Die 1871 von dem dänischen Literaturkritiker Georg Brandes vorgebrachte Idee des „modernen Durchbruchs“ in Skandinavien mit dem Erscheinen eigenständiger nordeuropäischer Positionen auf Europas musikalischer Bühne um die Wende zum 20. Jahrhundert zu kombinieren, ist zweifellos ein vielversprechender Ansatz. Doch geht der auf einer 2015 abgehaltenen Konferenz basierende Sammelband damit auch manches Risiko ein. Bereits die geographisch-kulturelle Definition des „Nordischen“ ist kontrovers – für den vorliegenden Band gehören das Baltikum und (das europäische) Russland dazu. Dies unterstreicht, dass es den Norden nicht gibt, sondern lediglich differenziert gefärbte Realisierungen einer ideellen Konstruktion. Ein Blick auf historische Zeitachsen macht zudem deutlich, dass die Musik jeder Nation ihren eigenen Weg in ihre jeweilige „Moderne“ nahm; ebenso unterschiedlich sind die musikhistorischen Durchbruchsmomente des „Nordischen“.
In der Einleitung erläutern die Herausgeber Philip Ross Bullock und Daniel M. Grimley, dass sich Brandes‘ Auffassung, der nordische moderne Durchbruch könne entscheidende Impulse auf Mitteleuropa ausüben (S. 2f.), auf die europäische Musikszene um 1900 übertragen lasse. Dafür ziehen sie vor allem Belege aus der Literatur und der Bildenden Kunst bis in die Gegenwart heran, sodass sich Knut Hamsuns literarisches Psychologisieren1 neben Stereotypen des „Nordic Noir“ und Alvar Aaltos klaren, organisch inspirierten Formen wiederfindet (S. 4). Die Überleitung zur Musik verleitet angesichts dessen zu einer gewissen Skepsis. Allerdings ist diese Problematik auch terminologischen Unklarheiten geschuldet: Was man unter Moderne verstand und versteht und welche Schnittmengen Moderne, Avantgarde und Neue Musik zu welcher Zeit bilde(te)n, sind begriffs- und fachgeschichtlich komplexe Fragen. Bullock und Grimley gehen mit der Moderne-Auffassung der Achse Wien-Paris kaum verhohlen ins Gericht: „For too long, narrative accounts of artistic modernism have remained siloed within narrowly national traditions and historiographies (not least within musicology)“ (S. 5). Allerdings hat Carl Dahlhaus diese Verengung zumindest für den deutschen Sprachraum bereits vor vierzig Jahren aufgebrochen.2
Auf den Ansatz, an der „semi-periphery“ (ebd.) alternative Konzepte einer (nordischen) musikalischen Moderne aufzusuchen, kann man sich jedoch einlassen. Dass die Verknüpfung vom Durchbruch der Moderne und des Nordens nicht durchweg gelingt, liegt auch an einer gewissen Unausgewogenheit des Bandes. So gibt es zwar drei Beiträge zu Finnlands „Nationalkomponisten“ Jean Sibelius, aber keinen über den Isländer Jón Leifs oder die finnische Moderne der 1920er-Jahre mit Aarre Merikanto oder Väinö Raitio. Auch den finnlandschwedischen Schriftsteller und Komponisten Elmer Diktonius vermisst man im Kontext eines auch aus dem literarischen Blickwinkel konzipierten Bandes. An solchen Figuren hätte man zeigen können, wie und warum manche Vision einer „nordischen Moderne“ schon in nationalen Grenzen nicht ausreichend gewürdigt und in Kontinentaleuropa wenig rezipiert wurde, so dass potenzielle Durchbrüche uneingelöst blieben.
Dafür weitet der Band den Blick auf Bildende Kunst und Tanz, etwa mit Beiträgen über Gustav Vigeland und Einar Jónsson (Charlotte Ashby), Sergei Diagilev, Konstantin Korovin und den Norden in der russischen Kunst (Louise Hardiman) sowie einem Porträt des finnischen Symbolismus als national-fortschrittlichem Projekt (Pirjo Lyytikäinen). Julia Mannherz bewegt sich mit „Gramophones and Modernity in the North“ im Zwischenraum von Technik- und Kulturgeschichte.
