Rez. MA: M. Prietzel, Guillaume Fillastre

Cover
Titel
Guillaume Fillastre der Jüngere (1400/07-1473). Kirchenfürst und herzoglich-burgundischer Rat


Autor(en)
Prietzel, Malte
Reihe
Beihefte der Francia 51
Erschienen
Stuttgart 2001: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
586 S., 4 Tafeln
Preis
€ 65,45
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Kintzinger, Historisches Seminar der LMU München Email:

Guillaume macht es seinem Biographen nicht leicht. Nur auf den ersten Blick eine glatte Karrieregeschichte, war sein Leben von Beginn an mit Belastung behaftet, von Rückschlägen, vor allem von Spannungen und Widersprüchen gezeichnet, bei allem Erfolg immer taktisch klug kalkuliert, auf Wirkung berechnet und auf Selbstinszenierung und er selbst in allem notwendig ein Mensch seiner Zeit. Eine prallvolle Biographie – und ebenso beschrieben von Malte Prietzel. Keine leichte Kost ist das Buch geworden, nichts nur für schnelle, kursorische Lektüre, hingegen eine Fundgrube für den interessierten Leser, der Zeit und Mensch kennenlernen will. Er wird belohnt: Zu dem intellektuellen Vergnügen an einer gut geschriebenen Darstellung, dem fachlichen Respekt vor der Erschließungs- und Interpretationsleistung des Verfassers kommt das buchstäblich sinnliche Erleben hinzu, den „Helden“ in seinen rastlosen Tagen zu begleiten.

Prietzel (geb. 1964) ist für Akribie bekannt. Bereits in seiner Dissertation von 1995 über die Kalande im spätmittelalterlichen Niedersachsen war auf über 600 Seiten Umfang davon zu erfahren. Das vorliegende Werke ist die Druckfassung seiner Habilitationsschrift, die er an der Berliner Humboldt-Universität abgeschlossen hat. Es wird fortan als Standardwerk nicht nur der aktuellen mediävistischen Biographik, sondern auch als fundamentaler Beitrag zur gegenwärtigen Erforschung der Politik, Hofkultur und Prosopographie des spätmittelalterlichen Burgund gelten, wie sie wesentlich vom Deutschen Historischen Institut in Paris ausgeht, in dessen Veröffentlichungsreihe Prietzels Buch erscheint.

Zu einer revidierten Bewertung des spätmittelalterlichen Klerus will er erklärtermaßen beitragen und zu der seit einigen Jahren neu akzentuierten, kontextuellen Biographik (S. 12-14). Sie ist in der deutschen Forschung zuletzt von Claudia Märtl mit ihrer Arbeit über Kardinal Jouffroy 1996 und von Hermann Kamp mit seiner Untersuchung zum burgundischen Kanzler Rolin 1993 – im Übrigen ein Zeitgenosse und (überwundener) Konkurrent Guillaumes – markiert worden. In der französischen Mediävistik sind die Arbeiten von Jacques LeGoff über Ludwig den Heiligen von 1996 und Françoise Autrand über Jean de Berry von 2000 zu nennen. Prietzel ist mit der Forschungslandschaft in beiden Ländern vertraut und seine Arbeit wird zweifellos hier wie dort lebhafte Resonanz finden.

Mit gebotener Sorgfalt geht der Biograph an die Rekonstruktion von Person und Charakter: Er wagt im Einzelfall vorsichtige, wohlbegründete Rückschlüsse auf die „Subjektivität“ der historischen Person (S. 18, 164, 198, 494-502 u.ö.) und vermeidet sowohl ein Abgleiten in wohlfeile Psychologisierung wie ein Verharren im Daten-Positivismus. Prietzel überzeugt mit Ansatz und Ausführung seines Werkes – und sollte darin seinen Standort finden; abfällige Distanzierungen von neueren Ansätzen der Herrscherbiographie des Hochmittelalters (S. 17) sind überflüssig.

Die etwas schematische Gliederung des Buches verdeckt leicht eine zweite herausragende Leistung des Verfassers: Er folgt weder schlicht dem Datengerüst der Vita noch schichtet er sie nach eigener Auswahl neu auf. Vielmehr verfolgt er das Leben Guillaumes von der Geburt (Kap. I.) bis zum Tod (Kap. X.) streng nach der Abfolge seiner Entwicklungsphasen, um dann strukturelle Untersuchungen zu Stiftertätigkeit und Mäzenatentum (Kap. XI.), Redner- und Autorentätigkeit (Kap. XII.) sowie zur personellen Vernetzung (Kap. XIII.) anzuschließen. Die im Durchlauf der Chronologie immer wieder markanten Eigenarten Guillaumes und besonderen Bedingungen seiner Entwicklung werden hier erneut gebündelt und analysiert, ohne dass es deshalb zu Redundanzen käme. Eine systematische Zusammenfassung (S. 462-502) hebt nochmals in fünf Absätzen die Karrierestationen und Haupttätigkeitsfelder Guillaumes hervor: Kirchenfürst, Bischof mit weltlicher Welt, Kirchenreformer, Abt, fürstlicher Rat. Zwei weitere Absätze gelten dem Menschen in seiner Generation und dem Charakter.

