H. Reif (Hrsg.): Berliner Villenleben

Titel
Berliner Villenleben. Die Inszenierung bürgerlicher Wohnwelten am grünen Rand der Stadt um 1900


Herausgeber
Reif, Heinz
Reihe
Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin 12
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Wagner-Kyora, Historisches Seminar, Leibniz-Universität Hannover

Einen Sammelband über Villen als Geschichtsschreibung einer Stadt und ihrer Bewohner vorzulegen ist ungewöhnlich. Denn als Sozial- und Kulturgeschichte ist dieser enzyklopädische Blick auf das Haus in seinem sozialen und stadträumlichen Kontext noch ganz neu, auch wenn er auf gewichtigen Vorläufern basiert.1 Aus der Perspektive der neueren Gesellschaftsgeschichte wird neben Städtebau und Architektur auch das Innenleben der Häuser, ihre Bewohnergeschichte, analysiert. Erneut zeigt sich damit die Berliner Forschungslandschaft an der Technischen Universität als exzellente Wegbereiterin neuer Erklärungsansätze. So ist die Erklärung des Lebens im Luxus durch die Kulturgeschichte des Alltags legitimiert worden, wenngleich dessen politische Komponente bislang erst in der neueren Bürgertumsforschung so prononciert analysiert wurde wie das auch hier der Fall ist. Da erweist es sich als großer Vorteil, die klassengesellschaftliche Ausrichtung der Sozialgeschichte in das Thema Stadt einzubinden und interdisziplinär auszufalten, wie es das methodische Anliegen der Autor/-innen ist. Sie legen eine vollständige Erfassung aller Berliner Villengebiete in Einzelaufsätzen mit dem Fixpunkt „um 1900“ vor.

Wie der Sammelband zeigt, hat die Villa viel mehr mit der übrigen Gesellschaft in der „Mietskasernenstadt“ zu tun, als geläufige Vorstellungen suggerieren. Allerdings bedarf es genauer städtebaugeschichtlicher Analysen, um diese synergetischen Zusammenhänge auch aufzeigen zu können. Sie bestanden nicht etwa darin, Segregation zu vermeiden, sondern vielmehr darin neue Begegnungsräume zu schaffen, was nicht das Gleiche ist, weil die Villa schon immer voraussetzt, dass niemand darin eingeladen wurde und wird, der nicht dazu gehört. Die Begegnung des Neuen in der Villa und außerhalb des Gartentores, auf der Flaniermeile der gehobenen Wohnstraße, wirkte somit auf komplizierte Prozesse der Verbürgerlichung von Lebens-, Kultur- und Technikstandards ein, welche dynamische Inklusionsprozesse ermöglichten. Die Integration von kommunikativen Standards einer Metropole in nuce schuf sich hier ihre Begegnungsräume und füllte sie mit neuen Ideen.

Das waren exkludierende Räume, die primär unter Kapitalmarktbedingungen und sekundär über klassenstabilisierende Vergesellschaftungsprozesse in berufsorientierten, starken Familiennetzwerken funktionierten. Die großen Familien der großen Berliner Bankhäuser waren gleichzeitig die zentralen Organisatoren, Inspiratoren und Geldgeber der Terraingesellschaften (Christof Biggeleben). Indem sie neue Villengebiete bauten, schufen sie gleichzeitig Freiräume für die Begegnung von Bildungs- und Besitzbürgertum – das ist der zentrale stadträumliche (Dieter Radicke) und sozialgeschichtliche Befund des Buches. Über deren Wandel geben die 17 Beiträge vor allem in drei großen Themenbereichen Auskunft: Architekten als Akteure, suburbaner Städtebau und „Villenleben“ als „Lebenskunst“. Weitere Beiträge zu Grandhotels (Habbo Knoch), dem Seebad Heringsdorf (Hans Christian Bresgott) und zur aktuellen Denkmalpflege (Dietrich Worbs) runden das Tableau ab.

