem Zusammenhang hebt Mathiex in Kapitel vier zu recht das Treffen zwischen Churchill und Roosevelt auf dem Schlachtschiff „Augusta“ am 14. August 1941 als Höhepunkt anglo-amerikanischer Zusammenarbeit hervor (S. 155f.): Die dort aus der Taufe gehobene Atlantik-Charta vereint die britischen und amerikanischen Vorstellungen von einer Nachkriegsordnung, viele Punkte wurden später in die Charta der Vereinten Nationen übernommen. Im Anschluss an eine diesmal knapp gefasste Nachzeichnung des Kriegsverlaufs, die Institutionalisierung des britisch-amerikanischen Bündnisses durch Außenminister Ernest Bevin, den Kalten Krieg und die Etablierung der NATO, konzentriert sich der Autor auf die Suez-Krise (S. 165ff.), die Großbritannien endgültig die Abhängigkeit vom Verbündeten USA deutlich machte.

Im fünften Kapitel, das bis zum Falklandkrieg 1982 reicht, vermissen kundige Leserinnen und Leser Ausführungen zu den britisch-amerikanischen Spannungen über die US-Pläne in Bezug auf eine integrierte nukleare Verteidigungskapazität der Westmächte oder auch über einen möglichen britischen Beitrag zum Vietnam-Krieg. Ferner verwundert nicht nur, dass das Buch bereits mit dem Jahr 1982 endet, sondern es ist auch mehr als fraglich, ob der Falklandkrieg tatsächlich als Symbol einer vorsichtigen Abkoppelung des Juniorpartners Großbritanniens von den übermächtigen USA interpretiert werden kann (S. 193). Schließlich hat gerade das besondere persönliche Verhältnis zwischen Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den Folgejahren nicht unerheblich dazu beigetragen, dass die „special relationship“ mit neuem Leben gefüllt wurde. Dies gilt hinsichtlich sich nun wieder deutlicher herausstellender Gemeinsamkeiten im Bereich der Wirtschaftspolitik (Schlagworte „Thatcherism“ und „Reaganomics“) sowie einer wieder engeren außenpolitischen und militärischen Kooperation, auch wenn sich britische und amerikanische Interessen nicht immer völlig deckten. Die besondere Qualität der „special relationship“, die sich immer wieder durch enge außenpolitische Absprachen und das Vorhandensein bzw. die Wahrnehmung gemeinsamer Gegner auszeichnete, zeigte sich noch einmal besonders deutlich bei der Bombardierung Libyens 1986 und während des Golfkrieges 1991. Dass sowohl Reagan als auch Thatcher inzwischen durch Nachfolger abgelöst waren, spielte bei der unverändert engen diplomatischen und militärischen Kooperation auch nach dem Untergang des Kommunismus keine Rolle.

Am Ende seines Buches kehrt Mathiex zur Ausgangsfrage nach dem tatsächlichen Ausmaß von Ärmelkanal und Atlantik zurück und wendet sich damit erstmals dem Untertitel seines Buches, „Europe en jeux?“, zu. Bedauerlicherweise bleibt er dem Leser jedoch jedwede Aussage bezüglich des heutigen Standes des britisch-amerikanischen bzw. des britisch-europäischen Verhältnisses schuldig. Stattdessen folgen lange Zitate aus Emmanuel Todds weltfremder Polemik „Weltmacht USA: Ein Nachruf“ (198ff.).5 Zugegeben, auf der Basis des bisher Dargestellten eine Bilanz zu ziehen und einen fundierten Ausblick zu geben, ist nicht leicht. Dies mag unter anderem an dem Fokus des Buches auf die politische Geschichte liegen. Aber während kulturelle, ideelle und wirtschaftliche Gemeinsamkeiten zuwenig deutlich gemacht werden, sind des Verfassers Ausführungen an anderer Stelle oft weitschweifig. Eklatant ist, dass der Autor Werke englischsprachiger Autoren in der Regel nur dann herangezogen hat, wenn diese in französischer Übersetzung vorliegen und somit der aktuelle Forschungsstand nicht zur Kenntnis genommen wird. So kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Buch überhastet zusammengeschrieben wurde, um rasch auf den Zug der einträglichen Literatur zum Irakkrieg und zur „hyperpuissance Amérique“ aufzuspringen. Darauf deuten auch die groben Nachlässigkeiten bei den Annotationen hin. In dieser Form kann der Text keinerlei substantielle Erklärung für das koordinierte Vorgehen von Briten und Amerikanern im Nahen Osten oder für die transatlantischen Verstimmungen geben. Dem eigenen Anspruch, den britisch-amerikanischen Sonderbeziehungen auf den Grund zu gehen und „nombre d’idée recues et d’interprétations hâtives“ zu zerstreuen (Klappentext), wurde Mathiex mit Angleterre-Etats-Unis nicht gerecht.

1 Churchill, Winston, A History of the English-Speaking People, London 2002 (Erstdruck 1956).
2 MacDonald, I. S., Anglo-American Relations since the Second World War, Newton Abbot 1974; Nicholas, H. G., The United States and Britain, Chicago 1975; Grayling, C., Just Another Star? Anglo-American Relations since 1945, London 1988. Zur schnellen Übersicht vgl.: Lincove, D. A., The Anglo-American Relationship: An Annotated Bibliography of Scholarship, 1945-1985, Westport 1988.
3 Bartlett, Christopher J., „The Special Relationship”: A Political History of Anglo-American Relations Since 1945, Harlow 1992; Dobson Alan P., The Politics of the Anglo-American Economic Special Relationship, 1940-1987, Brighton 1988; ders., Anglo-American Relations in the Twentieth Century: Of Friendship, Conflict and the Rise and Decline of Superpowers, London 1995; Ritchie Ovendale, Anglo-American Relations in the Twentieth Century, Basingstoke 1998.
4 Perkins, Bradford, The First Rapprochement. England and the United States, 1795-1805, Philadelphia 1955.
5 Todd, Emmanuel, Weltmacht USA: Ein Nachruf, München 2003.

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