Es folgt ein Anhang mit vollständigem Itinerar (S. 503-511), ein Nachweis der Reden (S. 512-519) und eine Währungstabelle. Das Quellen- und Literaturverzeichnis, vor allem aber der Nachweis der ungedruckten Überlieferungen belegt eindrucksvoll die gelehrte Leistung des Verfassers. Die vier Tafeln (nach S. 288) sind durch einen eigenen Nachweis erklärt (S. 558). Ein ausführliches Personen- und Orts- (leider nicht auch Sach-)register ist der Erschließung nützlich; abschließend findet sich, wie in den Bänden der Reihe üblich, eine französische Version des Inhaltsverzeichnisses.

Immer wieder überrascht die Fähigkeit Guillaumes, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Unterwegs zu Papst oder Kaiser in gewichtiger diplomatischer Mission, vergisst er nie, seine heimischen Belange als Abt und Bischof zu bedenken und wendet sich ihnen anschließend mit erstaunlichem Aufwand zu. Wo immer er mit Widerstand rechnen muss, überrennt er seine Gegner durch rhetorische Glanzleistungen, zeremonielle Inszenierungen oder schlichte Durchsetzungskraft. Wenn alles nicht hilft, findet er Wege, schwierige Positionen gegen günstigere zu tauschen. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in diesem Leben fasziniert ebenso wie die Fähigkeit des Biographen, alle diese Fäden der Entwicklung in eine geordnete chronologische Bahn zu legen, ohne sie als Einzelentwicklungen aus der Hand zu verlieren – oder: die Schwierigkeiten einer Biographie in quellenreicher Zeit zu bewältigen.

Der Schlüssel zum Erfolg für Guillaume war eine weite Perspektive an personeller Vernetzung, die frühe Gunst der Herzogin, später die nachhaltige des Herzogs von Burgund, die Freundschaft mit Männern wie Enea Silvio, die auch nach dessen Papstwahl fortdauerte, und das bemerkenswerte Gespür Guillaumes dafür, das Richtige im richtigen Moment zu tun. Dies schloss auch ein, für den Zeitpunkt der Entmachtung mit dem bevorstehenden Herrenwechsel am burgundischen Hof rechtzeitig vorauszuplanen und selbst durch Vorsorge und Testament die Fortdauer der eigenen Einflüsse, Ämter und Besitzungen zu regeln. Guillaume war eine Figur seiner Zeit und eben deshalb konnte er vieles zugleich sein: Unehelich geboren und deshalb lebenslang belastet, aber zugleich unbeirrt selbstbewusst und beispielhaft erfolgreich in einer Glanzkarriere zwischen Kirche und Welt; Geistlicher als Abt und Bischof, zugleich tatkräfter, in praktischen Fragen der Politik kundiger und erfahrener, bisweilen unentbehrlicher Rat seines Herzogs; Gefolgsmann eines Fürsten, eingebunden in die Spielregeln der klerikalen und laikalen Welt und zugleich vor allem anderen getrieben von der Mehrung eigenen Nutzens, ein Karriere- und Machtmensch, schneller Entscheidung fähig, seinem Fürsten bedingungslos und in gegenseitigem, tiefem Vertrauen ergeben, ansonsten aber rückhaltlos die Seiten wechselnd, wenn es seinem Interesse diente; ein engagierter Kirchenreformer und zugleich bedenkenloser Pfründenkumulierer; ein frommer Stifter, kunstliebender Mäzen und zugleich persönlich schwerreicher Mann, der seine Freunde und Vertrauten auf seiner Seite zu halten wusste.

Guillaumes Lebens ist, wie es Prietzel beschreibt, geradezu der Idealfall eines „fernen Spiegels“, erlaubt die abenteuerliche Reise des Lesers durch die faszinierende Welt des europäischen Spätmittelalters. Sympathie für seinen „Helden“ ist dem Verfasser durchaus anzumerken, wenn er mehrfach erklärt, warum Guillaume in der gegebenen Lage nicht anders habe handeln können, als er es tat. Doch vermerkt er auch, wenn Guillaumes Eigennutz sich unwürdiger Mittel bediente (S. 232 f., 319) und lässt seine Kritiker zu Wort kommen, die freilich ihrerseits ebenfalls aus Berechnung sprachen und handelten (S. 213-216, 285, 195, 304). Schließlich wirft er mehrfach die Frage auf, inwieweit Guillaume an der Macht hing (S. 324, 374, 377). Was Prietzel nicht fragen konnte, weil es den Rahmen seiner seriösen Darstellung verlassen hätte: War Guillaume in seiner Widersprüchlichkeit und Selbstfixiertheit, seinem Machtwillen und seinem durchaus individuellen Erfolg nicht ein „moderner“ Menschen, der für ein „modernes“ Mittelalter steht, wobei „modern“ für uns Heutige „verständlich, nachvollziehbar“ heißen soll, nicht unbedingt „sympathisch“ heißen muss? Zeit und Mensch in einer Biographie verständlich gemacht zu haben, ist ein gewichtiges Verdienst des Biographen, wenn die Biographie – wie im vorliegenden Fall – zugleich höchsten Ansprüchen wissenschaftlicher Sorgfalt gerecht wird.

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