A. Wirsching u.a. (Hrsg.): Vernunftrepublikanismus

Titel
Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft


Herausgeber
Wirsching, Andreas; Eder, Jürgen
Reihe
Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Wissenschaftliche Reihe 9
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolai Wehrs, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der vorliegende Band führt die Vorträge eines Kolloquiums der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus zusammen, das sich 2006 dem Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik widmete. Zeitgenössisch diente der Terminus „Vernunftrepublikaner“, ausgehend von Friedrich Meinecke, jener Minderheit der alten bürgerlichen Eliten des Kaiserreiches zur Selbstbezeichnung, die sich nach 1918 zu einer bedingten Bejahung der republikanischen Staatsform durchrangen.1 Wer ihn nach 1945 in der Wissenschaft wieder aufgriff, dem diente er meist dazu, „Vernunftrepublikaner“ und „Gesinnungsrepublikaner“ voneinander abzugrenzen und entweder erstere für ihre Halbherzigkeit zu rügen, oder aber solche Versuche als unhistorisches Anlegen der Elle des Bonner Grundgesetzes an frühere Zeiten zurückzuweisen und die charakterliche „Anständigkeit“ der Vernunftrepublikaner herauszustreichen.2 Dieser Diskurs hat sich mittlerweile merklich erschöpft, wie im vorliegenden Band der eher gelangweilte Beitrag von Horst Möller über die drei bekanntesten Vernunftrepublikaner – Friedrich Meinecke, Thomas Mann und Gustav Stresemann – bestätigt.

Andreas Wirsching und Jürgen Eder, die beiden Herausgeber, wollen stattdessen den Vernunftrepublikanismus als historische Kategorie neu etablieren, indem sie den Begriff erheblich erweitern. Wirsching beschreibt den Vernunftrepublikanismus in seiner Einleitung als einen „konzentrischen Kreis, der von allen Richtungen her betretbar war“ (S. 11). Er nimmt an, dass sich darin weit mehr Personen als gemeinhin vermutet aufhielten, die sich jedoch aufgrund der politisch-ideologischen Fragmentierung der Weimarer Gesellschaft nicht oder zu wenig erkannten. Als Mindestanforderungen an einen Vernunftrepublikaner gelten ihm ein öffentliches Bekenntnis zur Republik, eine über die pragmatische Anerkennung hinausreichende positive Legitimierung der neuen Staatsform und eine zumindest ansatzweise kritische Reflexion des Kaiserreichs. Ansonsten aber rückt die Frage nach dem funktionalen Verhältnis verschiedener politisch-gesellschaftlicher Kräfte zur Weimarer Republik ins Zentrum des Interesses. Wer hat wann bzw. bis wann die Republik „als die zweckmäßigste aller Möglichkeiten“ erachtet, um eigene Interessen durchzusetzen?

Eine solche Erweiterung birgt freilich auch die Gefahr einer begrifflichen Entgrenzung. Tatsächlich entwickeln zwar die vierzehn Beiträge des Bandes ein abwechselungsreiches Bild von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Literatur der Jahre von 1918 bis 1933. Gewichtet man aber (wie es im Folgenden geschehen soll) nur das, was zur Etablierung einer Kategorie Vernunftrepublikanismus beitragen kann, so findet man die Ansätze dazu doch eher in jenen Texten, die sich an ein engeres und herkömmlicheres Verständnis des Terminus halten.

