Cover
Titel
Willi Graf. Ein Weg in den Widerstand


Autor(en)
Goergen, Peter
Reihe
Geschichte, Politik & Gesellschaft, Bd. 11
Erschienen
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Hikel, Graduiertenkolleg "Archiv - Macht - Wissen", Universität Bielefeld

Mit der Biografie „Willi Graf – Ein Weg in den Widerstand“ ist ein weiterer Beitrag über ein Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ erschienen. Sie stammt aus der Feder des Lehrers Peter Goergen, der an einem Gymnasium in Homburg (Saar) Deutsch und Ethik unterrichtet.1 Goergen wagt sich damit in ein Forschungsfeld vor, das einerseits als gut aufgearbeitet gelten kann, in vielen Fragen aber stark umstritten ist.2 Über Willi Graf gibt es in der Literatur zur „Weißen Rose“ nur relativ wenige Einzelbeiträge.3 Doch in den zahlreichen Gesamtdarstellungen über die Widerstandsgruppe wurde bereits viel Forschungsarbeit zu Graf geleistet. Zuletzt hat ihm Sönke Zankel in seiner Dissertation über die „Weiße Rose“ ein eigenes biografisches Kapitel gewidmet.4 Darüber hinaus hat Willi Grafs Schwester Anneliese Knoop-Graf in einer Vielzahl von teilweise publizierten Reden und Interviews sowie durch die Veröffentlichung der Tagebücher und Briefe Grafs ihre Perspektive als Zeitzeugin in die Forschung eingebracht.5

Die vorliegende Biografie Willi Grafs legt ihren Schwerpunkt deutlich auf die persönliche Entwicklung Grafs, die zu seiner Opposition gegen das NS-Regime führte. Goergen macht drei wesentliche Einflussbereiche aus, die aus seiner Sicht Grafs Entscheidung zum Widerstand ermöglichten: das katholische Milieu, in dem er aufwuchs, die ersten Konflikte mit dem Nationalsozialismus im „Bund Neudeutschland“ und im „Grauen Orden“, sowie das Kriegserlebnis, vor allem während der Russlandeinsätze. Doch erst die Freundschaft mit Hans Scholl und anderen Gleichgesinnten habe dazu geführt – so das Argument –, dass Graf den Schritt zum aktiven Widerstand tun konnte. Mit dieser Interpretation folgt Goergen etablierten Einschätzungen zur Widerstandsmotivation Willi Grafs.

Graf wuchs in Saarbrücken auf, in einer bürgerlichen, katholisch geprägten Familie, die „sehr brav [...] und ein bisschen langweilig“ (S. 20) war. Goergen sieht hier die Grundlage für Grafs tiefe Verwurzelung im katholischen Glauben, macht aber auch Defizite aus. So sei in der Familie nie über Politik oder den Krieg gesprochen worden, auch nicht nach der ersten Verhaftung Willi Grafs im Jahr 1938 und nach seinen Fronteinsätzen. Sehr ausführlich geht Goergen auf Willi Grafs Zeit im katholischen Jugendverband „Bund Neudeutschland“ (ND) ein. In der Kombination von Glauben und Jugendkultur außerhalb des Elternhauses, wie sie im ND vorhanden war, sieht er die zentrale Prägekraft für Graf, die ihn gegen den Nationalsozialismus immunisierte. Hier machte Graf seine ersten Erfahrungen von Konflikten mit dem Regime. Goergen interpretiert die Ablehnung des Nationalsozialismus jedoch nicht als „Reaktion aus bloßer ideologischer Überzeugung oder aus abstrakten politischen Überlegungen“, sondern als lebenspraktische Frage, „ob man sich der Gewalt beugt und das Unrecht zulässt“ (S. 35). Nach dem Verbot des ND 1936 machte Graf einen ersten Schritt in Richtung Opposition gegen das NS-Regime. Er schloss sich dem „Grauen Orden“ an, der die Arbeit des ND in der Illegalität fortführte. An dieser Stelle verweist der Autor auf generationelle Zusammenhänge: Jugendliche wie Willi Graf seien bereit gewesen, die Illegalität in Kauf zu nehmen, während die Älteren sich meist angepasst hätten. Dies habe dazu geführt, dass junge Erwachsene wie der mit Graf eng befreundete Fritz Leist sowie Günther Schmich in geistige und politische Führungsrollen gedrängt worden seien, denen sie nicht gewachsen waren. Im Kontext seines Engagements für den ND machte Graf auch erstmals die Erfahrung von Repressionen seitens des NS-Regimes. Von einer Verhaftungswelle vor allem gegen die bündische Jugend Anfang 1938 war auch Willi Graf betroffen. Nachdem er sein Medizinstudium bereits 1937 begonnen hatte, ging er 1939 nach München, wo Fritz Leist und Günther Schmich studierten.

