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Titel
Fußball-Volksgemeinschaft. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964


Autor(en)
Oswald, Rudolf
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Mühlenfeld, Mülheim an der Ruhr

Die vorliegende Arbeit ist eine 2007 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommene Dissertation. Sie untersucht den gesellschaftlichen Stellenwert des Fußballsports in Deutschland zwischen Erstem Weltkrieg und Ende der „Ära Herberger“ 1964. Rudolf Oswald versteht Fußball als Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung insgesamt (S. 8). Er wählt eine diskursanalytische Herangehensweise und untersucht, welche gesellschaftlichen Gruppen wann und wie über Fußball gesprochen, mithin sein Wesen und seine Wahrnehmung geprägt haben (S. 10). Dabei setzt sich Oswald mit Blick auf das „Dritte Reich“ nachdrücklich von der These ab, dass bei der Anbiederung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) an die NSDAP ökonomische Interessen dominiert hätten (S. 17f.).

Von diesem Prämissen ausgehend rekonstruiert Oswald in Kapitel 2 zunächst die Interdependenzen zwischen Fußballdiskurs im Besonderen und der in der Weimarer Republik so verbreiteten Debatte um „Volksgemeinschaft“ im Allgemeinen. Hierzu konzentriert sich Oswald zum einen auf die Gretchenfrage nach dem jeweiligen Bedingungsverhältnis von Individuum und Gemeinschaft und separiert zum anderen den Fußballdiskurs an sich in die Teildiskurse der sozio-politischen Weimarer Milieus. Neben dem bürgerlich-offiziösen DFB und dem proletarischen „Arbeiter-Turn- und Sportbund“ (ATSB) betrachtet er daher ferner die konfessionellen Sportverbände evangelischer, katholischer und jüdischer Provenienz.

Dabei kommt Oswald zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass der Weimarer Fußballdiskurs unabhängig vom politischen oder sozialen Standort seiner Akteure grosso modo identische Grundüberzeugungen spiegelte, welche allein hinsichtlich ihrer Einpassung in den jeweiligen Deutungskontext differierten. Stets stand das Kollektiv höher als das Individuum, der Sport galt durchweg als Mittel zur Stärkung der „Volksgesundheit“, und was er den einen als Wehrerziehungssubstitut war, war er den anderen als Vorbereitung auf die Härten eines Siedlerlebens in Palästina (S. 63f.). Weitestgehend einig war man sich zudem in der Ablehnung des Profitums, welches das Ideal von der Selbstaufgabe des Einzelnen zugunsten des Mannschaftskollektivs entwerte (S. 94).

Schwerpunkt der Arbeit ist nicht nur in quantitativer Hinsicht die Zeit des Nationalsozialismus, welche in den Kapiteln 3 und 4 verhandelt wird. Angesichts des gewandelten „gesellschaftlichen Gefüges“ modifiziert Oswald nun auch sein Analyseraster. Nicht mehr die milieuspezifischen Eigenheiten des Fußballdiskurses stehen im Mittelpunkt, sondern die Akteure gemäß ihrer Stellung zum Sportgeschehen. Neben Funktionären und Sportjournalisten macht Oswald Zuschauer und Vereinsanhänger sowie Repräsentanten des politischen Systems als Teilgruppen aus.

Zunächst konstatiert er die leichte Verfügbarkeit des Fußballs für die Erfordernisse des NS-Regimes. Denn insofern der Nationalsozialismus ohnehin auf die suggestive Kraft von Massenveranstaltungen setzte, schien eine politische Überformung des Fußballs naheliegend zu sein (S. 131). Dabei erschien das Stadion als Ort, an dem sich die vielbeschworene „Volksgemeinschaft“ materialisierte und im Sinne Plessners situativ konstituierte.1 Dazu bedurfte es aus Regimesicht einer ideologischen Überformung des Sportereignisses, um ihm zugleich eine weitere, politische Bedeutungsebene zuzuschreiben. So wurde der legendäre „Schalker Kreisel“ zu einem Beispiel für die Überlegenheit des Kollektivs verklärt (S. 83f.). Ferner wurden Spiele deutscher Mannschaften gegen ausländische Teams entsprechend politisch aufgeladen. Analog zu den anfänglichen Friedensbeteuerungen des Regimes stilisierte man die Spiele zu Fanalen der Völkerfreundschaft. Von besonderer Bedeutung waren die Zusammentreffen deutscher Mannschaften mit solchen aus der deutschen Irredenta. Als etwa der sächsische Gauleiter Martin Mutschmann 1934 beim Gastspiel einer unbekannten saarländischen Elf vom „Band der Volksgemeinschaft“ sprach, geschah dies allerdings vor weitgehend leeren Rängen (S. 195f.).

Hier wurden die Machthaber Opfer ihrer eigenen Verlautbarungen, weil die kaum gefüllten Stadien die intendierte Botschaft ins Gegenteil verkehrten: Wie war es realiter um die „volksgemeinschaftliche“ Solidarität bestellt, wenn Stadien leer blieben? Insofern der Gang ins Stadion mit einer politischen Willensäußerung unterlegt wurde, erhielt auch das Nichterscheinen aus Regimeperspektive eine politische Bedeutung. Dies galt als eine Verweigerung und Akt politischen Widerstands, insbesondere dann, wenn sportliche Rivalität in Gewaltausbrüchen mündete, welche die Idee der im Stadion manifesten „Volksgemeinschaft“ vollends ad absurdum führten (S. 283).

