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Titel
Devotio malefica. Die antiken Verfluchungen zwischen sprachübergreifender Tradition und individueller Prägung


Autor(en)
Chiarini, Sara
Reihe
Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne (15)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniela Urbanová, Institut für Klassische Philologie, Masaryk Universität Brno

Die vorliegende Monographie ist eine überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift der Autorin. Die Arbeit stellt eine interessante, neue und detaillierte Studie der erhaltenen griechischen und lateinischen Fluchtafeln dar und spiegelt den heutigen Stand der Kenntnisse dieser Inschriftenkategorie wider. Die Autorin ist eine ausgewiesene Expertin auf diesem Gebiet und mit der Dokumentation von Fluchtafeln bestens vertraut, da sie von 2015 bis 2018 an dem Forschungsprojekt der Universität Magdeburg Magische Verfluchungen als Durchsetzung von Recht, unter Leitung von Martin Dreher beteiligt war. Ziel des Projekts war der Aufbau einer Online-Datenbank aller bekannten Dokumente der antiken Fluchtradition. Die Datenbank stellte die Texte der veröffentlichten Fluchtafeln mit Übersetzungen, Faksimile, Fotos und bibliographischen Daten benutzerfreundlich zur Verfügung und ermöglichte die Suche nach vielen inhaltlichen und materialen Kriterien. Mit Ende des Lehrstuhls wurde die Datenbank nach Hamburg übertragen. Sie ist in ihrer jetzigen Form bei weitem nicht mehr so benutzerfreundlich wie zuvor. Im Buch werden die Inschriften mit den alten TheDeMa Nummern zitiert.

Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert, die sich den Kernfragen des Vorhabens widmen, nämlich der formelhaften Sprache der antiken Fluchüberlieferung (Kap. 2) und der individuellen Gestaltung der Verfluchungen – deren Subjektivität und Emotionalität (Kap. 3). Das inschriftliche Material wird nicht nach chronologischen oder geographischen Kriterien geordnet, sondern nach seiner Relevanz für die einzelnen Komponenten des Fluchrituals. Das Buch richtet sich an den "fortgeschrittenen" Leser, der mit dieser Kategorie von Inschriften und mit der bisherigen Forschung vertraut ist. Das Buch bietet einen detaillierten Einblick in die gesamte Dokumentation dieser Gattung, wobei über 400 Flüche konkret zitiert bzw. erläutert werden. Die Autorin hat sich eine schwierige Aufgabe gestellt, da jeder Versuch, den vielfältigen Bestand an lateinischen und griechischen Fluchformel zu klassifizieren, unweigerlich durch mehrere Aspekte erschwert wird: Die überlieferten Texte unterscheiden sich nicht nur in der Datierung und Provenienz, sondern auch in der Art des Fluches, der mehr oder weniger komplex sein kann, wobei auch die Bildung des Urhebers eine Rolle spielte, denn das erhaltene Corpus umfasst sowohl Flüche, die von professionellen Magiern verfasst wurden, als auch Versuche von Laien. Einerseits führt der Versuch, alle formalen Unterschiede zu berücksichtigen und alle möglichen Anhänge zu den Flüchen zu erfassen, zu einem Umherirren zwischen vielen Schemata; andererseits lässt eine übermäßige pragmatische Vereinfachung eine Reihe wichtiger Merkmale unbeachtet.

Im ersten Abschnitt (S. 22–39) – Die bisherigen inhaltlichen Klassifizierungsversuche – erfolgt die kritische Behandlung der Taxonomie von Defixiones, die die Mehrheit der geläufigen Theorien mit vielen guten Beobachtungen analysiert. Die Autorin lehnt die bisher etablierte Taxonomie nach Gattungen bzw. dem Inhalt der Inschriften ab. Kapitel 2 stellt eine ausführliche Einleitung zum Begriff Formel, zur Formelhaftigkeit in Bezug auf das Fluchritual dar und bietet ein neues sprachwissenschaftlich und pragmatisch basiertes Formelmodell: Patiens, Actio, Agens, das eine detaillierte und komplizierte Taxonomie der Formeln darstellt (S. 40–185). Im Abschnitt 2.4.1 Patiens werden alle Formeln und Besonderheiten in Bezug auf die Opfer des Fluchs untersucht. Im 2.4.2 Actio werden die mit der Handlung der Flüche verbundenen Formeln, die, im Zusammenhang mit devoti, numina und devoventes stehen, besprochen. Im Punkt 2.4.3. Agens widmet sich die Autorin den Formeln, die mit den Fluchausführenden verbunden sind.

