A. Schildt, D. Siegfried u.a. (Hgg.): Dynamische Zeiten

Titel
Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften


Herausgeber
Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl Christian
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Darstellungen 37
Erschienen
Anzahl Seiten
827 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Thomas Etzemüller, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Die historische Erforschung der Bundesrepublik ist um ein Jahrzehnt weitergeschritten. Nachdem vor zehn Jahren die 50er Jahre ins Visier genommen und einer Neubewertung unterzogen worden sind 1, geschieht dasselbe nun mit den 60ern. Im Zentrum des umfangreichen Sammelbandes, dessen Beiträge die Ergebnisse einer deutsch-dänischen Historikerkonferenz präsentieren, stehen konsequenterweise nicht die Ereignisse von "1968". Dieses zur Wasserscheide zwischen einer "bleiernen" und einer "toleranten" Bundesrepublik stilisierte Datum läßt nämlich "die Dekade zwischen den späten 50er und den späten 60er Jahren seltsam blaß" (S. 12) erscheinen. Dagegen betrachten die Herausgeber diese Zeit als "Scharnierjahrzehnt […], in dem die bereits im Wiederaufbau der 50er Jahre immer stärker mit modernen Elementen versetzte Gesellschaft der Bundesrepublik in einem enormen Tempo die Nachkriegszeit nun gänzlich hinter sich ließ und Züge einer kulturellen Moderne ausprägte, die unsere Gegenwart nach wie vor zu einem großen Teil bestimmt" (S. 13). "1968" kann bei einem solchen Projekt natürlich nicht ausgeblendet werden, doch ist das Bemühen, nicht bloß die Schlange "68" gebannt anzustarren, sondern die gesamten 60er Jahre in den Blick zu bekommen, gelungen (außer in dem Beitrag von Bernd-A. Rusinek). Dadurch leistet der Band tatsächlich einen "Beitrag zur Erforschung von '1968' in einer erweiterten Perspektive" (S. 13).

Thematisch werden sechs Blöcke untersucht: "Der Umgang mit der NS-Vergangenheit", "Wirtschaft, Europa, Arbeitsmigration", "Gesellschaftlicher Wandel und reformerische Diskurse", "Parteien, Verbände, Kirchen", "Generationen und Geschlechter" sowie "Kultur und Öffentlichkeit". Vorweg stehen zwei informative Überblicksartikel, die die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik (Axel Schildt) bzw. der DDR (Arnold Sywottek) in den 60er Jahren umreißen. Diese Aufsätze spiegeln ein zweites Anliegen wider: Der Zugriff auf die Dekade erfolgt, wegen systemübergreifender Modernisierungstrends, durch die Analyse von Bundesrepublik und DDR - allerdings wird Westdeutschland wesentlich ausführlicher in den Blick genommen. Die DDR wird in vier eigenständigen Aufsätzen abgehandelt und in Beiträgen, die den Schwerpunkt auf Westdeutschland legen, das Nachbarland aber mehr oder weniger ausführlich vergleichend einbeziehen. Nur in wenigen Fällen werden Wechselwirkungen zwischen beiden deutschen Staaten analysiert, etwa in Detlef Siegfrieds Beitrag über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.

Die Beiträge des Bandes insgesamt lassen sich im wesentlichen in drei Gruppen unterteilen. Autoren wie Anselm Doering-Manteuffel, Michael Ruck und Detlef Siegfried gelingt es hervorragend, die eigenständige Qualität des Scharnierjahrzehnts im Unterschied zum jeweils anders gelagerten "Schwellen"charakter der 50er bzw. 70er Jahre analytisch zu bestimmen. Doering-Manteuffel etwa ordnet die Zeit zwischen "Spiegel-Krise" und Willy Brandts erster Regierungserklärung mit Hilfe der Kategorie "Westernisierung" - die er von der "Amerikanisierung" und der "Westbindung" abgrenzt - sowohl in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts als auch der Nachkriegsgeschichte ein und macht deutlich, wie die "mannigfaltigen, scheinbar unspektakulären Veränderungen" dieser Jahre die Gesellschaft so tiefgreifend durchformten, daß sie erst während dieser Zeit "ihr unverwechselbar westdeutsches Profil ausbildete" (S. 311).

Ruck bestimmt die Essenz der 60er Jahre mit der Begriffstrias "Prosperität", "Planung" und "Partizipation", einer Verknüpfung, die weder die Jahrzehnte zuvor noch die folgenden charakterisiert. Prosperität und ein gleitendes Ende der Nachkriegszeit zeichnen die frühen Jahre der Dekade aus, die Planungseuphorie verbindet sich mit der Partizipationsutopie und leitet in die 70er Jahre über. Dem verwirklichten Wiederaufbau im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik folgt der Traum einer rationalen Steuerung der Gesellschaft im zweiten und das Scheitern dieser Utopie im dritten.

