G. M. König: Konsumkultur um 1900

Titel
Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900


Autor(en)
König, Gudrun M.
Erschienen
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Laura Rischbieter, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Wie Dinge zu Waren werden, ist in den letzten beiden Jahrzehnten zum Gegenstand einer Reihe von Disziplinen geworden. Hierbei untersuchten Anthropologen, Wirtschaftshistoriker und Wirtschaftssoziologen den Wandel der Märkte anhand der „Commodity Chain“ einzelner Waren oder thematisierten im Rahmen einer Warenbiographie deren Produktionsbedingungen und ebenso Handelsstrukturen, nationale Wirtschaftspolitiken und Konsumgewohnheiten. 1 Kulturwissenschaftliche sowie kulturhistorische Studien fokussierten hingegen auf die Dinge selbst, fragten nach deren „Eigensinn“, ihrer Sprache und entwickelten unter anderem in Anlehnung an die Arbeiten von Arjun Appadurai theoretische Konzepte zur Dinganalyse. 2 Diese Konzepte und Themen fanden auch Eingang in geschichtswissenschaftliche Arbeiten zur deutschen Konsumgesellschaft. 3 Rainer Gries widmet sich beispielsweise mit seinem Ansatz, Markenprodukte als Medien zu analysieren, der Bedeutung von Waren als Kommunikatoren zwischen Angebots- und Nachfrageseite in der Bundesrepublik und der DDR. 4

Im Zentrum von Studien zur deutschen Konsumgesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg hingegen stand bisher weniger das Verhältnis von Konsumgütern und Konsumenten und dessen Bedeutung für die Konsumgesellschaft. Vielmehr wurde zumeist die Höhe des Verbrauchs bestimmter Waren als Maßstab herangezogen, um zum Beispiel die Entwicklung der deutschen Konsumgesellschaft zu periodisieren oder der sozialen Differenzierung des Konsums nachzugehen. Indem Gudrun M. König nach den Veränderungen des Verhältnisses zwischen den Konsumenten und den Dingen zwischen 1880 und 1920 in Deutschland fragt, schließt also die vorliegende Monographie diese Lücke. Sie untersucht mit einem starken Fokus auf das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin die kulturell erzeugte Bedeutung des Konsums von Alltagsgegenständen durch zeitgenössische Debatten, Publikationen und Ausstellungen. Hier, so die zentrale These, zeige sich, wie in Deutschland eine spezifische Konsumkultur entstand, die für die Kommerzialisierung des restlichen 20. Jahrhunderts prägend gewesen sei.

Der vorliegende Text basiert auf der am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft entstandenen Habilitationsschrift aus dem Jahr 2004. Sie wurde 2008 überarbeitet und im Hinblick auf den Forschungsstand aktualisiert. An die Einleitung schließt sich das erste Kapitel „Die Ware und die Kulturwissenschaften“ an, welches als erweiterte Einführung dient. Hier wird der kultur- und geschichtswissenschaftliche Forschungsstand referiert, Begriffe geklärt und der eigene Untersuchungsgegenstand definiert und abgegrenzt. Dreh- und Angelpunkt ist der Begriff der Konsumkultur, verstanden als „Produktion der Sichtbarkeit, der Verteilung und der Aneignung von Gütern und Waren“ (S. 31). Ihre Begriffsdefinition ist zugleich Gudrun M. Königs methodischer Ansatz: In den sich anschließenden acht Oberkapiteln wird Konsumkultur als Aushandlungsprozess bezüglich Geschmack und Qualität von Alltagsgegenständen durch unterschiedliche Akteure untersucht, der sich in Ratgebern, Verbandsbildung, Ausstellungen, Wettbewerben, Konsumkritik und Verbraucherschutz sowie der Präsentation von Dingen in Warenhäusern und Schaufenstern manifestierte.

Zunächst wendet sich Gudrun M. König den Geschmacksratgebern zu und fragt, welche Funktion das Reden über Geschmack im Allgemeinen und die Ratgeberliteratur im Besonderen für die Ästhetisierung des Alltags hatten. Prägnant arbeitet sie die Strategien der Ratgeber heraus, die zu einer Ästhetisierung der kommerziellen Gebrauchsgegenstände führten. Produzenten und Protagonisten dieser Ratgeberliteratur gehörten in das Umfeld der Interessenverbände „Deutscher Werkbund“ und „Dürerbund“ oder ihnen direkt an. Deren Bemühungen um Geschmackserziehung als Käufererziehung mittels Publikationen wie „Gediegenes Gerät fürs Haus“ aus dem Jahr 1912 werden im dritten Kapitel weiter verfolgt und mit dem Angebot in Versand- und Warenhauskatalogen verglichen. Außer der Feststellung einer gewissen Sortimentsnähe, also dem Anbieten ähnlicher Hausratsgegenstände in verschiedenen Katalogen, fördert dieser Vergleich aber vor allem Unterschiede zu Tage. Sowohl die Preis- wie die Qualitätsdifferenzen waren groß. Ein Ergebnis, das angesichts der unterschiedlichen Kundenkreise, die die kommerziellen Unternehmen ansprechen wollten, nicht erstaunt.