So erhellend diese breiteren Kontextualisierungen auch sind: Angesichts der erwähnten Lücken und Ungleichgewichte wäre eine Konzentration auf die Musik im engeren Sinne durchaus wünschenswert gewesen. Nicht zuletzt vermisst man einen Ansatz zur Rolle und Position von Künstlerinnen der Epoche, weist doch bereits die Einleitung auf genderspezifische Kritik an Brandes hin (S. 1). Der Band repräsentiert hier wohl zum Teil auch die Unausgewogenheit der Forschungslage.
An Sibelius kommt man offensichtlich nach wie vor nicht vorbei, wenn es um das „Nordische“ in der Musik geht, auch wenn es bisweilen schwierig scheint, neue Aspekte seines Werkes ans Licht zu bringen. Tomi Mäkelä nimmt einen wohl nie konkret verhandelten Auftrag an Sibelius für eine Programmsinfonie zur Eröffnung des Wasserkraftwerks in Imatra 1929 zum Anlass, ein rhapsodisches Tableau früher ökologischer Aspekte in der finnischen Kulturgeschichte bis in die 1970er-Jahre auszubreiten, in das er auch Sibelius zu integrieren sucht. Dafür allerdings, dass Sibelius einen solchen Auftrag aus umweltethischen Gründen abgelehnt hätte, liefern die Quellen keinen belastbaren Anhaltspunkt; auch Mäkelä unterstellt dies letztlich nicht. Sibelius verfügte damals einfach nicht mehr über die Kraft und Motivation für derart arbeitsaufwändige Nebensächlichkeiten.
Daniel M. Grimley widmet sich einem weniger beachteten Genre in Sibelius‘ Werk, der Schauspielmusik. Er sieht die Musik des Fünfzigjährigen zu Hofmannsthals Jedermann im Kontext einer Art Midlife-Crisis der „Breakthrough-Generation“ und erfasst das Kernproblem der Relationalität aller zu ihrer Zeit als modern angesehenen Ästhetiken: „For artists who had served as […] banner carriers for Brandes’s progressive movement, the problem of how to sustain their artistic innovation and radicalism […], especially in the face of new and aggressively avant-garde developments […], posed an altogether different challenge from those they had confronted in the 1890s” (S. 128).
Einen zentralen Beitrag steuert Philipp Ross Bullock bei. Er legt dar, wie Sibelius in der britischen Rezeption als Projektionsfläche eigener Identitätskonstruktionen diente, wobei man im Grunde eigene Autostereotypen übertrug: „Many of the allusions to Finnishness and Northernness in British accounts of Sibelius’s music are, in fact, projections of a particular version of Britishness onto a wholly alien context“ (S. 248). Dies erklärt, warum ein britischer Musikwissenschaftler wie Cecil Gray in Sibelius einen direkten Nachfahren Beethovenscher Symphonik sehen konnte – es war auch eine antigermanische Gegenreaktion auf eine vermeintliche germanozentrische Haltung, die keine andere symphonische Tradition als die deutsch-österreichische gelten lassen wollte (S. 243).
Mit Jāzeps Vītols porträtiert Kevin C. Karnes einen wenig bekannten Vertreter der baltischen Moderne und stellt klar, dass die „nordische“ Verortung bisweilen deutlich hinter dem Spannungsfeld – oder dem befruchtenden Austausch – zwischen Nationalismen und Kosmopolitismus zurücktrat.
Wie fein man die analytischen Messgeräte bisweilen stellen muss, um Spurenelemente des Modernen in schwedischer Musik der Jahrhundertwende zu finden, zeigt sich in Karin Santos Rutschmanns Beitrag zu Wilhelm Peterson-Bergers Fyra visor i svensk folkton op. 5. Leah Broad geht in ihrem Kapitel auf die Frage ein, warum die ehemalige europäische Großmacht Schweden auf der musikalischen Landkarte so wenig konturiert erscheint: Wo sich die Nachbarländer auf eine herausgehobene Gestalt fokussierten, vertraten hier mehrere Komponisten relativ gleichberechtigt die „Breakthrough Generation“ in einer konservativen ästhetischen Orientierung jenseits schlichter Nostalgie (S. 152). Auch sie widmet sich einer Schauspielmusik, die Ture Rangström 1926 für Strindbergs Till Damaskus komponierte, wobei sie die literatur- und theatergeschichtliche Kontextualisierung in den Vordergrund stellt. Dass Rangström die „musikalische Renaissance“, als deren Bannerträger er Carl Nielsen identifizierte, mit aus heutiger Perspektive hochproblematischem Vokabular evozierte, nämlich als „männliche“ Antwort auf einen vermeintlich degenerierten Zeitgeist (S. 154), wirft ein scharfes Schlaglicht darauf, wo in dieser Zeit auch in Skandinavien die (nicht nur) ästhetischen Bruchlinien verliefen.
