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Titel
Der Wiener Stephansdom. Architektur als Sinnbild für das Haus Österreich


Autor(en)
Böker, Johann J.
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Telesko, Kommission für Kunstgeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Der Autor, Leiter des Instituts für Baugeschichte an der Universität Karlsruhe (TH) hat mit seinem im Verlag Anton Pustet im Jahr 2005 veröffentlichten Bestandskatalog der weltweit größten Sammlung von gotischen Baurissen in der Akademie der bildenden Künste in Wien großes Aufsehen erregt. Bereits im Jahr 2001 hatte er in mehreren Beiträgen zur Baugeschichte von St. Stephan in Wien die Stellung des Dombaumeisters Laurenz Spenning in den Vordergrund gerückt und bereits damit eine neue Sicht der Entstehung des Stephansdoms vorgelegt.

Bökers neue Publikation versucht nicht weniger als eine komplett neue Sicht der Baugeschichte des wohl wichtigsten mittelalterlichen Baudenkmals in Österreich, des Wiener Stephansdoms. In methodischer Hinsicht hat es sich der Autor zur Aufgabe gemacht, zwei zentrale Themenbereiche zu behandeln – zum einen eine Neubewertung der Bau- und Ausstattungsgeschichte aufgrund petrographischer, quellenmäßiger und stilkritischer Untersuchungen, zum anderen eine Beurteilung des Kirchenbaus in seiner Funktion als „zentrales Identifikationsobjekt“ (S. 16) für das „Haus Österreich“. Gerade letzter Begriff ist in seiner vereinnahmenden Verwendung für das Mittelalter nicht ganz unproblematisch, bezeichnete man doch erst ab 1500 das ganze von den Habsburgern beherrschte Gebiet als „Haus Österreich“. „Herrschaft zu Österreich“ und „Haus Österreich“ waren dergestalt gleichsam Substitute von Staatsnamen für das ganze – erst später zu einem Staat zusammenwachsende – Länderkonglomerat. Böker weist in diesem Zusammenhang auch auf das Faktum hin, dass St. Stephan die Funktion einer Kathedrale erst im Jahr 1469 und somit nach (!) weitgehendem Abschluss der Arbeiten erhielt (S. 16). Die besondere Konstellation von St. Stephan drückt sich besonders in den multiplen Funktionen als „Königskathedrale“, „Bürgerdom“, Stiftskirche und Bischofssitz aus (S. 18). Nicht ganz unproblematisch ist dabei, dass der Autor mehrmals und nachdrücklich das „Miteinander der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte der Zeit“ (S. 18) betont, somit die Realisierung des Domes gleichsam als unmittelbares Resultat eines gesellschaftlichen Prozesses, einer „gemeinschaftsstiftenden Aufgabe“ (S. 19), deutet.

Das hervorragend gedruckte und bebilderte Buch ist in äußerst übersichtlicher Weise in sechs Kapitel gegliedert, die jeweils einen Bauabschnitt markieren (Vorgängerbau, Ausbau unter Rudolf IV., der südliche Hochturm, Langhaus, Langhaus unter Friedrich III. und der unvollendete Nordturm). Hinsichtlich der Chronologie von St. Stephan schlägt Böker vom 13. bis zum 15. Jahrhundert eine im Wesentlichen neue Abfolge der Bauphasen und Anteile der Baumeister vor, die von der bisherigen Forschung nicht unwesentlich abweicht. Die erste Urkunde, welche St. Stephan betrifft, stammt aus dem Jahr 1137, als der Passauer Bischof und der österreichische Markgraf durch einen Grundstückstausch die Erweiterung Wiens über die römisch-frühmittelalterlichen Mauern hinaus ermöglichten. Von der ersten, am 23. April 1147 geweihten Kirche sind im Westwerk noch geringe Reste erhalten. Böker meint, dass der bestehende Westbau mit seinen beiden Türmen und der zugehörigen Kreuzbasilika erst gegen 1220 begonnen wurde, als St. Stephan zum ersten Mal historisch zweifelsfrei belegt ist (S. 53). Ein Brand im Jahr 1258 machte eine Wiederherstellung bis zur Weihe (1263) notwendig. Zwischen 1305 und 1340 wurde die romanische Kirche um einen gotischen Hallenchor erweitert, der nach dem damals herrschenden und den Bau fördernden Herzog Albrecht II. „Albertinischer Chor“ genannt wird.

