H.-C. Seidel u.a. (Hrsg.): Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts

Cover
Titel
Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Bewältigung und vergleichende Aspekte


Herausgeber
Seidel, Hans-Christoph; Tenfelde, Klaus
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe C: Arbeitseinsatz und Zwangsarbeit im Bergbau 5
Erschienen
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Lemmes, Europäisches Hochschulinstitut Florenz

Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ ist inzwischen eines der am besten bearbeiteten Themen der Geschichte des Nationalsozialismus, ja sogar der jüngeren deutschen Geschichte. Zwar bestehen noch einige bedeutende Forschungsdesiderate, allen voran die Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten, gleichwohl können weite Bereiche der NS-Zwangsarbeit in empirischer Hinsicht als erforscht gelten. Entsprechend beginnen sich Fragestellungen und Aufgaben der Historiker zu wandeln: Gegenüber dem bislang dominierenden „fact finding“ gewinnen zunehmend Fragen an Bedeutung, die eine breitere Diskussion und vergleichende Einordnung der NS-Zwangsarbeit innerhalb der Geschichte des 20. Jahrhunderts ermöglichen. Einen Beitrag zu diesem Perspektivenwechsel leistet der hier zu besprechende Sammelband. Er macht die Beiträge der Abschlusskonferenz des Projektes „Zwangsarbeit im deutschen Kohlenbergbau“, das seit Oktober 2000 am Institut für soziale Bewegungen in Bochum durchgeführt wird 1, der Öffentlichkeit zugänglich.

Der von Hans-Christoph Seidel und Klaus Tenfelde herausgegebene Tagungsband gliedert sich in zwei Teile. Die ersten sechs Beiträge befassen sich unter der Überschrift „Bewältigung“ mit der Aufarbeitung und kollektiven Erinnerung von NS-Zwangsarbeit sowohl in der „Tätergesellschaft“ – konkret in Westdeutschland – als auch in den „Opfergesellschaften“ am Beispiel der Sowjetunion und Jugoslawiens. Die folgenden vier Artikel setzen NS-Zwangsarbeit unter dem Stichwort „Vergleichende Aspekte“ in Bezug zu anderen Zwangsarbeitsformen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: im Deutschen Kaiserreich und in Frankreich während des Ersten Weltkriegs, in Japan im Zweiten Weltkrieg und in der Sowjetunion. Insofern ist der Fokus des Bandes deutlich enger, als es der etwas zu weit gefasste und potentiell irreführende Titel „Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts“ erwarten lässt: Dreh- und Angelpunkt bleibt die Zwangsarbeit im „Dritten Reich“. Ist dieses Missverständnis ausgeräumt, lesen sich die Beiträge indes mit großem Gewinn.

Eingangs untersucht Lutz Niethammer „Wahrheitskommissionen im Vergleich“. Er verbindet die Frage, warum die deutsche Regierung im Gegensatz zur österreichischen und schweizerischen keine unabhängige Historikerkommission einsetzte, mit einer vergleichenden Betrachtung der in den vergangenen dreißig Jahren weltweit geschaffenen Wahrheitskommissionen. In diesen sieht Niethammer eine „Voraussetzung (und manchmal auch ein[en] Ersatz) für die Ausbildung postdiktatorischer zeitgeschichtlicher Aufklärung und Gedenkkultur“ (S. 33f.). Während in Österreich und der Schweiz ein „erhebliches Defizit an Wissen und öffentlichem Problembewusstsein“ bestand, schien in Deutschland eine Wahrheitskommission entbehrlich zu sein, auch wenn eine solche, retrospektiv betrachtet, „noch viel zu tun gehabt“ hätte (S. 37). Dieses Fehlen werde jedoch durch den „zivilgesellschaftliche[n] Entwicklungsgrad der zeitgeschichtlichen Gedenkkultur in Deutschland (…) in freier Initiative“ kompensiert (S. 38).

Mit dem Verhältnis jüdischer Displaced Persons (DPs) zur deutschen Bevölkerung nach 1945 beschäftigt sich Hubert Schneider, vornehmlich am Beispiel des Lagers Landsberg am Lech. In einer Atmosphäre wechselseitigen Misstrauens wurden die DPs von der lokalen Bevölkerung einerseits aufgrund der besseren Versorgung durch die Amerikaner neidvoll beäugt, andererseits vor allem als Bedrohung, Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt und – ohne nachweisbaren Realitätsbezug – als notorische Plünderer und Schwarzmarkthändler wahrgenommen. Individuelle Begegnungen haben in der von Ablehnungsmustern und negativen Stereotypen dominierten lokalen Erinnerung keinen Raum; erinnert werden die DPs vor allem als Belastung der Nachkriegszeit.

