G. Lamprecht: Fremd in der eigenen Stadt

Titel
Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Lamprecht, Gerhard
Erschienen
Innsbruck 2007: StudienVerlag
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eleonore Lappin, Institut für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten

Trotz erheblicher wissenschaftlicher Leistungen in den letzten zwanzig Jahren weist die Erforschung der nach der Aufhebung des Ansiedlungsverbots in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen jüdischen Gemeinden auf dem Gebiet des heutigen Österreich noch erhebliche Lücken auf. Dies trifft sowohl für Wien zu, wo sehr bald die überwiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung (West-)Österreichs lebte, als auch für die Provinzgemeinden. Da die Beschäftigung mit jüdischen Gemeinden in Österreich häufig im Zeichen der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit stand/steht, aber auch um die Berichte von Überlebenden wissenschaftlich zu erfassen und auszuwerten, fokussierten diesbezügliche Studien – Monographien ebenso wie Artikelsammlungen – häufig auf deren Endphase, also auf die Zerstörung durch die Nationalsozialisten.1 Erste Versuche, neben der Auswertung von amtlichen Quellen, Lebenserinnerungen und Publizistik auch kulturwissenschaftliche Überlegungen in eine Monographie über eine jüdische Gemeinde einfließen zu lassen, unternahm Gerhard Milchram in seinem Buch über die Gemeinde von Neunkirchen im 19. und 20. Jahrhundert.2 Gerald Lamprecht erweitert diesen Ansatz, wobei er, aufgrund der Größe und administrativen Entwicklung von Graz, auf eine wesentlich breitere Quellenbasis zurückgreifen kann.

Lamprechts Studie über die Grazer jüdische Gemeinde im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bündelt die unterschiedlichen Fragen und Forschungsansätze der rezenten jüdischen Historiographie. So betont er die Prozesshaftigkeit der Entwicklung jüdischer Identitäten aber auch der jüdisch-Grazer Beziehungen und findet in der Performanz, der öffentlichen Selbstdarstellung der jüdischen Gemeinde in Form von Bauwerken wie der Synagoge aber auch Veranstaltungen wie der Inauguration von Rabbinern die entscheidenden Hinweise auf deren (Selbst-)Positionierung. Somit reflektieren für Lamprecht nicht nur Schriften und Narrative, sondern auch Gebäude, öffentliche Inszenierungen bis hin zum Vereinswesen identitäres Selbstverständnis. Lamprecht stellt die jüdische Gemeinde Graz auf verschiedenen Ebenen dar. Von der Obrigkeit und von Behörden geschaffene Quellen geben Auskunft über ihren Rechtsstatus und die Ereignisgeschichte der Gemeinde, jüdische und Grazer Statistiken ermöglichen die Erstellung eines Sozialprofils der Grazer Jüdinnen und Juden, jüdische und nichtjüdische Publikationen reflektieren die gegenseitigen Beziehungen, die im 19. Jahrhundert einen permanenten Wandel durchmachten. Bei der Auswahl geeigneter Quellen für seine sehr unterschiedlichen Fragestellungen zeigt der Autor erhebliche Sorgfalt und Geschick.

Lamprecht steht allerdings vor dem Problem, dass die wesentlichen methodischen Studien zur Entwicklung des Judentums im deutschsprachigen Raum in Deutschland entstanden sind und sich auf das deutsche Judentum beziehen. Die deutschen Gegebenheiten unterschieden sich jedoch vielfach von der österreichischen Situation, wo – mit Ausnahme von Westungarn (Burgenland) und Vorarlberg – die modernen Gemeinden nach Jahrhunderten des Ansiedlungsverbots bzw. einer prekären Toleranz in Wien erst im Lauf des 19. Jahrhunderts neu etabliert wurden. Dennoch weisen die Debatten um die Emanzipation der Juden aber auch innerjüdische Entwicklungen wie die Verbürgerlichung in Österreich deutliche Parallelen zu Deutschland auf, die einen Vergleich möglich und fruchtbar machen. Lamprecht widmet sein Einleitungskapitel „Jüdische Identitäten – Einführende Überlegungen“ (S. 15-52) einem Überblick über diese Forschungsergebnisse, wobei er auch seine eigenen Forschungsansätze erläutert. Eine genauere Herausarbeitung der Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland fehlt leider. Allerdings ist dieses Manko nicht zuletzt auf ein allgemeines Desiderat der Forschung zur jüdischen Geschichte in Österreich zurückzuführen.