Überwiegend stehen nicht nur die Bauwerke selbst im Mittelpunkt der Analyse, sondern im historischen Kontext ihres Entstehens sind es vor allem auch die sozialen Trägergruppen ihrer Bauherren und die Erst- und Zweitbewohner: die großen Berliner Bürger/innen mit Konto, Kutscher/Chauffeur und Salon in der „kurze[n] Belle Epoque des Terraingewerbes“ (S. 72). Christoph Bernhardt hat diesen Sonderfall der Quartiersneugründung durch eine gehobene Form der Boden- und Luxusbauspekulation bis „Weimarer Städtebaukoalition“ analysiert. Diese tendenziell gemeinwirtschaftliche Zukunftsperspektive war eine nicht erwartbare Folge des boomenden Spekulationsgeschäftes mit dem höchsten Marktsegment aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Celina Kress positioniert die Berliner Architektenschaft des 19. Jahrhunderts „zwischen Garten und Stadt“, indem sie die Stationen der Neugründung diverser einflussreicher Architektenvereine als Beginn einer langen Kontinuität informeller kooperativer Theorie- und Praxisschulung außerhalb der Mauern von Universitäten analysiert. Sie waren die Scharnierstelle zu ihrer neuen Freiberuflichkeit als „Architekten“. Diese schnelle Orientierung in den offenen Raum der bürgerlichen Gesellschaft hinein verhalf den Architekten dann zu großen Spielräumen. Sie erbauten neue Villen in Stadtrandlage und boten diese dem anfangs zögerlichen Publikum zum Kauf an. Diese architektonische Innovation stellte sowohl hinsichtlich der Bautechnik als auch hinsichtlich ihrer spätklassizistischen Ästhetik einen genialen Innovationsschub dar, welcher den Stadtbildungsprozess insgesamt veränderte. So gelang Friedrich Hitzig in der Lennestraße am südlichen Tiergartenrand, dem Erweiterungsgebiet außerhalb der alten Stadtmauern, mit einer spätklassizistischen Villenformation seit 1843 der Epochensprung zur modernen vorstädtischen Einzelhaussiedlung. Cress stellt diesen Architekten und seine illustre Kollegenschar in Generationen- und Funktionsmatrices eingehend vor (S. 99). Sie veranschaulichen die rasante Entwicklung von der „Hyperexklusivität und Imagination“ der großen Wannseevillen über den Jahrhundertsprung bis hin zur jungen Generation der Bauhaus-Architekten an Akteursbiographien.

In seinem Beitrag über das Tiergartenviertel zeigt Heinz Reif dessen „Vergroßbürgerlichung“ (S. 144) in drei Phasen der Bebauung und Überformung des Quartiers mit großstädtischer und schließlich auch tertiärer Nutzung auf. In ihm als dem ersten der „Millionärsviertel“ entstand hier die Berliner Salonkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Reif macht uns mit den zwölf wichtigsten Salonieren bekannt. Er erläutert wie diese und ihre Familien den offeneren Begegnungsraum des Trottoirs für ihre Statusrepräsentation nutzten. In der permanenten, halb-festlichen Aushandlung von kommunikativen Standards und innovativen Kulturpraxen wurden sie zum „Pionier erweiterter bürgerlicher Geselligkeit und höfisch-adeliger, großbürgerlicher und mittelbürgerlicher Begegnung“ (S. 153). Hierzu gehörten auch die tägliche Begegnung mit der Kaiserin Augusta auf ihrem nachmittäglichen Spaziergang und der entsprechende Hofknicks. Aber eher wurde die Kaiserin damit in die bürgerliche Gesellschaft integriert, als dass sich diese außerhalb ihrer selbst gestellt hätte. Spannend zu lesen ist, wie ein Quartier zum „wichtigsten Forum zur Aushandlung moderner Kunst“ avancierte und dennoch politisch abstinent blieb, während gleichzeitig die antisemitischen Stereotypisierungen der verblassenden Adelsgesellschaft in Positur gebracht wurden – selbst von Harry Graf Kessler, der, wie die Gräfin Spitzemberg auch, gerne dort salonierte, aber ungern kulturelle Hegemonie und damit auch die Macht in der Moderne teilte.

