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Titel
Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfeld


Herausgeber
Samerski, Stefan
Reihe
Forsch. zur brandenburgischen und preussischen Geschichte NF. Beih. 5
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Freytag, Lehrstuhl Prof. Dr. Wolfram Siemann LMU München, Institut für Neuere Geschichte

Angesichts der zahlreichen Biographien überrascht es, wie sehr der Aspekt des Religiösen bei Wilhelm II. bisher vernachlässigt wurde. Dabei maßen schon hellsichtige Zeitgenossen den religiösen Vorstellungen ihres Monarchen einen zentralen Stellenwert bei. In seiner berühmten Schmähschrift „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“ (1894) geißelte etwa der linksliberale Publizist, Historiker und spätere Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde den überspannten Geltungsdrang und das religiöse Sendungsbewußtsein des jungen Kaisers. Die Gretchenfrage stellt sich bei Wilhelm II. in besonderer Schärfe, weil dessen Religiosität unmittelbar auf sein zumeist unberechenbares politisches Handeln durchschlagen konnte. Diesem wichtigen Problemzusammenhang widmet sich der vom katholischen Kirchenhistoriker Stefan Samerski (München/Leipzig) herausgegebene Sammelband.

Einer knappen Einleitung des Herausgebers schließen sich zehn Beiträge an, in denen Historiker, Theologen, ein Kunsthistoriker sowie ein Kulturmorphologe sowohl religiösen Einstellungen Wilhelms als auch Zuweisungen von außen nachspüren. Ein Beispiel für solche Außensichten gibt der Schriftsteller und Hofmannsthal-Freund Rudolf Borchardt in seinem 1908 aus Anlaß des 20jährigen Thronjubiläums veröffentlichten Porträt „Der Kaiser“. Patrick Bahners erläutert dieses Beispiel detailliert und bettet es ein in kulturhistorische Strömungen der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts: Danach überhöhte Borchardt den Hohenzollern zum mythischen Halbgott und Erlöser; nicht nur wegen des Daily-Telegraph-Desasters im gleichen Jahr eine wenig breitenwirksame Stilisierung. Die religiösen Grundlegungen im Erziehungsprogramm Wilhelms verfolgt anschließend Martin Friedrich. Dem zwischen 1866 und 1877 für die zivile Erziehung des Kronprinzensohnes zuständigen Georg Ernst Hinzpeter diente Religion zuallererst als elementares Mittel der Charakterbildung, und Friedrich kann auf archivalischer Basis plausibel machen, daß der aus einer Mischehe stammende Hinzpeter seinen Religionsunterricht überkonfessionell und undogmatisch anlegte, also keinesfalls calvinistisch wie viele Biographen annehmen.

Die drei folgenden Beiträge stellen Fragen nach dem Verhältnis des Kaisers zum Protestantismus in den Mittelpunkt. Zunächst befaßt Klaus Erich Pollmann sich mit der Rolle Wilhelms II. als Oberhaupt der altpreußischen Landeskirche. Rigoros setzte der Summus Episcopus seinen Willen in kirchenpolitischen Fragen auch gegenüber dem Evangelischen Oberkirchenrat durch. Der bereits durch zahlreiche Publikationen zum Thema ausgewiesene Experte Pollmann unterstreicht, wie „biegsam“ (S. 102) protestantische Kreise sich der inszenierten äußerlichen Frömmigkeit am Hofe anpaßten und dem unzeitgemäßen landesherrlichen Kirchenregiment folgten. Mit der christlich-sozialen Bewegung Adolf Stoeckers untersucht Norbert Friedrich sodann eine religiös grundierte Facette kaiserlicher Sozialpolitik; der junge Wilhelm wollte unbedingt die Arbeiter der Sozialdemokratie wieder entfremden und glaubte, in der Partei des Hofpredigers ein geeignetes Instrument gefunden zu haben, zumal er und Stoecker sich in einer antisemitischen Grundgesinnung trafen. Deutlich wird in der Untersuchung, wie sehr das Schicksal dieser Organisation von der kaiserlichen Unterstützung abhing, und wie wenig sie sich auch nach der berüchtigten schroffen Abkehr (1896: „christlich-sozial ist Unsinn“) von dem Monarchen und seinen vorgeblich modernen theologischen Vorstellungen lösen konnte. Schließlich analysiert Bastiaan Schot die Haltung der evangelischen Kirche in den aus den Teilungen Polens gewonnenen preußischen Gebieten. Die Kirche stuft er dabei keineswegs als nur „willenloses Werkzeug“ (S. 170) staatlicher Germanisierungsabsichten ein. Vielmehr widerstrebte sie verschiedentlich einer einseitig an dem Erwerb der deutschen Sprache ausgerichteten Polenpolitik, weshalb Radikalnationalisten sie als unsicheren Faktor betrachteten.

