Cover
Titel
Geschichte Nordamerikas. Eine Einführung


Autor(en)
Depkat, Volker
Reihe
Geschichte der Kontinente
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
X, 341 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mischa Honeck, Heidelberg Center for American Studies, Universität Heidelberg

In den vergangenen zwei Jahrzehnten verkündeten postmoderne HistorikerInnen selbstbewusst das Ende der Universalgeschichtsschreibung und betonten, dass in Zeiten wachsender Fragmentierung und fluktuierender Identitäten nur noch lokales, dezentralisiertes Wissen legitim sei. Das Festhalten an einer Position ‚über den Dingen’ erschien ihnen als hegemoniale Gebärde, die es zugunsten eines multikulturell-demokratischen Ethos zu vermeiden galt. Und doch zeigen zahlreiche jüngere Publikationen, dass die Rede vom Tod der Synthese nicht der Realität entspricht. Vielmehr haben sich historische Großerzählungen in Form und Substanz gewandelt, um gerade auch in einer zunehmend globalisierten Welt den Bedarf an notwendigem Orientierungswissen über Grundlinien und Verlaufsmuster menschlicher Geschichte(n) zu befriedigen.

Unter AmerikahistorikerInnen hat die vermeintliche Renaissance der Synthese bereits zu beachtlichen, zum Teil innovativen Überblicksstudien geführt, die sich der Geschichte der Vereinigten Staaten aus transnationaler oder globaler Perspektive annähern. Thomas Benders „A Nation Among Nations“ und Ian Tyrrells „Transnational Nation“ sind die wohl prominentesten Vertreter dieser Neuausrichtung. 1 Diesem Trend hat sich nun der Regensburger Amerikahistoriker Volker Depkat angeschlossen. Depkat legt mit der im UTB Verlag erschienenen „Geschichte Nordamerikas: Eine Einführung“ die erste Gesamtdarstellung der Geschichte des nordamerikanischen Kontinents in deutscher Sprache vor, die – wenn auch der Schwerpunkt aus wirkungsgeschichtlich nachvollziehbaren Gründen auf den USA liegt – das Etikett transnational history ohne weiteres verdient.

Volker Depkat, um es vorweg zu sagen, sieht sein Buch nicht als Konkurrenz, sondern als lohnende Ergänzung und konzeptionelle Weiterentwicklung gängiger deutschsprachiger Einführungswerke zur Geschichte der USA. 2 Es geht ihm weniger darum, der traditionellen Nationalgeschichtsschreibung das Wasser abzugraben, als aufzuzeigen, wie eng die drei zentralen postkolumbianischen Gesellschaftsentwürfe auf dem nordamerikanischen Kontinent – der spanisch-mexikanische, US-amerikanische und kanadische – historisch miteinander verflochten sind. Um dieser Mission gerecht zu werden, wählt Depkat statt eines rein chronologischen ein thematisch strukturiertes Gliederungsmodell. Das Buch beginnt mit einigen erhellenden, wenn auch nicht wirklich neuen Denkanstößen zu Amerika als kulturellem Konstrukt und Projektionsfläche für mehrheitlich europäische Freiheitswünsche und Fortschrittshoffnungen, aber auch Modernisierungszweifel und Zukunftsängste. Dass diese Vorstellungen nahezu exklusiv an das nationale Projekt der Vereinigten Staaten gekoppelt werden, ist für Depkat im Wesentlichen das Produkt dreier Entwicklungen: der frühen Unabhängigkeit im 18., des Bürgerkriegs im 19., und der Etablierung der USA als Weltmacht im 20. Jahrhundert. Dieser Aufstieg war freilich nicht teleologisch vorgegeben, wie Apologeten des Exzeptionalismus lange insinuierten, sondern das Resultat komplexer interkultureller Austauschprozesse und von Anpassungsbemühungen verschiedener Siedlergesellschaften an regionale Gegebenheiten, die wiederum das Entstehen spezifischer Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens beförderten.

Multiperspektivisch angelegt sind auch die Teile, in denen Depkat entlang der Vergleichsachse Kanada-USA-Mexiko Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Herausbildung nordamerikanischer Frontiergesellschaften, ökonomischer Prozesse, religiöser Erfahrungen und kultureller Praktiken erörtert. Hier entfaltet das Buch seine größte Stärke, indem es den Blick schärft für die „räumliche Gleichzeitigkeit historisch eigentlich ungleichzeitiger Gesellschaftsformationen“ (S. 68) auf dem nordamerikanischen Kontinent, die aus dem Zusammenwirken von regionalen Umweltfaktoren, soziokulturellen Prägungen und staatlichen Ordnungskonfigurationen entsprungen sind. So schildert Depkat überzeugend, wie die Symbolfiguren des kanadischen Mountie und des US-amerikanischen Pioneer unterschiedliche Frontiererfahrungen verkörpern. Während der Mountie staatliche Durchdringung kolonialer Peripherien und Gesetzesherrschaft repräsentiert, steht der Pionier im kulturellen Gedächtnis der US-Amerikaner für unbändigen Freiheitswillen, romantischen Individualismus und Skepsis gegenüber staatlicher Autorität. Ebenso schlagend ist das Beispiel der transkontinentalen Industrialisierung, die nicht zuletzt deshalb in Neuengland ihren Anfang nahm, weil karge Böden keine dauerhaft ertragreiche Landwirtschaft ermöglichten und investitionsfreudige Unternehmer dank wachsender Bevölkerung und fortdauernder Einwanderung aus einem großen Reservoir an Arbeitskräften schöpfen konnten. Schließlich rückt Depkat die mexikanische Mestizengesellschaft in den Fokus, die infolge der spanisch-katholischen Kolonialherrschaft entstand und dem Ideal des Schmelztiegels weitaus näher kam als die angloamerikanisch dominierten Lebenswelten weiter nördlich, wo sich die Beziehungen europäischer, afrikanischer und indigener Bevölkerungsgruppen deutlich antagonistischer gestalteten.