In den folgenden Kapiteln vier, fünf und sechs fragt Gudrun M. König nach den Zurschaustellungsstrategien der Dinge in Berliner Warenhäusern, Schaufenster und Gewerbeausstellungen sowie auf Plakaten und Konservendosen. Hierfür greift sie in großen Teilen auf Sekundärliteratur zurück, ergänzt deren Ergebnisse aber um die Interpretation, dass durch die permanente Sichtbarkeit der Waren ein „visueller Kollektivbesitz simuliert“ worden sei, der „zugleich die Teilhabe an der Konsumkultur stimuliert“ (S. 188) habe. Diese These wird im siebten Kapitel mittels einer quantitativen und qualitativen Analyse von Berliner Gewerbeausstellungen zum Teil plausibilisiert. Die Angebotsseite schuf eine beeindruckende Menge an Warenpräsentationen von bis zu 49 Ausstellungen pro Jahr und insgesamt 379 zwischen 1904 und 1913. Inwiefern und in welchem Maße diese die Besucher tatsächlich stimulierten, ist allerdings eine Frage, der Gudrun M. König nicht nachgeht.

Am Beispiel der Aktivitäten des „Deutschen Lyceums-Clubs“, des Deutschen Museums für Kunst in Handel und Gewerbe in Hagen und des deutschen Käuferbunds behandelt Kapitel acht das Phänomen der aktiven sozialpolitischen Aufklärungs- und Konsumentenerziehung im Rahmen von Berliner Ausstellungen. In der „Deutschen Heimarbeit-Ausstellung“ im Jahr 1906 wurden zum Beispiel die ausgestellten Waren – die mit Zusatzinformationen über die sie produzierenden Heimarbeiter, deren Arbeitsbedingungen und Löhne versehen waren – zu Zeugen von sozialen Missständen und zum Mittel sozialpolitischer Agitation. Einerseits sei Konsum moralisiert und an die Käufer als verantwortliche Adressaten appelliert worden. Andererseits habe sich beispielsweise der „Lyceums-Club“ um Verbraucherschutz mittels „Echtheitssiegel“ für die von ihm im Warenhaus Wertheim vertriebene „Volkskunst“ bemüht. Standen in den Kapiteln zwei bis acht die Produzenten und ihre Verkaufsstrategien sowie Protagonisten, die sich die Vermittlung von Geschmacks- und Käufererziehung auf die Fahnen geschrieben hatten, im Zentrum, so wendet sich das letzte Kapitel einem Teil der Adressaten, denen diese Bemühungen galten, zu. Anhand einer Analyse der Forderungen und Aktionen des 1907 gegründeten „Käuferbundes Deutschland“ und seiner Pendants in den USA, in Frankreich und der Schweiz behandelt Gudrun M. König die Interessenartikulationen der Käufer. Mit positiver Sanktionierung über „weiße Listen“ hatte der Verband an das moralische Gewissen der Käufer und ihre Macht als Kollektiv appelliert, um nachhaltiges Wirtschaften einzufordern.

Ein eigenständiges Schlusskapitel fehlt. Mit dem letzten Kapitel „Die Erfindung des Käufers“ endet die Monographie. Das hier zu findende Fazit referiert zwar die Ergebnisse aus den vorausgegangenen Kapiteln. Es vermag aber nicht die verschiedenen Ebenen der zuvor aufgezeigten Diskussionen über Geschmack, Qualität und Käufererziehung sowie Verbraucher- und Produzentenmobilisierung von wiederum verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Zielen, Mitteln und gewählten Strategien zusammenzuführen, und damit die eigene These der Geburtsstunde einer für das 20. Jahrhundert prägenden Konsumkultur argumentativ zu verdichten. Stattdessen fasst König ihre Ergebnisse auf die Bewertung zusammen, dass die Geschmacksdiskussionen eine „Inszenierungs- und Selbstverständigungsdebatte“ mit dem Ergebnis der „Erfindung des Käufers als Kollektiv“ (S. 355) gewesen seien.

Gudrun M. König behandelt kulturelle Symbolwelten und nicht wirtschaftliche Dynamiken, sie beschreibt die Auseinandersetzung über Geschmack und Qualität durch Experten sowie die bürgerliche Elite und nicht den quantitativen Verbrauch oder die Konsummuster der Massen. Doch gerade hierin liegt die Relevanz der Studie für die konsumhistorische Forschung. Sie kann zeigen, dass es nicht allein der tatsächliche oder zunehmende Besitz und Konsum von Waren durch eine Minderheit oder Mehrheit war, der die letzten Jahre des Kaiserreichs als Konsumgesellschaft charakterisiert, sondern ebenso die Verständigung über den moralischen, ästhetischen und sozialpolitischen Anspruch an das Konsumieren von industriell erzeugten Massenprodukten.

Anmerkungen:
1 Jennifer Bair, Global Capitalism and Commodity Chains. Looking Back, Going Forward, in: Competition and Change 9 (2005), S. 153-180; Gary Gereffi / Miguel Korzeniewicz (Hrsg.), Commodity Chains and Global Capitalism, Westport 1994; William Gervase Clarance-Smith, Cocoa and Chocolate. 1765–1914, London 2000; Mark Kurlansky, Cod. A Biography of the Fish that Changed the World, London 1998; Sidney W. Mintz, Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History, New York 1985.
2 Arjun Appadurai (Hrsg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1988; Bill Brown, Thing Theory, in: Critical Inquiry 28 (2001), S. 1–16.
3 Vgl. zuletzt: Tagungsbericht: Der Eigensinn der Dinge. 08.05.2009 – 09.05.2009, Berlin. In: H-Soz-u-Kult, 11.06.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2652> (16.4.2010).
4 Rainer Gries, Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003.