So beschreibt Karl-Heinz Metzger analog das mondäne Leben in der Villenkolonie Grunewald als eine nochmalige Steigerung „im Zug nach Westen“, bei dem sich die gesamte Prominenz des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zu Gartenpartys traf, aber auch als einen tendenziell bedrohten hegemonialen Kulturraum (S. 163). Auch die Kolonie Lichterfelde war eine Planung eines einzigen Terrainunternehmers gewesen, von Johann A.W. Carstenn, der durch Parzellenteilung und Musterhaustypen die mittelbürgerliche Bebauung vorgab und sie auch für den Nachzug einer Militärkaserne öffnete, in die schließlich die wichtigste SS-Formation einzog. Der bereits im Vorfeld grassierende Antisemitismus gerade hier, in einem Viertel mit dem niedrigsten jüdischen Bevölkerungsanteil, sagt viel über die eigentümlichen Radikalisierungspotenziale der deutschen Klassengesellschaft.

Dorothea Zöbl beschreibt das Westend als einen „Stadtrand als Kontinuum“ (S. 210). Mit eingehenden Detaildarstellungen des Lebens in der Villa Schrobsdorff aus der autobiographischen Überlieferung entstehen narrative Miniaturen des Bewohnerhorizontes im unermesslichen Luxus: Er war auf eine neue Naturerfahrung ausgerichtet und schuf sich dafür mondäne Gartenanlagen. Felix Escher präsentiert Nikolassee als mondäne Übersteigerung von Luxusheimen für Bildungsbürger aus der Katalogpräsentation heraus, wobei Hermann Muthesius der stilbildende Geschmacksgenerator wurde. Im Beitrag von Harald Bodenschatz und Carsten Benke wird die Sonderstellung des nördlich gelegenen Frohnau dargelegt, dessen gekrümmtes Straßennetz und dessen Doppelplatzanlage im Zentrum städtebauliche Quartiersentwicklung revolutionierten. Gerd Kuhn zeigt auf, welchen Stellenwert die Haustechnik im „Auseinanderdriften bürgerlicher Lebenswelten“ einnahm: Erstmals wurden auch die Technisierung und die Hygiene zum Gradmesser sozialer Distinktion.

Die Vielfalt der sich ergänzenden teilräumlichen Analysen, die mit eingehenden Beschreibungen von Villen und schließlich von deren sozialem Leben zusammengefügt werden, lassen diesen Sammelband zu einem Kompendium der frühen Berliner Moderne in der Alltagswelt werden. In der Verbindung von großbürgerlicher Lebensweise eines potenten, zu einem großen Teil jüdischen Bürgertums mit den Herausforderungen einer modernen Baukultur entstand eine neue metropolitane Welt, welche diese Stadt grundsätzlich von anderen Großstädten unterschied, weil sie weitaus integrativer angelegt war als es deren traditionelle Provinzialität zuließ. Sie erschloss kommunikative Alltagspraxen als ein innovatives Erlebnis.

Die Autoren/-innen und der Herausgeber haben diesen Sammelband dem Berliner Doyen der Architekturgeschichte und Architekturkritik 2, Julius Posener, gewidmet. Nachdem Posener aus der Vertreibung und der Emigration im Jahr des Mauerbaus zurückgekehrt war, konnte er, der im mondäneren Teil Lichterfeldes aufgewachsen war, sich dennoch immer lebhaft und, wie man jetzt in Reifs hervorragend redigiertem und mit exzellentem Bildmaterial verschwenderisch ausgestattetem Sammelband nachlesen kann, mit guten Gründen an das metropolitane Berlin seiner dann wieder gewonnenen Heimat extra muros erinnern.3

Anmerkungen:
1 Burkhard Bergius / Julius Posener (Hrsg.), Berlin und seine Bauten, Teil IV Wohnungsbau, Band C: Wohngebäude, Einfamilienhäuser. Individuell geplante Einfamilienhäuser. Die Hausgärten, Berlin 1975.
2 Julius Posener, Berliner Gartenvororte, in: Ludwig Grote, Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert, München 1974, S. 66-76; Jürgen Spohn / Julius Posener, Villen und Landhäuser in Berlin, Berlin 1989; Julius Posener, Was Architektur sein kann. Neuere Aufsätze, Basel 1995.
3 Julius Posener, Fast so alt wie ein Jahrhundert, Basel 1993.