Den Beziehungen Wilhelms zum Katholizismus sind die beiden folgenden Beiträge verschrieben. Sieht man über die eigentümliche These von Jürgen Strötz hinweg, daß Wilhelm II. eine konfessionelle Annäherung zwischen Katholiken und Protestanten bewerkstelligt habe, „deren positive Folgen erst heute sichtbar“ seien (S. 198), dann wird in seiner Analyse immerhin die Basissympathie des Monarchen für die Katholiken deutlich – bei gleichzeitiger harscher Ablehnung des Zentrums –, die zu einem beträchtlichen Teil in der auf konfessionellen Ausgleich bedachten Erziehung Hinzpeters wurzelte. Beachtenswert sind die auf vatikanischen Archivalien fußenden Deutungen des Herausgebers Stefan Samerski über die Beziehungen zwischen Kaiser und Päpsten, die phasenweise in einem „abendländischen Schulterschluß“ in der sozialen Frage gipfelten – wie etwa auf der 1890 in Berlin tagenden Internationalen Arbeiterschutzkonferenz (S. 215). Samerski interpretiert die vatikanisch-kaiserlichen Kontakte als unsteten und letztlich fehlgeschlagenen universalistischen Herrschaftsanspruch Wilhelms in karolingisch-ottonischer Tradition. Diese Verbindungen reichten bis hin zu – wenn auch vagen, aber innerhalb der römischen Kurie höchst aufmerksam verfolgten – Konversionsabsichten des Monarchen.

Ehe Walter Eykmann die Grundzüge des Religionsunterrichts im Kaiserreich nachzeichnet, stellt Jürgen Krüger das sozial wie christlich motivierte Kirchenbauprogramm des Hohenzollern vor; in ihm spiegelten sich Gottesgnadentum und universeller Geltungswille wider. Vor allem an den Beispielen der Erlöserkirche in Bad Homburg vor der Höhe, der Deutschen Evangelischen Kirche in Rom sowie der Restaurierung der Wittenberger Schloßkirche schält Krüger die architektonischen Eingriffe Wilhelms II. und die damit verfolgten religionspolitischen Ziele heraus. Den Band beschließen Michael Spöttels Darlegungen zum kulturgeschichtlichen Interesse Wilhelms im Doorner Exil: Die These vom sakralen Königtum, das Leo Frobenius in Afrika und Asien ausmachte, faszinierte den Kaiser wohl auch deshalb, weil es ihn hoffen ließ, sein persönliches Schicksal wieder zu wenden und in sein Amt zurück zu gelangen.

Manche Beiträge verlieren zeitweilig die Problemstellung aus dem Auge (etwa Bastiaan Schot) und gelegentlich wird allzu Bekanntes ausführlich ausgebreitet (etwa Walter Eykmann). Wünschenswert wären neben einem Beitrag zum umstrittenen Verhältnis Wilhelms II. zum Judentum (für den der Herausgeber vergeblich einen Verfasser gesucht hat, S. 12) auch Ausführungen zu den immer wieder greifbaren spiritistischen Neigungen des Kaisers gewesen, um das Spannungsverhältnis zwischen althergebrachten und modernen Religionsvorstellungen auszuleuchten. Bisweilen vermißt man auch die jüngeren Forschungsergebnisse der Sozialgeschichte der Religion, die sich in keinem Beitrag finden; beide Seiten könnten stärker voneinander profitieren. 1 Wenn auch einige Gesichtspunkte des vorliegenden Sammelbands in dem nahezu zeitgleich erschienenen zweiten Teil der voluminösen Wilhelm-Biographie Röhls behandelt werden, wie etwa zum Kirchenbau und zu Stoeckers Bewegung, so bleiben die religiösen Einstellungen des Kaisers dort merkwürdig blaß. 2 Insgesamt dokumentieren die Beiträge überzeugend, wie unmittelbar religiöse Herrschaftsauffassung und christliches Selbstverständnis Wilhelms II. auf sein launenhaftes politisches Wirken durchschlugen. Erfreulicherweise runden ein Orts- und Personenregister sowie eine tabellarische Übersicht zu den biographischen Lebensdaten Wilhelms II. den Band ab.

Anmerkungen:
1 Genannt sei hier nur: Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996.
2 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, München 2001.

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