Siegfried schließlich charakterisiert die 60er Jahre durch die eskalierende Politisierung Jugendlicher. Die Generation der Lehrer versuchte zu Beginn der 60er Jahre, ihre Schützlinge zu politisieren, um sie gegen die Verführungen von Kommunismus, Nationalsozialismus und Massenkonsum zu immunisieren. Jugendliche entzogen sich diesem Druck zunächst durch die Flucht in eine unpolitische Jugendkultur. Pädagogen folgten ihnen und versuchten, die zunächst abgelehnten teenage-Lebensstile zu vereinnahmen, um ihre pädagogischen Ziele doch noch implementieren zu können. In den Kellern der Clubs entdeckte die Jugend aber zunehmend, daß politische Provokationen der Eltern ein adäquates Abwehrinstrument pädagogischer Aneignungsversuche darstellten. Das Politisierungsprojekt der Erzieher war geglückt, aber anders als gedacht: Gegen Ende der 60er Jahre bekämpften sich beide Seiten mit dem Totalitarismusvorwurf.

In diesen Beiträgen ist das Anliegen des Bandes am überzeugendsten umgesetzt, doch auch Klaus Weinhauer, Jörg Requate und Karl Gabriel für Polizei, Justiz und den Katholizismus arbeiten die 60er Jahre als fundamentale Umbruchszeit gut heraus. Eine zweite Gruppe von Beiträgen dagegen bietet Ausschnittsvergrößerungen einzelner Aspekte (z.B. Karl Christian Lammers über die Tübinger Ringvorlesung zum Nationalsozialismus, Per Øhrgaard über deutsche Schriftsteller, Claus-Dieter Krohn über die westdeutsche Studentenbewegung und die Emigranten) oder kommt zu dem Ergebnis, daß das Jahrzehnt für einen später folgenden Umbruch der Geschlechterverhältnisse "nur" als Inkubationszeit gesehen werden sollte (so Ute Frevert).

Eine dritte Gruppe von Autoren legt zwei Eckdaten fest, um dann die Geschichte zwischen diesen beiden Punkten zu erzählen. Hier wird auf eher traditionelle Weise Geschichte der 60er Jahre berichtet, manchmal ziemlich beliebig (Ingrid Willharm, Martin Greschat, Hans-Joachim Manske), manchmal ohne neue Erkenntnisse mitzuteilen (Konrad Dussel, Alfons Kenkmann). Insgesamt bieten jedoch auch die meisten Beiträge dieser Art interessante Einsichten und grenzen innerhalb gesellschaftlicher Entwicklungen den Abschnitt "60er Jahre" plausibel ab (etwa Ulrich Herbert/Karin Hunn über Gastarbeiter, Wolfgang Ruppert über die Konsumwelt, Christoph Classen über die NS-Aufarbeitung in der DDR, Gerd Hardach und André Steiner über die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik bzw. der DDR). Doch wenn dann z.B. Werner Bührer aus europapolitischer Sicht die Jahre von 1958 bis 1972 als "Krisenepoche" bezeichnet, wirkt das weniger als entscheidende Charakterisierung der 60er Jahre, denn als ein nachträglich angeheftetes Etikett, das eine von mehreren möglichen Zäsuren in der deutschen Europapolitik bezeichnet. Das sollte Bührer nicht zum Vorwurf gemacht werden, zeigt aber - neben anderen der oben genannten Aufsätze -, daß auch die These vom Scharnierjahrzehnt mit einer Prise Salz zu nehmen ist 2.

Deshalb sollten diesem alles in allem gelungenen Band rasch zwei weitere Projekte folgen: Die Untersuchung der 70er Jahre als einem weiteren Schwellenjahrzehnt eigener Güte - und eine Gesamtschau der 50er bis 70er Jahre, um abschließend genauer bestimmen zu können, in welchen gesellschaftlichen Sektoren wann (fundamentale) Umbrüche stattfanden, wann sich derartige Brüche häuften, wo Kontinuitäten in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts fortbestanden. Das würde und sollte den Schwellencharakter der einzelnen Jahrzehnte teilweise wieder relativieren, sonst läuft man demnächst Gefahr, die deutsche Geschichte als unablässige Folge tiefgehender Zäsuren schreiben zu müssen und vor lauter Umbrüchen die Ruhe nicht mehr zu finden. Zu dieser Ortsbestimmung leistet der von Schildt, Siegfried und Lammers herausgegebene Band einen ähnlich wichtigen Beitrag wie der Band "Modernisierung im Wiederaufbau".

Anmerkungen:
1 Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993
2 Nebenbei sei auf ein Phänomen hingewiesen, daß nicht nur bei Wolfgang Ruppert in diesem Band zu beobachten ist: Die Geschichte des Konsums, also des Genusses, wird mit Vorliebe in der freudlosen Sprache des taxierenden Gewerbeaufsichtsbeamten geschrieben. Warum diese Qual? Um einem "illegitimen" Gegenstand die Weihen der Wissenschaftlichkeit zu verleihen?

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