Krumeich, Gerd; Hoffstadt, Anke; Weinrich, Arndt (Hrsg.): Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg. . Essen 2010 : Klartext Verlag, ISBN 978-3-8375-0195-7 416 S. € 29,95

: Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914-1918. Essen 2010 : Klartext Verlag, ISBN 978-3-837-50171-1 354 S. € 24,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Michalka, Heidelberg

Der Erste Weltkrieg begann im Westen und endete dort. Kein Wunder auch, dass sich die Auseinandersetzung mit und in Frankreich, die verlustreichen Schlachten an der Marne und um Verdun in das kollektive Bewusstsein am nachhaltigsten eingegraben haben, so dass der "Große Krieg", der sich auch an anderen Fronten abspielte, besonders als ein deutsch-französischer Krieg begriffen wurde.

Der Franzose Jean-Jacques Becker und der Deutsche Gerd Krumeich, die seit vielen Jahren in wissenschaftlichen Projekten zusammenarbeiten, insbesondere im Forschungszentrum des Museums Historial de la Grande Guerre in Péronne an der Somme, haben nun gemeinsam eine Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs aus deutscher und französischer Sicht verfasst. Diese behandelt die militärischen und politischen Entwicklungen genauso wie die Betroffenheitsperspektive, das heißt das tägliche Leben und Sterben an der Front und die Entbehrungen der Bevölkerungen. Die Autoren haben sich darüber hinaus mit der kulturellen Verarbeitung des Weltkrieges, seiner Gedächtnis- und Erinnerungsgeschichte beschäftigt, und sie gelangen zu einer problemorientierten wissenschaftlichen Synthese der so verschiedenen Weltkriegserzählungen beider Nationen im Sinne einer gemeinsamen Geschichte. Es geht den beiden Autoren um Parallelen, aber auch um Asymmetrien in der Entwicklung beider Nachbarn. Diese wichtige Pionierarbeit ist ein entscheidender Schritt hin zu einer international vergleichenden Geschichtsschreibung des Ersten Weltkrieges und wird wegweisend sein für weitere transnationale Projekte.1 Wie schon das deutsch-französische Schulbuchprojekt ist es Symbol der deutsch-französischen Versöhnung.

Nach den vor allem in der deutschen und französischen Öffentlichkeit diskutierten internationalen Krisen (Marokko, Agadir, Balkan) erschien das Jahr 1914 als ein friedliches, zumal beide Länder vom Attentat in Sarajewo nicht direkt betroffen waren. Zwar reagierte die Massenpresse ausführlich auf das tragische Ereignis, aber nichts schien dafür zu sprechen, dass ein militärischer Konflikt die europäischen Staaten bedrohen könnte. Wenn überhaupt wurde eine Lokalisierung angestrebt. Für Deutschland galt Russland als der eigentliche Gefahrenherd, weil es die serbischen Agitationen zu unterstützen schien. Die russische Mobilmachung wurde dann auch als Auslöser der Kampfhandlungen verstanden. Die Frage, ob das Deutsche Reich regelrecht in den Krieg getrieben wurde oder im Gegenteil diesen kalkulierend in Kauf genommen hatte, also nach der Verantwortung und Schuld am Krieg, wird differenziert und ausgewogen behandelt. Deutschland sei – so folgern die Autoren – in die "Bündnisfalle" gestolpert, weil es zur Bündnistreue mit Österreich-Ungarn vermeintlich keine Alternative sah.

Frankreich hingegen habe sich in der Julikrise eher unbeteiligt-abwartend verhalten, man habe in Paris die Ereignisse eher beobachtet als beeinflusst, wohingegen in Deutschland die Entscheidungen der letzten Julitage vom Dogma des Schlieffenplanes dominiert wurden. Um die Gefahr eines drohenden Zweifrontenkrieges zu reduzieren, setzte dieser auf schnelle Mobilmachung und auf den völkerrechtswidrigen Durchmarsch durch Belgien. Zu Kriegsbeginn wurde in Frankreich ein "Waffenstillstand der Parteien", die "Union sacrée" geschlossen, die zum nationalen Mythos wurde. In Deutschland entsprach die nationale Einheit dem "Burgfrieden". Russland als Angreifer und das Wort von Kaiser Wilhelm II., er kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche, löste das „Augusterlebnis“ aus und schuf eine „Volksgemeinschaft“ – ein Begriff, den später die Nationalsozialisten okkupierten und schließlich pervertierten. Der innere Frieden war in beiden Ländern allerdings nur von kurzer Dauer. 1916 wurde er von der SPD aufgekündigt, als die Stimmung umkippte, weil sich die Vorstellung von einem kurzen und siegreichen Krieg als Illusion erwies. Proteste gegen Teuerung und Knappheit sowie ab 1918 Streiks in den Munitionsfabriken häuften sich. Auch in Frankreich setzte sich die Erkenntnis durch, dass ein baldiger Sieg zwar ausgeschlossen, eine Niederlage jedoch inakzeptabel war. Friedensinitiativen scheiterten an den sich steigernden nationalen Begehrlichkeiten.