Dieser Teil des Buches ist interessant und wertvoll. Die detaillierten Beobachtungen und neuen Einsichten in die komplexe Vielfalt der Fluchtexte, reichlich belegt mit konkreten Beispielen, die manchmal auch in Einzelheiten neuinterpretiert werden, sind beachtenswert. Allerdings gibt es auch kleinere Lücken, Mängel oder Spekulationen, die wohl auf die unüberschaubare Flut von Literatur zu diesem Thema zurückzuführen sind. Im Kap. 2.4.1.4. vermisse ich zumindest eine Erwähnung des Begriffs suavulva, siehe TheDeMa 820, 21. Die Fluchtafel aus Nomentum, TheDeMa 220, (S. 64ff.) berücksichtigt weder die bessere Lesung von Heikki Solin, nämlich Rufa publica1, noch die neue Interpretation der Inschrift2. Im Abschnitt 2.4.2.1.1, der der similia-similibus Formel gewidmet ist, begegnet man interessanten Ausführungen und Bemerkungen, jedoch fehlt hier die Erwähnung von historiolae, die oft als Bestandteil dieser Formel belegt sind; der Termin taucht erst ab Seite 180 auf3. Die Autorin berücksichtigt nicht die bereits im ganzen Corpus der griechischen sowie lateinischen Fluchinschriften mit der similia-similibus Formel basierte und etablierte Taxonomie der belegten Komparata und erwähnt nicht die verschiedenen Bedeutungen und Strategien der Formel mit_ aversus4. Sehr spekulativ scheint die neue Interpretation der Fluchtafel aus Carmona, TheDeMa 5_71 (S. 158ff). Die abschließende Formel, die in ähnlicher Form typisch für Votivinschriften ist: solva(m) vostris meretis „werde ich euch für eure Gunst belohnen“ so Josep Corel5, liest die Autorin als solva(m) vostris mentis (S. 158) und interpretiert „werde ich (euch) in euren Geistern freilassen.“ Diese Deutung wird als das älteste Beispiel des Versprechens von defigens, der die sichere Realisierung seines Fluches verstärken will, indem er „die numina aus der durch die übernatürliche Kraft des Fluches erzeugten Gefangenschaft zu befreien“ vorgestellt (S. 158). Wenn man den Fakt übergehen, dass mens und anima kaum vertauschbar sind, werden als griechische Fassung dieser Formel zwei Tafeln aus Ägypten vorgeführt TheDeaMa 322 und 110, wo nicht nur die Unterweltsgötter, sondern auch die nekydaimones angesprochen wurden. In den griechischen Texten erscheint diese Interpretation angebracht, jedoch nicht in der lateinischen Fluchtafel gegen Luxsia.

Am Ende dieses Abschnitts behandelt die Autorin den Gattungshorizont Gebet, fasst die Ergebnisse der Forschung zusammen und fragt, in welche Textkategorie sich das vielfältige Corpus der antiken Fluchtexte einordnen lässt (S. 186ff.) Die Autorin kommt in Bezug auf die Formeln und Strukturen der Flüche schließlich zu dem Schluss, dass die übergreifende Kategorie für diese Texte das Gebet ist, (S. 202) in Anlehnung auf die Arbeiten von Henk Versnel.

Der dritte Abschnitt widmet sich den Spuren der Subjektivität anhand der Individualisierung des Fluches. Hier handelt es sich um ergänzende, individuelle Bestandteile der Texte wie z.B. die Begründung des Fluchrituals, die den defigens rechtfertigen soll, und dem reichlich in Beispielen dokumentierten emotionalen Zustand der Fluchschreiber (Beschimpfung, Klage, Schutzbitte, Segensbitte (S. 238–262). Bei der Analyse dieser Textelemente und der Einschätzung der Umstände, die zu Verfluchungen führen könnten, muss man sich jedoch oft auf das dünne Eis der Spekulation begeben. Anhand ihrer Analyse dieser individuellen nicht formelhaften Komponenten betrachtet Chiarini die antiken Flüche als Ausdrücke einer subjektiven Vorstellung von „berechtigter Bestrafung“ (S. 285). Diese These wird im letzten Kapitel mit dem Titel „Das Fluchritual als Mittel zur Durchsetzung einer subjektiven Rechtsvorstellung“ weitergeführt. Da die Flüche auf einer parallelen Ebene zum zeitgenössischen Recht agieren, beendet Chiarini ihr Buch mit der These, aus der Sicht der Verfluchenden handele es sich um Gebete um Gerechtigkeit und schlägt vor, die Flüche als „Gebete um subjektive Gerechtigkeit“ zu verstehen (S. 299).

Das Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Erforschung antiker Defixiones, der auf einer hervorragenden Kenntnis einer großen Anzahl antiker Fluchtexte beruht und viele interessante aber auch neu zu hinterfragende Erkenntnisse und Überlegungen enthält. Die Autorin schafft auch eine neue Terminologie für das Forschungsfeld wie devotiones maleficae: die Zeit wird die neue Terminologie auf die Probe stellen.

Anmerkungen:
1 Heikki Solin, Corpus defixionum antiquarum, quelques réflexions. In Latin vulgaire – latin tardif. Hildesheim 1995, S. 569–576.
2 Franco Luciani / Daniela Urbanová, Cursing not Just the Body. Some Remarks on a defixio from Nomentum in the Light of the Role of Female Public Slaves in the Roman World. Epigraphica LXXXI, 1–2, 2019, S. 421–442.
3 Grundlegend für diese Problematik im Fluchkontext wäre David Frankfurter, Narrating Power. The Theory and Practice of the Magical Historiola in Ritual Spells, in: Marvin Meyer / Paul Mirecky (Hg.), Ancient Magic and Ritual Power, Leiden 1995, S. 457–476.
4 Siehe Juraj Fanek / Daniela Urbanová, „May Their Limbs Melt, Just as This Lead Shall Melt…”: Sympathetic Magic and the Similia Similibus Formula in Greek and Latin Curse Tablets I. Philologia Classica, 14, 1, 2019, S. 26‒54, und iidem “As Isis Loved Osiris, So Let Matrona Love Theodoros…”: Sympathetic Magic and Similia Similibus Formulae in Greek and Latin Curse Tablets II. Philologia Classica, 14, 2, 2019, S. 177‒207.
5 Josep Corell, Defixionis tabella aus Carmona (Sevilla), ZPE 95 (1993), S. 261–268.

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