Tatsächlich war der Alltag auf den deutschen Fußballplätzen durchaus nicht uneingeschränkt „volksgemeinschaftskompatibel“. Denn für die Anhängerschaft war der Kristallisationspunkt ihrer sportlichen Identifikation „ihr“ Verein. Zwar stellte die jeweilige Anhängerschaft durchaus eine Art „Volksgemeinschaft im Kleinen“ dar, weil die lokale Verbundenheit statt sozialer Stellung den Ausschlag für oder gegen einen Verein gab. Doch dieser Lokalpatriotismus, der oft die Grenzen zum gewaltsamen Fanatismus überschritt, stellte die Existenz der „Volksgemeinschaft“ insgesamt in Frage, weil die Interessen des eigenen Vereins absolut gesetzt wurden. Beinahe folgerichtig bestand auch der nationalsozialistische Fußballalltag aus einer Eskalationsspirale von wechselseitigen Schmähungen der Anhängerschaft, handfester Spielerrivalität auf dem Platz und vermeintlichen Fehlleistungen der Schiedsrichter bis hin zu Gewalttätigkeiten unter den Zuschauern.

Während das Regime dem wankelmütigen Zuschauerinteresse entgegenzuwirken versuchte, indem es aus Gründen der Systemstabilität auch einen „Starkult“ um einzelne Spieler zuließ, einen flexiblen Umgang mit den Amateurstatuten duldete und gegebenenfalls großzügig über die Eskapaden besonders beliebter Spieler hinwegsah, waren die Maßnahmen zur Eindämmung der Gewalt in den Stadien kaum erfolgreich. Dass es bis Mitte der 1930er-Jahre zunächst tatsächlich einen Gewaltrückgang gab, hatten viele als Erfolg der neuen Zeit gewertet; die harmonische „Volksgemeinschaft“ schien der Konflikte Herr zu werden. Tatsächlich hatte die 1933 durchgeführte Neugliederung der Spielklassen lediglich die rivalitätsträchtigen Spielpaarungen beseitigt. Schon bald aber hatten sich auch innerhalb der neuen „Gauligen“ entsprechende Konkurrenzbeziehungen herausgebildet, und die Ausschreitungen kehrten zurück. Die Hilflosigkeit des Regimes wurde schließlich vollends offenbar, wenn sogar die zum Ordnungsdienst abgestellte SA sich zuvorderst als Anhänger „ihres“ Vereins identifizierte – und erst in zweiter Linie als Hüter der „Volksgemeinschaft“ (S. 291).

Für die Zeit nach 1945 konstatiert Oswald zunächst die Rückkehr der ideologischen Prämissen Weimars – wenn auch unter gewandelten Vorzeichen: Unter der Ägide Sepp Herbergers stand weiterhin das Kollektiv, die Mannschaft, im Vordergrund der Spielphilosophie. Der Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 gegen die individuell stärker eingeschätzten Ungarn schien die Richtigkeit dieser Annahme zu bestätigen. Ganz im Sinne des Zeitgeistes galt Gemeinschaft nun als notwendige Voraussetzung für Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Erst für die 1960er-Jahre geht Oswald schließlich von einer Epochenwende im Fußballsport aus, die sich als generationeller Wachwechsel an der Spitze von DFB und Nationalmannschaft vollzog. Statt des Kollektivisten Herberger führte mit Helmut Schön nun ein ehemaliger Spieler das Kommando, der selbst mehr Individualist denn Mannschaftsspieler gewesen war. Sein Plädoyer für „eine Mannschaft aus Talenten, Individualisten und Persönlichkeiten“ statt eines „Kollektiv[s], das nach Schema F funktioniert“ (S. 307), war dafür sichtbares Zeichen. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der Trainer Schön seinen größten Moment ausgerechnet während der WM 1974 hatte, als ihn seine Individualisten gleichsam sprichwörtlich zur Randfigur degradierten.

Insgesamt vermag Oswald plausibel die ideologischen Verflechtungen von Fußballphilosophie und politischem Überbau zu rekonstruieren und dabei die differierenden Aneignungen des Sports durch die mit ihm verbundenen Akteursgruppen herauszustellen. Bei der Analyse des Fußballs im Nationalsozialismus hätte man sich eine stärkere analytische Trennung von unmittelbarem Stadionerleben und dessen medial vermittelter Deutung gewünscht, wobei die Problematik unstrittig ist, diesbezüglich aussagekräftiges Quellenmaterial beizubringen. So bleiben lediglich minimale Monita zu konstatieren, etwa der Verweis auf einen Personenkommentar der Wikipedia (S. 152, Anm. 112) anstelle der Verwendung eines gängigen biographischen Nachschlagewerks, oder die Nichterwähnung der zentralen Arbeit von Hans Dieter Schäfer über die Kontinuitäten der deutschen Alltagskultur (S. 172).2

Auch dem abschließenden Befund von der Wiederkehr der Indienstnahme des Sports durch die Regierenden seit der Kanzlerschaft Helmut Kohls mag man grundsätzlich zustimmen. Ob aber die Anwesenheit der Bundeskanzlerin im Berliner Olympiastadion anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 die Wiederholung jener Geschichte als Farce ist, die am gleichen Ort mit Olympia 1936 als Tragödie begann, wie Oswald in Marx‘ Worten formuliert (S. 309), ist zumindest diskussionswürdig. Diese erneute, vermeintlich unreflektierte Nähe von „Masse und Macht“ (Canetti), die etwa nach dem WM-Sieg 1954 im Wissen um deren noch gut erinnerliche Folgen bewusst vermieden worden war (S. 302f.), sollte als Warnung vor einer (zunehmenden) Geschichtsvergessenheit der Regierenden allerdings ernstgenommen werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus [1924], Frankfurt am Main 2002, S. 46f.
2 Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945, Frankfurt am Main 1984. (Eine erweiterte Neuausgabe soll im März 2009 bei Wallstein erscheinen.)

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