Dazu zählt etwa der Beitrag von Thomas Hertfelder über den Kreis um die von Friedrich Naumann gegründete Zeitung „Die Hilfe“, der in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) so etwas wie intellektuelle Meinungsführerschaft für sich reklamierte. Hertfelder zeigt die ambivalente Pfadabhängigkeit dieses Kreises auf, dessen – meist zwischen 1860 und 1885 geborenen und ergo bereits vor 1914 arrivierten – Anhänger im Sinne Naumanns schon im Kaiserreich Monarchie und Demokratie nicht nur zusammengedacht, sondern die Verkörperung des demokratischen Moments gerade in der Integrationsleistung des Monarchen qua persönlichen Charismas gesucht hatten. Nachdem der letzte deutsche Monarch als Integrator gescheitert war, übertrugen die „Naumannianer“ ihre Hoffnung einer ideellen Überbrückung der sozialen Klassentrennung durch die nationalen „Volksgemeinschaft“ auf die Republik. Dies war durchaus eine positive Legitimierung, die über einen (oftmals unterstellten) Vernunftrepublikanismus „ex negativo“ (mangels Alternative bzw. bloß instrumental zur Abwehr eines bolschewistischen Umsturzes)3 deutlich hinausging und mit einem geschichtsphilosophischen Rekurs auf den deutschen Idealismus zusätzlich unterfüttert wurde. Basis dieses Demokratieverständnisses war aber stets ein idealistisches Bild vom „Volk“ als höherer organischer Einheit.

Ganz ähnlich charakterisiert Béatrice Bonniot den preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, der in der neuen Staatsform „die Entwicklungsform des Mannesalters eines Volkes“ (S. 301) erkennen wollte. Republik und Demokratie wurden hier als Ausdruck des Ideals der Erziehung zur Selbstverantwortung positiv legitimiert – und Beckers Einsatz für eine demokratieorientierte Politische Bildung war in diesem Sinne beachtlich. Doch gegenüber Parlamentarismus und Parteiwesen als Ausdrucksformen demokratischen Interessenpluralismus blieb er ablehnend und wünschte sich (gemäß seinem eigenen Amtsverständnis) eine rein „sachorientierte“, „unpolitische“ Expertenregierung.

Der Wunsch nach Verwirklichung einer organisch (aber nicht biologistisch!) gedachten „Volksgemeinschaft“ ermöglichte also erst den Vernunftrepublikanismus. Die ihm innewohnende antiindividualistische Tendenz verhinderte jedoch zugleich eine volle Anerkennung der pluralistischen Massendemokratie. Der politische Katholizismus konnte das Prinzip der „Volkssouveränität“, wie Elke Seefried zeigt, ohnehin nur begrenzt verinnerlichen, da in letzter Instanz nur „Gott“ als Schöpfer von Staatsgewalt in Frage kam. Auf der Ebene darunter aber anerkannte die „Staatsneutralitätsthese“ der katholischen Staatslehre jede Regierungsform, so sie dem Gemeinwohl diente und das Recht der Kirche achtete. Tatsächlich konnte die Zentrumspartei in der Weimarer Verfassung mehr eigene Programmatik unterbringen, als im Bismarckreich je denkbar gewesen wäre. Bis 1932 war sie an allen Reichsregierungen und der Koalition in Preußen beteiligt. Dennoch ging die Anerkennung der parlamentarischen Regierungsform auch hier bereits Mitte der 1920er-Jahre zurück. In den frühen 1930er-Jahren versuchte das Zentrum dann, seinen ohne Parlament regierenden Reichskanzler zum „Führer Brüning“ zu stilisieren. Noch dürftiger nahm sich, Matthias Wolfes zufolge, der Vernunftrepublikanismus im kulturprotestantischen Milieu aus. Hier wurde der „Widerspruch zwischen der Kraft tief eingesenkter antidemokratischer Ressentiments und dem ebenfalls fest verankerten Motiv der Loyalität zum Staat“ (S. 224) fast durchgängig zugunsten der ersteren aufgelöst.

Interessanterweise scheint sich gerade dort ein Lichtblick geboten zu haben, wo eine geschichtsphilosophische oder staatstheoretische Legitimierung der Republik gar nicht erst unternommen wurde. Der „Reichsverband der Deutschen Industrie“ (RDI) pflegte laut Wolfram Pyta schon deshalb ein pluralistisches Gesellschaftsverständnis, weil er sich selbst als Interessengruppe definierte und das parlamentarische System zur intensiven Lobbyarbeit nutzte. Die Entmachtung des Reichstags durch die Präsidialkabinette ab 1930 wurde daher durchaus mit der Sorge um schwindende Einflussmöglichkeiten beobachtet, zumal Reichspräsident Hindenburg als Mann der Agrarlobby galt. Als systemstabilisierend wertet Pyta auch das an Außenhandelsinteressen orientierte Eintreten des RDI für die „Erfüllungspolitik“. In der Endphase der Republik hätten dann allerdings innere Friktionen und die Option der schwerindustriellen Verbandsteile für die „nationale Opposition“ zur Handlungsunfähigkeit des Verbandes geführt.