Für die Aktivitäten der nächsten Phase korrigiert Böker die bisherige Sichtweise insofern, als Herzog Rudolf IV., genannt der Stifter (reg. 1359–1365) dem Autor zufolge weniger Interesse am Langhaus hatte als vielmehr an einer Erweiterung der frühgotischen Basilika durch den Ausbau eines neuen Stiftschores und die Anfügung eines westlichen Kapellenpaares, das den bestehenden Westbau flankierte. Die Intention einer umfangreichen Kirchenerweiterung, die bisher mit Rudolf in Verbindung gebracht wurde, weist Böker zurück. Herzog Rudolf IV. setzte somit bewusst formulierte Akzente im Westen wie im Osten, da der Chor für seine Stiftsgründung und seine Grablegung Bedeutung besaß, das westliche Kapellenpaar aber als privates Oratorium der Kommemoration des Herrscherhauses dienen sollte (S. 95). Rudolf – bislang als Bauherr des reichgegliederten Langhauses angesehen – erscheint nun gleichsam als Umgestalter des älteren „Albertinischen“ Domchores. Den von Rudolf initiierten und vollständig ausgeführten südlichen Hochturm deutet der Autor als ein weithin sichtbares „Symbol [...] für den Zusammenhalt aller Gruppen der Gesellschaft unter habsburgischer Krone“ (S. 131). Der Anteil Rudolfs des Stifters am Gesamtbau wird von Böker nicht unwesentlich reduziert, wenn er die Errichtung des Hallenlanghauses, deren Initiative bisher dem Herzog zugeschrieben wurde, in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts verlegt (S. 175).

Bökers Sicht einer Revision der bisherigen Chronologie der Entstehung des Domlanghauses führt den Autor zur Feststellung, dass von ihm der bereits genannte Laurenz Spenning in entscheidender Weise für das spätmittelalterliche Erscheinungsbild des Domes verantwortlich gemacht wird (S. 252f.). Diesem Baumeister werden von Böker der „Friedrichsgiebel“, die Singertorvorhalle, die Einwölbung, die Westempore, zwei der drei Altarbaldachine sowie der von Böker erstmals als zu St. Stephan gehörend identifizierte Entwurf des Lettners zugeordnet (S. 252). Der von der bisherigen Forschung eben für diese Teile namhaft gemachte Hans Puchsbaum besitzt in Bökers Sicht eine geringere Bedeutung. Auch die Ausführung des Nordturms, bislang als Hauptwerk Puchsbaums angesehen, wird von Böker – aufgrund einer Zuschreibung erhaltener Planzeichnungen – Spenning zugeordnet, der im Jahr 1477 starb (S. 319). So wie der Südturm (1433 fertiggestellt) als eine Initiative Rudolfs des Stifters zu bezeichnen ist, kann der Nordturm (Arbeiten 1513 eingestellt) von St. Stephan als Unternehmen Kaiser Friedrichs III. angesehen werden.

Die offensichtliche Schwierigkeit der Erstellung einer Baugeschichte von St. Stephan in Wien besteht im Vorhandensein einer Vielzahl heterogener Bauteile, für deren Errichtung in unterschiedlichen Bauzeiten unterschiedliche Bauherren (Landesfürst, Klerus und Kommune) maßgeblich gewesen sind. Eine wesentliche Frage in diesem Zusammenhang ist, ob Bökers Bild von St. Stephan als Resultat „der Gemeinschaft aller an seinem (an St. Stephan [W.T.]) Zustandekommen beteiligten Gruppen“ (S. 320) nicht eine nachträgliche Verklärung der komplexen historischen Situation darstellt. Die solcherart vom Autor postulierte „Gemeinschaftsaufgabe aller maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppierungen der Zeit“ (S. 321) ist wohl eher auch das Resultat einer synthetisierenden Sicht des Historikers, war doch – wie Böker richtig feststellt – der Stephansdom kein Projekt eines Bauherrn in überschaubarer Zeit. Auch kann die Realisierung des Baus als Ergebnis einer „Vielzahl von künstlerischen Einzelentscheidungen von Architekten und Bauherrn“ (S. 322) angesehen werden. Gerade mit der breit diskutierten Frage der stilistischen „Historismen“ am Wiener Stephansdom ist umfangreicher Raum für neue Fragestellungen gegeben. Es kann als sicher angenommen werden, dass mit Bökers Publikation die stilistische und inhaltliche Diskussion zu St. Stephan nicht beendet sein wird. Der Autor hat mit seinen umfangreichen und innovativen Überlegungen die kunstgeschichtliche und historiographische Forschung zum Teil in geradezu herausfordernder Weise angesprochen, was einmal mehr bestätigt, dass der Stephansdom seit dem 19. Jahrhundert nicht nur ein Monument der bildenden Kunst, sondern der wissenschaftlichen Diskussion überhaupt darstellt.

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