Mit der Erinnerung an Deportation und Zwangsarbeit in den „Opfergesellschaften“ setzen sich die Beiträge Pavel Polians zur Sowjetunion und Sabine Rutars zu Jugoslawien auseinander. Polian unterscheidet acht Gruppen repatriierter Sowjetbürger und untersucht anschließend, welchen Niederschlag die Erfahrungen ehemaliger Kriegsgefangener und Ostarbeiter in der sowjetischen Literatur und Geschichtswissenschaft hatten. In Schulbüchern und Nachschlagewerken verschwiegen, fanden sie eine erste autobiographisch-literarische Verarbeitung in der „Tauwetterperiode“ der 1950er- bzw. in den 1970er-Jahren. Die sowjetische Geschichtswissenschaft „verpasste“ (S. 69) jedoch diese günstigen Phasen und nahm sich der beiden Opfergruppen erst zu Beginn der 1990er-Jahre an. Die jugoslawischen Zwangsarbeiter konnten, wie Rutar darlegt, bis heute „kaum einen Platz in öffentlichen Gedächtnisräumen erlangen“ (S. 75). Entsprechend der staatslegitimierenden Meistererzählung vom siegreichen Volksbefreiungskrieg unterschied die titoistische Erinnerungspolitik nur zwischen „Helden“ und „Verrätern“ und schuf so ein Schwarz-Weiß-Schema, in dem abweichende Kriegserfahrungen keinen Platz hatten. Zudem stand die Bedeutung von Zwangsarbeit beim wirtschaftlichen Wiederaufbau der Nachkriegszeit einem öffentlichen Gedächtnis an NS-Zwangsarbeit entgegen. Letzteres bleibt bis heute marginal, da sich das Interesse in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens vornehmlich auf die kommunistische Vergangenheit richtete.

Aus unterschiedlichen Perspektiven befassen sich Susanne-Sophia Spiliotis und Constantin Goschler mit der Geschichte der Zwangsarbeiterentschädigung. Spiliotis interpretiert die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft als Ergebnis eines Bewusstseinswandels in den Vorstandsetagen der Unternehmen, der schließlich zur Übernahme kollektiver „moralischer Verantwortung“ führte – bei fortdauernder Ablehnung jeglicher Schuldanerkennung im juristischen Sinne. Hierin erkennt die Autorin einen Paradigmenwechsel hin zur „Konstruktion der Privatwirtschaft als moralische Größe mit kollektiver Vergangenheit und Zukunft“ (S. 114). Ob die Unternehmen wirklich auf eine kollektive Lösung setzten, „um den Kreis von Leistungsberechtigten so weit wie möglich zu ziehen“ (S. 108), ist indes mit einem Fragezeichen zu versehen. Schließlich gestattete ihnen gerade die These der kollektiven Verantwortung, einer individuellen Schuldfeststellung zu entgehen und Verantwortung wie Kosten breit zu verteilen. In den Augen Goschlers, der die Zwangsarbeiterentschädigung im weiteren Kontext der Wiedergutmachungspolitik seit 1945 betrachtet, stützt das Konzept der kollektiven Verantwortung die alte „Werkzeugtheorie“, der zufolge die Wirtschaft lediglich ein passives Instrument in den Händen des NS-Staats gewesen sei. Im Gegensatz zu Spiliotis sieht er große Kontinuitäten in den von der Wirtschaftsseite vertretenen Auffassungen. Die Wandlungen der Entschädigungspolitik spiegeln die grundlegenden außen- und innenpolitischen Veränderungen der Bundesrepublik. Im Zeitverlauf zeigt sich einerseits eine Entwicklung von Lohnforderungen und Schmerzensgeld zur „abstrahierte[n] allgemeine[n] Anerkennung des Leidens der Zwangsarbeiter“ (S. 129), andererseits von individuellen materiellen Leistungen zu einer Mischung aus pauschalisierten Geldzahlungen und symbolischer Anerkennung.

Den zweiten Teil des Bandes eröffnet Jochen Oltmers Beitrag über Zwangsmigrationen in den beiden Weltkriegen. Oltmer unterscheidet drei Typen kriegsbedingter Zwangswanderungen: erstens Fluchtbewegungen und Evakuierungen aus den Kampfzonen, zweitens Vertreibungen, Massenausweisungen und Umsiedlungen zur Herrschaftssicherung, drittens Deportationen oder Internierungen zum Zwecke kriegswirtschaftlicher Zwangsarbeit. In beiden Weltkriegen erwies sich das Deutsche Reich als „Motor und Zentrum der europäischen Zwangsmigrationen“ (S. 152). Daneben wird auch der Zwangsarbeitseinsatz in Frankreich während des Ersten Weltkrieges angerissen. Zwar ist der Artikel über weite Strecken eher deskriptiv-inventarisierend als im engeren Sinne vergleichend, nichtsdestoweniger liefert er besonders durch die Einordnung der Zwangsarbeit in eine Typologie der Zwangsmigrationen eine interessante Perspektivierung.