Die folgenden Kapitel von Lamprechts Studie (S. 53-214) beschreiben die historischen Rahmenbedingungen, welche die Niederlassung von Jüdinnen und Juden in Graz ermöglichten – als Schlagworte seien hier Toleranzpatent (1782), Revolution von 1848, Liberalismus, Industrialisierung und Urbanisierung erwähnt –, die rechtlichen und publizistischen Diskussionen, die sie begleiteten, und das soziale Profil der Gemeinde. Weiter werden Schlüsselereignisse wie erste Bewilligungen zum Aufenthalt und zur Schaffung einer dem jüdischen Religionsgesetz entsprechenden Infrastruktur behandelt und die schrittweise institutionelle Ausbildung der Gemeinde beschrieben: die Gründung der Israelitischen Corporation als erste gemeindeähnliche Organisation (1863), die Errichtung eines jüdischen Friedhofs und die Einweihung der – noch in gemieteten Räumlichkeiten untergebrachten – Synagoge (1865), die Gründung einer Israelitischen Kultusgemeinde (1869), die Entwicklung und Erhaltung der Schule, die Berufung und Inauguration der beiden Rabbiner Dr. Samuel Mühsam (1877) und Dr. David Herzog (1908) sowie die Einweihung der neu errichteten Synagoge (1892). Daneben stellt Lamprecht auch die wichtigsten Vereine und deren vorrangige Ziele zwischen Wohlfahrt, Kultus und Kultur, Geselligkeit, Politik und Sport dar. Besonderes Augenmerk widmet Lamprecht den Frauenvereinen als Orten weiblicher Identitätsbildung und öffentlichem Wirken. Diese ebenso wie die Einführung der Bat Mizwah, der Konfirmation für Mädchen 1911 weisen auf ein bürgerlich-fortschrittliches Bild von der Rolle der Frau im Gemeindeleben hin. Ein weiteres Indiz für die Reformorientierung der Gemeinde waren die Architektur sowie der Einbau einer Orgel in die Synagoge.

Trotz ihres hohen Grades von Akkulturation nahm die Integration der jüdischen Gemeinde im öffentlichen Bewusstsein von Graz im Lauf ihres Bestehens ab (S. 215-244). Lamprecht zeigt dies unter anderem an der Presseberichterstattung zur Einweihung der Grazer Synagogen. So waren die Berichte über die Einweihungsfeierlichkeiten für die erste, in angemieteten Räumlichkeiten in Withalms Coliseum eingerichtete Synagoge so positiv, dass die rechtlich noch nicht emanzipierten Juden sich als Teil der Grazer Bevölkerung sehen konnten. Mit der Errichtung der repräsentativen Synagoge im Jahr 1892 schrieb sich die jüdische Gemeinde zwar nachhaltig ins Grazer Stadtbild ein, die Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung bei den Einweihungsfeierlichkeiten war jedoch reservierter als 1865. Grund dafür waren der wachsende Antisemitismus und die Selbststilisierung von Graz als Bollwerk der deutschen Kultur, die einer jüdischen Verankerung in der Stadt entgegenwirkten. Der 1908 nach Graz berufene Rabbiner Dr. David Herzog, der gleichzeitig Lehrbeauftragter für semitische Philologie an der Grazer Universität war, versuchte, eine Gegenbewegung einzuleiten. Er bekämpfte den Antisemitismus in Wort und Schrift und betonte, dass religiöse Werte und Traditionen in keinem Gegensatz zu modernen Erkenntnissen der Wissenschaft oder zur gesellschaftlichen Integration der Juden stünden. Herzog war selbst Mitglied in einer Reihe von Grazer nichtjüdischen Vereinen, gleichzeitig stellte er in wissenschaftlichen Publikationen zur mittelalterlichen Geschichte die Juden als in die steirische Gesellschaft integriert dar. Seine Bemühungen konnten den Niedergang der Gemeinde nicht verhindern. Nach schrecklichen Misshandlungen im Zuge des Novemberpogroms, dem auch die Grazer Synagoge und die Zeremonienhalle zum Opfer fielen, entschloss sich Rabbiner Herzog zur Flucht nach England.3

