Seit mehreren Jahren verschärft sich in Deutschland die Auseinandersetzung über die wirklichen Ziele der Oppositionellen in der DDR. Während die einen leicht verächtlich meinen, diese hätten ja nur einen reformierten, einen demokratischen Sozialismus angestrebt, benennen andere eine Zivilgesellschaft als das eigentliche Ziel. In diesem Streit konnte bisher keine Einigung erreicht werden, was auch daran zu liegen scheint, dass beide Phänomene nicht ausreichend klar definiert sind. Aber im gesamten westeuropäischen Diskurs herrscht einhellig die Meinung vor, dass in ganz Ostmitteleuropa und besonders in Polen nach der Erfahrung der Aggression gegen die Tschechoslowakei 1968 als oppositionelles Ziel das Erreichen einer Zivilgesellschaft verbindlich gewesen sei.
Mit dieser Auffassung setzt sich Agnes Arndt auseinander und entlarvt sie schnell als Mythos. Zivilgesellschaft ist für sie das „Projekt des zivilisierten, mündigen, freien und verantwortlichen Zusammenlebens unter Bedingungen friedlicher Konfliktaustragung, demokratischer Teilhabe und spannungsvoller Solidarität“ (S. 9). Ihre eigentliche Fragestellung zielt auf die Bedeutung eines solchen Konzepts für polnische Intellektuelle wie, aus der linken Denkschule, Adam Michnik, den katholischen Denker Tadeusz Mazowiecki und den liberalen Bronislaw Geremek in den Jahren zwischen 1968 und 1989. Dabei kommt sie zu dem überraschenden Schluss, dass zivilgesellschaftliche Ansätze in den Schriften der polnischen Oppositionellen bis zum Ende der 1980er-Jahre nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vielmehr wäre die auszumachende Renaissance des Zivilgesellschaftsbegriffes Ergebnis einer grenzüberschreitenden (westeuropäischen) Diskussion und erst post festum mit polnischen Intellektuellen vor 1989 in einen engen Zusammenhang gebracht worden.
Beim Blick auf die Lage in Polen vor dem Ende des Kommunismus blieb jedoch der Kampf um die Sicherung von Menschen- und Bürgerrechten und um die dafür benötigten autonomen Räume aktuell. Auch wuchsen in Polen die Sphären autonomen Handelns auf dem Weg der Subjektwerdung der Menschen von den „Fliegenden Universitäten“ über die „Komitees für gesellschaftliche Verteidigung“ bis zur Gewerkschaft Solidarnosc. Das war die Voraussetzung für die Einrichtung eines „Runden Tisches“ und die Geburt des Bürgerkomitees, beides wichtige Wegmarken hin zum Verzicht der Kommunisten auf ihren alleinigen Herrschaftsanspruch. Dies alles war nur möglich auf der Grundlage der Überwindung der Atomisierung der Gesellschaft. Die Gewinnung von Spielräumen zwischen dem „wir“ und dem „sie“ sowie die Forderung nach Wertorientierung von Politik schufen automatisch auch zivilgesellschaftliche Strukturen. Und dies gilt auch unter der Bedingung, dass sich der Begriff der „spoleczenstwo obywatelskie“ erst sehr spät durchsetzen konnte.
Arndt argumentiert allerdings überzeugend dagegen, dass der Begriff Zivilgesellschaft bis in die späten 1980er-Jahre in Polen ein Grundbegriff gewesen sei und beschreitet damit Neuland. Es bleibt jedoch die Frage, ob die polnischen Intellektuellen, die seit circa 1976 eine Demokratisierung der Strukturen „Volkspolens“ und die Ausweitung autonomer Handlungsräume nicht nur forderten, sondern auch zunehmend durchsetzten, zivilgesellschaftliche Ideen umsetzten. Auch solche Ansätze mussten totalitäre Herrschaft letztlich zum Zusammenbruch bringen. Und das gilt auch, wenn eine ausdefinierte Zivilgesellschaft keine Leitidee war. In dieser Situation erscheint es heute durchaus wieder sinnvoll, die revolutionären Entwicklungen im Ostblock zwischen 1989 und 1991 unter dem Gesichtspunkt der sich letztendlich doch vollziehenden Durchsetzung von Zivilgesellschaften zu betrachten. Die Rückgewinnung der damit verbundenen Formen autonomen Handels ist heute ein gesamteuropäisches Anliegen geworden. Da noch lange nicht in allen Staaten Europas Zivilgesellschaften zum Blühen gebracht werden konnten, werden Arndts Analysen die weitere ost-west-europäische Diskussion anregen. Es geht jetzt darum, Ansätze aus Ost und aus West zu einem modernen Bild europäischer Gesellschaften im 21. Jahrhundert zu weiten sowie eine gemeinsame Sprache auf diesem Weg zu finden.