Jörg Osterloh vergleicht Lebensbedingungen und Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen im „Dritten Reich“ und in der Sowjetunion, genauer: der Kriegsgefangenen des deutsch-sowjetischen Krieges. Trotz zahlreicher Parallelen wie mangelhafter Unterbringung und Versorgung unterschieden sich die Kriegsgefangenenpolitiken beider Staaten grundlegend voneinander. Das nationalsozialistische Deutschland stellte bereits bei der Planung des Vernichtungskriegs die erwarteten sowjetischen Gefangenen außerhalb des Kriegsvölkerrechts; deren katastrophale Lebensbedingungen entsprangen keinem Notstand, sondern Kalkül. Die Sowjetunion war dagegen zu weitgehender Einhaltung völkerrechtlicher Bestimmungen gewillt und orientierte ihre Richtlinien an der von ihr nicht unterzeichneten Genfer Konvention. Dass diese meist nur auf dem Papier bestanden, war vornehmlich der Verwüstung des Landes und dem allgemeinen Mangel, nicht aber ideologischen Motiven oder einem Vernichtungswillen geschuldet.

Im umfangreichsten Beitrag analysiert Mark Spoerer synchron und diachron vergleichend die „Zwangsarbeiterregimes“ Deutschlands und Japans in den beiden Weltkriegen. Der Schwerpunkt des darstellenden Teils liegt auf Deutschland im Ersten und Japan im Zweiten Weltkrieg, was für den nur lückenhaft erforschten und in der deutschen Diskussion weitgehend unbekannten japanischen Fall besonders verdienstvoll ist. Die vergleichende Analyse bezieht sich auf die Mortalität als Indikator für die Härte der Lebensbedingungen. Die Vergleichsergebnisse sprechen gegen einen intrinsischen, „in der Natur des Zwangsarbeitsverhältnisses selbst liegenden Trend zur Totalisierung“ (S. 221). Dagegen formuliert Spoerer zwei Kriterien als bedeutsam für die Überlebenschancen der Zwangsarbeiter: ihren Platz innerhalb der jeweiligen „rassi(sti)schen“ Hierarchie, die auffällig mit dem Wohlstandsniveau der Herkunftsstaaten korreliert; das Einsatzumfeld in den beiden Dimensionen Stadt/Land und Inland/besetzte Gebiete. Ließe sich auch bisweilen über die Tragfähigkeit des zugrundegelegten Zahlenmaterials und die Reichweite von Schlussfolgerungen diskutieren, so liefert der Beitrag nicht nur interessante Einzelergebnisse, sondern auch zahlreiche Ansatzpunkte für weitere Forschungen.

Die regionale Bedeutung von Zwangsarbeit über zwei Systemwechsel hinweg untersucht schließlich Tanja Penter für den Donbass – dem damals wichtigsten Kohlerevier der Sowjetunion – von 1929 bis 1953. Sowohl unter stalinistischer als auch unter nationalsozialistischer Herrschaft stellt Penter eine „gewisse Multifunktionalität“ (S. 248) der Zwangsarbeit fest, die nicht nur wirtschaftlichen Zielen, sondern auch der Bestrafung, Kontrolle und „Erziehung“ diente. Auch scheint in beiden Fällen die Tolerierung von Grauzonen und Freiräumen zur Systemstabilisierung beigetragen zu haben. Im sowjetischen System war jedoch die soziale Mobilität deutlich größer und lagen überhaupt die Lebensumstände „freier und unfreier“ (S. 249) Arbeitskräfte sowie die von Sowjetbürgern und Ausländern wesentlich dichter beieinander.

Die Herausgeber wollen die Beiträge nur als „Schlaglichter“ auf die Themenfelder der „Bewältigung“ und des Vergleichs verstanden wissen, ohne Anspruch auf Systematik zu erheben. Ihrem Anliegen, aufzuzeigen, „in welche Richtungen zukünftige Forschungen zur Zwangsarbeit sich bewegen könnten“ (S. 18f.), wird der Band in überzeugender Weise gerecht, besonders im vergleichenden Teil. Man hätte sich gewünscht, dass die Herausgeber zentrale methodische Fragen und weiterführende Problemstellungen in einem Fazit noch einmal konkret benennen und pointiert zusammenfassen. Dass die vorgestellten Ansätze fruchtbar sind, zeigen die Beiträge allemal. Das Buch verdeutlicht aber auch, dass die vergleichende Forschung zur Zwangsarbeit vielfach erst am Anfang steht und es bis zu einer Geschichte der „Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts“ noch ein weiter Weg ist.

Anmerkung:
1 Zum Projekt „Zwangsarbeit im deutschen Kohlenbergbau“ siehe die Berichte im Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen: 26 (2001), S. 253-260; 28 (2003), S. 269-274; 31 (2004), S. 331-335; insb. den Abschlussbericht samt Verzeichnis bisheriger und geplanter Publikationen, in: 36 (2006), S. 233-245; sowie http://www.ruhr-uni-bochum.de/iga/isb.

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