Die Erweiterung der Kategorie Vernunftrepublikanismus sucht der Band vor allem durch die neu eingeführte Unterkategorie „Vernunftrepublikanismus von links“ zu leisten. Der monarchistischen Tradition der Rechten wird dabei die sozialistisch-utopische Tradition der Arbeiterbewegung entgegengestellt und nach den Möglichkeiten eines reflektierten Utopieverzichts von links unter den Bedingungen der Weimarer Demokratie gefragt. Rüdiger Graf stellt den in seiner Eigenart höchst bemerkenswerten sozialistischen Politiker Heinrich Ströbel vor, der in seinen Schriften stets radikal-utopische Visionen mit dem permanenten Ruf nach „reiner Vernunft“ vereinigte. Ströbels „Vernunft“ gründete aber im höchst idealistischen Glauben an die „höhere“ Vernünftigkeit der „Massen“ und unterschied in Kategorien von Wahrheit und Falschheit. Zu auch nur tagespolitischen Kompromissen mit konkurrierenden politischen und sozialen Kräften sah er sich außerstande – womit ihm gerade das abging, was Vernunftrepublikanismus in der Praxis ausmachen sollte. Den Kommunismus als säkular-religiöse Heilslehre verwerfend, selbst aber eine „Religion der Sozialisierung“ predigend (S. 148), pendelte er mehrmals zwischen SPD, USPD und SAPD, bis ihn politisch kaum noch jemand ernst nahm. Noch wesentlich radikaler verliefen die Konversionen des Historikers Arthur Rosenberg, den Mario Kessler untersucht. Im Ersten Weltkrieg noch „Nationalist“, wurde er Anfang der 1920er-Jahre Wortführer des ultralinken Flügels der KPD, um die Partei dann 1927 als „Rechtsabweichler“ wieder zu verlassen. Den Terminus des Vernunftrepublikaners mag Kessler auf Rosenberg allerdings nicht anwenden.

Überhaupt findet sich in den Beiträgen vielerorts grundsätzliche Kritik an der Kategorie des Vernunftrepublikanismus. Matthias Wolfes stört sich an ihrer „unerfreulichen Bedeutungsweite“ (S. 229). Auch Christoph Gusy findet das Konzept „inhaltsarm und wenig abgrenzungsfähig“ (S. 217). Dabei kann gerade er am Beispiel der Weimarer Staatsrechtswissenschaft aufzeigen, wie der herrschende Rechtspositivismus eine zumindest formelle Akzeptanz der Republik begünstigte. Aus Sicht der Staatsrechtler war die Revolution von 1918 ebenso ein Rechtsbruch wie eine Schöpfung neuen Rechts. Wer in Weimar Staatsrecht betrieb, tat dies auf der Grundlage der Weimarer Verfassung. Nur ließen sich am Verfassungstext als solchem eben auch antipluralistische Konzepte festmachen – und wenn etwa Wilhelm Kahl Verfassungstreue in „Staatstreue“ übersetzte, mag Gusy darin nicht mehr als einen „Verlegenheitsrepublikanismus“ erkennen.