Der zweite Teil des Buches bietet einen chronologischen Überblick über die wichtigsten Etappen nordamerikanischer Geschichte und scheut sich nicht, unausgetretene Pfade in der Periodisierung historischer Epochen zu beschreiten. Erwähnenswert ist die Zäsur, die Depkat mit dem Jahr 1867 zieht, als der British North America Act die Grundlagen des modernen Kanada schuf und damit einen langwierigen Prozess der Staatsgründungen auf dem nordamerikanischen Kontinent – Mexiko wird im gleichen Jahr wieder Republik; die USA sicherten 1865 ihre nationale Einheit – zu einem ersten Abschluss führte. Auch sonst werden die Geschichten Kanadas, der Vereinigten Staaten und Mexikos und ihrer kolonialen Vorgänger nicht isoliert voneinander erzählt, sondern durch stetes Übertragen und Vergleichen in einen transregionalen Bedeutungszusammenhang eingewoben. Die Amerikanische Revolution wird in den globalen Kontext imperialer europäischer Rivalitäten gebettet; die zunehmenden gesellschaftlichen und ökonomischen Interdependenzen zwischen Kanada und den USA auf eine rasante, nahezu im Gleichtakt fortschreitende Modernisierung in beiden Ländern zurückgeführt; der Rassismus als transnationales Phänomen mit lokalen Schattierungen beschrieben; der Aufstieg Nordamerikas der relativen Stagnation Mexikos und dem parallel verlaufenden weltpolitischen Niedergang Europas gegenübergestellt; und Analogien und Differenzen in der Etablierung moderner wohlfahrtstaatlicher Strukturen im „kurzen 20. Jahrhundert“ beleuchtet.

Depkats Kontinentalgeschichte integriert auf gelungene Weise komparative und transnationale Forschungsansätze und setzt damit neue Maßstäbe in der deutschen Amerikanistik. Da wiegt es auch nicht so schwer, dass der Autor aufgrund der zeitlichen und räumlichen Weitläufigkeit des Untersuchungsgegenstandes einige Leerstellen in Kauf nimmt. So werden historische Ereignisketten, Daten und Informationen zu handelnden Akteuren an vielen Stellen vorausgesetzt oder nur grob skizziert. Hinzu kommt, dass aufgrund der thematisch-analytisch ausgerichteten Gliederung inhaltliche Überschneidungen und Redundanzen nicht ganz ausbleiben. Auch sollte es nicht verwundern, dass ein ausgewiesener Kulturhistoriker wie Depkat sozialen Formationen, ethnischen Minderheiten und kulturellen Transferprozessen mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Geschichte staatlicher Institutionen und politischer Organisationen. Dieser leichten Asymmetrie ist sich der Autor aber bewusst und verweist deshalb zu Recht auf andere Einführungswerke zur Geschichte Kanadas, der USA und Mexikos, die diese Bereiche empirisch gesättigter und faktologisch dichter aufbereiten. Die Hauptaufgabe, die Depkat sich selbst gestellt hat, nämlich eine Beziehungsgeschichte zu schreiben, die die Evolutionen der drei Länder „im Zusammenhang denkt“ (S. 2) und über verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten reflektiert, die der kontinentale Rahmen zulässt, erfüllt das Buch dagegen vortrefflich. Depkats innovative und in klarer und verständlicher Prosa verfasste Überblicksstudie sei allen StudentInnen der Amerikanistik und der nordamerikanischen Geschichte wärmstens ans Herz gelegt; es sollte in keiner einführenden deutschsprachigen Bibliografie zum Thema fehlen.

Anmerkungen:
1 Thomas Bender, A Nation Among Nations. America’s Place in World History, New York 2006; Ian Tyrrell, Transnational Nation. United States History in Global Perspective since 1789, Houndmills 2007.
2 Udo Sautter, Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, 7. Aufl., Stuttgart 2006; Jürgen Heideking / Christof Mauch, Geschichte der USA, 5. erg. Aufl., Tübingen 2007; Philipp Gassert / Mark Häberlein / Michael Wala, Kleine Geschichte der USA, Stuttgart 2007; Horst Dippel, Geschichte der USA, 8. Aufl., München 2007; Hermann Wellenreuther / Norbert Finzsch / Ursula Lehmkuhl, Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart, Münster 2004; Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, München 2000; Adams, Die USA im 20. Jahrhundert, München 2000.