Neben dem ND räumt Goergen den Fronterfahrungen Grafs viel Platz ein. Unter allen Beteiligten der „Weißen Rose“ war er am häufigsten als Soldat eingesetzt. 1940 war er als Sanitäter zunächst in Frankreich und 1941/42 zwei weitere Male in Russland tätig. Goergen arbeitet die starken Prägungen durch die Erlebnisse von Krieg, Elend und Zerstörung heraus. In diese Zeit fiel auch der erste Kontakt zum Widerstand. Als Graf nach seinem ersten Russlandeinsatz wieder in München studierte, lernte er dort im Juni 1942 Hans Scholl kennen. Bereits kurze Zeit später mussten Graf und Scholl sowie der mit Scholl befreundete Medizinstudent Alexander Schmorell zur „Frontfamulatur“ an die Ostfront. Da die früheren Bindungen an den ND für Graf praktisch nicht mehr bestanden, waren ihm die neuen Freundschaften umso wichtiger. Goergen argumentiert an dieser Stelle, dass sie in zweifacher Hinsicht bedeutend für Grafs Widerstandsentscheidung waren: Zum einen habe er Gleichgesinnte gefunden, die aktiv gegen das NS-Regime arbeiteten. Zum anderen habe Graf erreichen wollen, „dass diesmal die Entfremdung [zu den Freunden] nicht einsetzen soll“ (S. 132). In einem eingeschobenen Kapitel über Grafs Freundschaft mit Marianne Thoeren liefert Goergen noch einen weiteren möglichen Beweggrund für Grafs Entschluss zum Widerstand. Als Marianne Thoeren sich gegen Graf und für einen anderen Mann entschied, habe Graf sich frei gefühlt, aktiv gegen das NS-Regime zu arbeiten.

Den letzten Teil der Biografie nehmen relativ knapp Widerstand, Verhaftung und Hinrichtung ein. Grafs Rolle wird dabei als die eines vertrauenswürdigen Mitstreiters beschrieben, der jedoch an der inhaltlichen Abfassung der Flugblätter nicht beteiligt war. Abschließend sind zwei so genannte „Nachklänge“ angefügt, deren Funktion allerdings völlig im Dunkeln bleibt. Der erste „Nachklang“ stellt zwei Lieder aus einem Notizbuch Willi Grafs vor, die der Autor jedoch nicht einordnen kann. Im zweiten „Nachklang“ reflektiert Goergen über die Frage, „ob Willi Graf ein Vorbild sein kann oder soll“ (S. 207).

Goergens Graf-Biografie ist sehr konventionell ausgefallen und bringt inhaltlich kaum etwas Neues. In vielen seiner Überlegungen bleibt der Autor spekulativ, weil er sie nicht belegen kann. Das liegt sicher auch an der sehr schmalen Quellenbasis. Bis auf die Verhörprotokolle Grafs sowie einige wenige Zeitzeugeninterviews benutzt Goergen lediglich publiziertes Material. Ähnlich verhält es sich mit der Forschungsliteratur, die vom Autor praktisch nicht bearbeitet wurde. Quellen- und Literaturverzeichnis finden daher auf zwei Seiten leicht Platz. Insofern verwundert es nicht, dass es Goergen nicht gelingt, größere historische Bezüge herzustellen oder seine Arbeit in die Forschungslandschaft einzubetten. Seine Darstellung des Nationalsozialismus ist häufig sehr ungenau, so dass er stellenweise zu geradezu irreführenden Formulierungen kommt („Baldur von Schirach [...] war der Anführer der HJ“, S. 26). Die sozialen Kontexte Grafs kann der Autor im ersten Teil der Arbeit, der sich mit dem ND und dem „Grauen Orden“ beschäftigt, weitgehend überzeugend darlegen. Die Gruppenstruktur der „Weißen Rose“ und Willi Grafs Position darin finden dagegen kaum Goergens Beachtung.

Diese Defizite stellen die Frage nach der Zielgruppe von Goergens Graf-Biografie. Fußnoten allein machen eben noch keine Wissenschaft, und es wird an vielen Stellen der Arbeit deutlich, dass Goergen andere Ziele verfolgt als eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Widerstands. Vielleicht muss man die Leistung von Goergens Buch deshalb so sehen, wie dies Peter Steinbach in seinem Geleitwort tut: „Und es bleibt ihm [Goergen] Dank zu sagen für dieses Buches [sic!], das [...] sichtbar macht, wie wir als Nachlebende uns Traditionen erschließen und erarbeiten, die unseren Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt haben“ (S. 15).

Anmerkungen:
1 Vgl. die Angaben in: Lesung mit dem Willi-Graf-Biografen Peter Goergen, in: Saarbrücker Zeitung, online unter: <http://www.saarbruecker-zeitung.de/sz-berichte/stingbert/St-Ingbert-St-Ingberter-Literaturforum-Peter-Goergen-Willi-Graf-Die-Weisse-Rose-Widerstandskaempfer;art2794,2806228> (5.6.2009).
2 Neben der jüngsten Diskussion um die Dissertation von Sönke Zankel, Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell, Köln 2008, vgl. vor allem Johannes Tuchel, Neues von der „Weißen Rose“? Kritische Überlegungen zu Detlef Bald, Von der Front in den Widerstand, Berlin 2003.
3 Vgl. z.B. Tatjana Blaha, Willi Graf und die Weiße Rose. Eine Rezeptionsgeschichte, München 2003.
4 Zankel, Mit Flugblättern, S. 113-142.
5 Vgl. z.B. Anneliese Knoop-Graf, Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Rolf-Ulrich Kunze, Konstanz 2006. Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Anneliese Knoop-Graf u.a., Frankfurt am Main 1988.

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