Diese Entwicklungen sind der Hintergrund dafür, wie der Krieg sich in der Wahrnehmung der Franzosen und Deutschen in ihrer geistig-mentalen Befindlichkeit widerspiegelte. Ausgangspunkt ist die Frage: War es ein deutsch-französischer oder doch ein Völkerkrieg? Die Antwort der Autoren: Es war eher ein deutsch-französischer Krieg. Und es war ein totaler Krieg: Frankreich mobilisierte insgesamt sieben Millionen, Deutschland gar 13 Millionen Mann. Darüber hinaus – so zeigen neuere Untersuchungen – waren die Verluste an der Ostfront noch höher als im Westen. Damit hatte keiner der Militärplaner vor Kriegsausbruch gerechnet – auch nicht, dass dieser Krieg vier Jahre dauern würde. Anfängliche Erfolge des uneingeschränkten U-Bootkriegs und Russlands Kriegsaustritt verschoben das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten der Mittelmächte, so dass im Frühjahr 1918 ein deutscher Sieg greifbar nahe schien. Doch der amerikanische Kriegseintritt ließ das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen. Das Machtverhältnis hatte sich gedreht. Die numerische und vor allem materielle Überlegenheit der Alliierten beendeten den Krieg zu ihren Gunsten. Der Siegespreis war jedoch enorm hoch, so dass Frankreich seine tatsächlichen Verluste lange Zeit wie ein Geheimnis hütete. Es waren 1.383.000 Tote und mehr als fünf Millionen Verletzte. Durchschnittlich fielen 885 französische Soldaten pro Tag. Deutschland hatte sogar mehr als zwei Millionen Tote und über vier Millionen Versehrte zu beklagen. Die katastrophalen materiellen Schäden wurden durch Inflation und in Deutschland zusätzlich durch Reparationen in die Höhe getrieben. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts wurde zur Matrix Europas.

Der Große Krieg endete zwar 1918 militärisch, politisch-mental fand er als "Nachkrieg" seine Fortsetzung und vergiftete die deutsch-französischen Beziehungen. Frankreich hatte 1918 seine "Revanche" für 1870 bekommen. Für Deutschland hinterließ die Niederlage ein Gefühl der Ungerechtigkeit, der Versailler Vertrag wurde als unerträglich empfunden. So mündete der Krieg auf der politischen Ebene fast notgedrungen in einem weiteren militärischen Konflikt: dem Zweiten Weltkrieg.

Welche Konsequenzen wurden aus Krieg und Niederlage gezogen, kurz: Wie lernbereit bzw. lernfähig war die deutsche Nachkriegsgesellschaft?2 Ein von Krumeich herausgegebener Tagungsband beschäftigt sich jetzt differenziert und auf unterschiedlichen Ebenen mit der Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Aufstieg und Konsolidierung der nationalsozialistischen Bewegung und des Regimes nach 1933. Im Streit um die Erinnerung, um Verarbeitung und Bewertung des Krieges errangen die Nationalsozialisten bald die Deutungshoheit, weil sie es verstanden, das Weltkriegserlebnis für ihre Politik zu vereinnahmen. Sie waren es auch, die den von der Weimarer Republik an den Rand gedrängten Gruppen die vorenthaltene Beachtung schenkten. Sie schienen auch in der Lage zu sein, den zunehmend verbitterten Veteranen und Invaliden den "Dank der Nation" abzustatten. Und trotz der Reduktion der Frau auf die Rolle der Erzeugerin von Soldaten für den kommenden Krieg wurden die Mütter der gefallenen Helden des Weltkrieges in der nationalsozialistischen Symbolpolitik systematisch aufgewertet. Die Nationalsozialisten waren imstande, auch diesem Leid einen ihrer Ideologie gemäßen Sinn zu geben, ein Telos zu stiften. Über die Maskerade von Tradition konnten sie weite Teile der deutschen Gesellschaft an sich binden.