Ein weiterer interessanter Beitrag ist Arnulf Christian Mattes‘ „Fartein Valen’s Atonal Breakthrough“. An dieser Komponistenpersönlichkeit zeigt sich ein Konzept „nordischer Moderne“, das sich in der Zwischenkriegszeit zugleich auf dem kontinentaleuropäischen „Stand des Materials“ befand. Valens Ästhetik speiste sich aus der deutsch-österreichischen Tradition von Bach bis Schönberg. Der Norweger Valen bewunderte Goethe, war von der protestantischen Mystik Jakob Böhmes beeinflusst und fand zu einem bei allen hörbaren Einflüssen eigenständigen atonalen Idiom, das sich, wie Mattes unterstreicht, von allem Norwegischen distanzierte (S. 206), was jedoch seiner Förderung durch die norwegische Kulturpolitik nicht im Wege stand. Nach 1940 wurde auch der trotz aller Germanophilie aus der Sicht der nationalsozialistischen Besatzer „entartete“ Valen zu innerer Emigration gezwungen. Im Kontext der Nachkriegsavantgarde musste er, dessen Musik im norwegischen Rahmen als (zu) modern gegolten hatte, dann als zu konservativ erscheinen, als dass er noch einen wirklichen Durchbruch auf der mitteleuropäischen Bühne hätte erleben können.
Im abschließenden Aufsatz führt Mikkel Bruun Zangenberg den „Nordischen Durchbruch“ mit dem modernen Wohlfahrtsstaat zusammen. Er stellt den Dänen Carl Nielsen – in gewisser Weise Ture Rangströms Postulat mit anderen, „sozialdemokratischen“ Vorzeichen einlösend – als Galionsfigur eines „populären nordischen Modernismus“ (S. 258) und des Ausgleichs zwischen den auseinanderstrebenden Kräften der nur oberflächlich einheitlichen skandinavischen Gesellschaften vor. Nielsen, so Zangenberg, vermochte es „to invent – in all senses of that word – an implicit aesthetic-political model and modus operandi that cut across the embattled frontiers between city and country, upper and lower class, high and low cultural forms, modern and anti-modern, populist and elitist.” (S. 253). Ähnliches gilt auch heute noch: Wir sehen seit einigen Jahrzehnten, wie eine vielseitige, bei allem Anspruch „gemäßigte“ Moderne aus Nordeuropa und dem Baltikum, deren Komponistinnen und Komponisten die mitteleuropäische Avantgarde rezipiert haben, ihr Publikum und ihre Erfolge findet. Das „Nordische“ scheint sich hier als eine Verbindung von Ästhetik und Gesellschaftsentwurf verstetigt zu haben – weniger als Durchbruch denn als Kontinuum.
Bei allen kritischen Anmerkungen, die sich angesichts des komplexen Sujets und einer risikobereiten Grundthese ergeben, regen die Beiträge also unbedingt dazu an, sich mit den behandelten Komponisten und Werken auseinanderzusetzen und eigene Grundannahmen zum Nordischen und zur Moderne in neuem Licht zu überprüfen. Der Band sei als breit angelegter Beitrag zu einer unbedingt weiter zu vertiefenden Diskussion sehr empfohlen und sollte in keiner einschlägigen Bibliothek fehlen.
Anmerkungen:
1 Bullock und Grimley zitieren, ohne Angabe der Originalquelle, eine übersetzte Passage aus "De unbevisste sjeleliv". Allerdings spricht Hamsun in diesem Kontext nicht von allen Künsten, wie die Autoren verallgemeinern (S. 4), sondern lediglich von der Literatur.
2 Carl Dahlhaus, Programm-Musik und Ideenkunstwerk, in: Carl Dahlhaus / Hermann Danuser (Hrsg.), Die Musik des 19. Jahrhunderts. Neues Handbuch der Musikwissenschaft, 6, Laaber 1989, S. 302-310.