Wie Lamprecht am Beginn seiner Studie ausführt, wurde die Grazer Synagoge 2000 neuerlich eingeweiht. Treibende Kräfte hinter ihrer Wiedererrichtung waren nicht Mitglieder der Kultusgemeinde, sondern Nichtjuden, die damit ihrerseits – trotz mittelalterlicher Vertreibung, Jahrhunderte langem Ansiedlungsverbot und Vernichtung in der Shoah – eine Kontinuität der jüdischen Geschichte in der Steiermark konstruieren wollten. Lamprecht beschreibt einerseits Identitätskonstruktionen und Narrative, bleibt bei seiner Darstellung der Grazer jüdischen Gemeinde jedoch einem genauen Quellenstudium und objektivierbaren Fakten verbunden. Die Verbindung dieser beiden Herangehensweisen macht das Buch zu einer spannenden Lektüre, welche durch eine weitere Straffung der methodischen Abhandlungen noch gewonnen hätte.

Anmerkungen:
1 Den Anfang machte Hugo Gold mit seinen „Gedenkbüchern“ zu den untergegangenen Gemeinden, obwohl sich diese auch mit älterer Geschichte befassten. Allerdings sind diese Publikationen nur beschränkt von wissenschaftlichem Wert. Vgl.: Gold, Hugo, Geschichte der Juden in Wien. Ein Gedenkbuch, Tel Aviv 1966; ders., Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes, Tel Aviv 1970; ders., Geschichte der Juden in Österreich, Tel Aviv 1971. Zur modernen Geschichtsschreibung über jüdische gemeinden vgl. auch: Albrich, Thomas (Hrsg.), „Wir lebten wie sie …“. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 1999; Lind, Christoph, „… es gab so nette Leute dort“. Die zerstörte jüdische Gemeinde St. Pölten, St. Pölten 1998; ders., „… sind wir doch in unserer Heimat als Landmenschen aufgewachsen …“. Der „Landsprengel“ der Israelitischen Kultusgemeinde St. Pölten: Jüdische Schicksale zwischen Wienerwald und Erlauf, St. Pölten 2002; ders., „Der letzte Juden hat den Tempel verlassen“. Juden in Niederösterreich 1938-1945, Wien 2004; Rabinovici, Doron, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt am Main 2001; Walzl, August, Die Juden in Kärnten und das Dritte Reich, Klagenfurt 1987; Heinz, Eybel, Verdrängt und vergessen, Die jüdische Gemeinde in Mistelbach, Mistelbach 2003. Einen breiteren Geschichtsraum behandeln: Altmann, Adolf; Embacher, Helga; Fellner, Günter, Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg: Von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart, weitergeführt bis 1988 von Günter Fellner u. Helga Embacher [Neuaufl. in 1 Bd., EA Berlin 1913], Salzburg 1990; Brettl, Herbert, Die jüdische Gemeinde Frauenkirchen, Oberwart 2003; Reiss, Johannes, „… weil man uns die Heimatliebe ausgebläut hat …“. Ein Spaziergang durch die jüdische Geschichte Eisenstadts, Eisenstadt 2001; siehe auch ders., Aus den Siebengemeinden, ein Lesebuch über Juden im Burgenland (aus Anlaß des Jubiläums 25 Jahre Österreichisches Jüdisches Museum), Eisenstadt 1997; Sulzgruber, Werner, Die jüdische Gemeinde in Wiener Neustadt von ihren Anfängen bis zu ihrer Zerstörung, Wien 2005. Für die Zeit nach 1945 siehe: Adunka, Evelyn, Die vierte Gemeinde, Berlin u.a. 2000.
2 Milchram, Gerhard, Heilige Gemeinde Neunkirchen. Eine jüdische Heimatgeschichte, Wien 2000.
3 Vgl.: Höflechner, Walter (Hrsg.), David Herzog: Erinnerungen eines Rabbiners 1932-1940, Graz 1997.

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