Der Blick auf die Wissenschaften zeigt allenthalben die hoffnungslose Schwäche der Vernunftrepublikaner an den deutschen Universitäten. Im Fach Philosophie war, Thomas Meyer zufolge, der Kreis der Republikaner fast deckungsgleich mit dem der späteren NS-Opfer. Mit Blick auf die Naturwissenschaftler Max Planck, Fritz Haber und Albert Einstein, meint Margit Szöllösi-Janze einen Dienst an der Republik darin zu erkennen, dass die drei Nobelpreisträger ihren Weltruhm nutzten, um die deutsche Isolierung in den internationalen Wissenschaftsverbindungen nach dem Ersten Weltkrieg aufzubrechen. Dass dies unabhängig von einem Bekenntnis zur republikanischen Staatsform war, zeigt das Beispiel Plancks. Interessant ist immerhin, dass Fritz Haber sich offenbar für eine innere Demokratisierung wissenschaftlicher Institutionen stark machte.

Selbst die der Weimarer Literatur gewidmeten Beiträge vermögen nur ansatzweise die Kategorie des Vernunftrepublikanismus gewinnbringend zu erhellen. Am ehesten gelingt dies Jürgen Eder, der mit Alfred Döblin wiederum einen bürgerlichen Intellektuellen untersucht, welcher „seine“ Klasse (als die er das Bürgertum durchaus bewusst anerkannte) zum Bündnis mit der Arbeiterschaft zwecks Überwindung der Klassenspaltung bereden wollte. Doch der linksrepublikanische „Gefühlssozialist“ scheiterte daran, seine künstlerisch-ästhetischen Ansprüche mit der Profanität der Tagespolitik in Einklang zu bringen. In seiner aggressiven Parteienschelte erinnert er stark an die Vernunftrepublikaner von rechts. Sylke Kirschnick muss dagegen einige Verrenkungen machen, um die kulturkonservative Zeitkritik der Schriftstellerin Gabriele Tergit unter die Kategorie des Vernunftrepublikanismus zu subsumieren. Was schließlich Sascha Kiefer über Willy Haas und „Die literarische Welt“ zu berichten weiß, ist zwar lesenswert, doch handelt es sich bei dem Blatt eindeutig um ein linksrepublikanisch-demokratisches Projekt.

So ist am Ende eines durchaus anregenden Ausflugs in die politische Kultur Weimars wohl nicht die Etablierung einer neuen wissenschaftlichen Kategorie zu konstatieren. Vielmehr möchte man mit Christopher Gusy nach dem Sinn einer „wenig trennscharfen Differenzierung unterschiedlicher Gruppen und Grüppchen von Republikanern“ (S. 217) fragen. Bei ihrem zeitgenössischen Urheber, Friedrich Meinecke, richtete sich die Selbstbezeichnung „Vernunftrepublikaner“ nicht gegen „Gesinnungsrepublikaner“. Ihm ging es um einen Appell an die bürgerlichen Gegner der Republik, denen er mit der Zusammenführung von „Vernunftrepublikanismus“ und „Herzensmonarchismus“ eine goldene Brücke für einen möglichst schmerzlosen Übergang in die neue Zeit schlagen wollte.4 Dass kaum jemand über diese Brücke ging, kann die Wissenschaft nur feststellen, aber durch Begriffserweiterung nicht ändern.

Anmerkungen:
1 Meinecke, Friedrich, Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: ders., Politische Schriften und Reden, hg. und eingeleitet von Georg Kotowski, Stuttgart 1958, S. 280-298.
2 Vgl. als Beispiele für die unterschiedlichen Standpunkte etwa Gay, Peter, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur der Weimarer Zeit 1918-1933, Neuausgabe Frankfurt am Main 1987, S. 44ff.; Klueting, Harm, „Vernunftrepublikanismus“ und „Vertrauensdiktatur“. Friedrich Meinecke in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 69-98. Einen guten Eindruck über die Diskussion vermitteln auch Erdmann, Karl Dietrich; Schulze, Hagen (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz von heute, Düsseldorf 1980, S. 292-302.
3 Vgl. Faulenbach, Bernd, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, S. 249.
4 Vgl. u.a. Wehrs, Nikolai, Demokratie durch Diktatur? Meinecke als Vernunftrepublikaner in der Weimarer Republik, in: Bock, Gisela; Schönpflug, Daniel (Hrsg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006, S. 95-118.

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