Die Palette der Themen reicht von der Instrumentalisierung und Medialisierung des Großen Krieges durch Indoktrination und Propaganda, aber etwa auch in Ausstellungen, Literatur, Film und Malerei, bis hin zu den politischen, ökonomischen, militärischen sowie anderen Lehren, die der Nationalsozialismus aus dem Ersten Weltkrieg für einen neuen, weitaus totaleren Krieg zog. Aber wie extrem auch immer die innere Motivation war, die Hitler aus dem Krieg und der Revolution zog, und wie radikal die Botschaft lautete, die er verkündete: Es ist Ian Kershaw zuzustimmen, wenn er feststellt, dass der „Führer“ nicht allzu viele Zuhörer gefunden hätte, wenn nicht Millionen Deutsche bereit gewesen wären, wenigstens partiell seiner Diagnose der deutschen Niederlage und der seiner Ansicht nach notwendigen Abhilfe zuzustimmen. Der Band macht deutlich, wie sehr diese Zustimmung auf die zahllosen Praktiken zurückzuführen ist, mit denen die Nationalsozialisten die Katastrophe des Ersten Weltkriegs ausbeuteten.

Markus Pöhlmann, der nach den Lehren des Kriegs für die Planungen der Reichswehr und Wehrmacht fragt, konstatiert, dass ein "Großer Plan" à la Schlieffen durch eine Reihe zeitlich beschränkter Feldzüge gegen militärisch unterlegene Gegner ersetzt werden sollte. Die kriegsentscheidenden USA nahmen in den Kriegsspielen merkwürdigerweise eine relativ vage Größe ein. Insgesamt habe der Zukunftskrieg einen gesamtgesellschaftlichen Charakter erhalten. Im Zuge der radikalisierenden Dynamik des Zweiten Weltkrieges und seiner ideologischen Ausrichtung verloren aber die Erfahrungen des vorausgegangenen Krieges immer mehr an Bedeutung. Einigkeit bestehe darin, dass die Eskalation der Gewalt nicht erst ein Signum des Zweiten Weltkrieges ist. Die Industrialisierung des Kampfes, der Einsatz neuer Waffensysteme wie Giftgas und Maschinengewehr, der über Tage dauernde Artilleriebeschuss, Stellungs- und Grabenkriege, Deportationen und Fremdarbeitereinsätze sowie der Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 hatten die bis dahin bekannten Schwellen der Gewalt längst überschritten.

Während die zu Millionen addierten Opfer im Ersten Weltkrieg meist Männer waren, so steigerte sich die Gewalt im Zweiten Weltkrieg bis zum Mord an wehrlosen Frauen und Kindern. Und diese Verbrechen, so betont Volker R. Berghahn, wurden oftmals von oberster Stelle geplant und angeordnet – eine neue Qualität der Kriegführung, die in die Gegenwart vorausweist. Dabei reflektiert er die Täterforschung, wie sie besonders von Christopher R. Browning, Daniel J. Goldhagen und Michael Wildt am Beispiel mordender Einsatzgruppen und Polizeibataillone vorangetrieben wurde, mit dem Ergebnis: Ursachen der Gewaltexzesse „ganz normaler Männer“ sollten nicht ausschließlich im NS-Regime oder in den beiden Weltkriegen gesucht werden. Vielmehr müsse der Bogen zurückgeschlagen werden zum europäischen Kolonialismus, der bereits genozidale Ausschreitungen aufweise. Wie überhaupt die zunehmende Gewaltbereitschaft weniger mit dem klassischen Instrumentarium der Geschichtsschreibung, sondern vielmehr mit den Methoden der Sozialpsychologie zu deuten sei.

Dieser verdienstvolle Band, der eine gelungene Mischung multiperspektivischer Beiträge "gestandener" Historiker und Nachwuchswissenschaftler versammelt, dokumentiert nicht nur den aktuellen Forschungsstand, sondern regt zu neuen weiterführenden Fragestellungen an. Über das Verhältnis beider Weltkriege, deren Vorläufer und Auswirkungen, ist längst noch nicht das letzte Wort gesprochen worden.

Anmerkungen:
1 Eine Neuauflage sollte Fehler korrigieren: Einmal heißt es richtig Kiderlen-Wächter, dann aber wiederholt Kiderlein-Wächter (S. 39ff.) Nachfolger des zurückgetretenen Reichskanzlers Philipp Scheidemann war nicht Gustav Baum sondern Gustav Bauer (S. 303). Und am 31. Januar 1918 versammelte sich eine halbe Million streikende Arbeiter nicht auf der Berliner Lustwiese, sondern im Lustgarten (S. 133).
2 Vgl. dazu bereits Gottfried Niedhart / Dieter Riesenberger (Hrsg.), Lernen aus dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten 1918 und 1945. Beiträge zur historischen Friedensforschung, München 1992.

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