H. Schrulle: Verwaltung in Diktatur und Demokratie

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Titel
Verwaltung in Diktatur und Demokratie. Die Bezirksregierungen Münster und Minden von 1930 bis 1960


Autor(en)
Schrulle, Hedwig
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 60
Erschienen
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
765 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Werner, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die administrative Mittelinstanz der preußischen Provinzen bot für die Nationalsozialisten besondere Angriffspunkte, um im Zuge der „Gleichschaltung“ der Länder ab 1933 die regionalen Machtbalancen zugunsten eines unmittelbaren Reichszugriffs zu verschieben. Das traditionell komplexe Verhältnis zwischen den preußischen Oberpräsidenten auf Provinz- und den Regierungspräsidenten auf Bezirksebene 1 bildete dabei den Schlüssel: Viele Gauleiter der NSDAP wurden nach der Machtergreifung zu Oberpräsidenten ernannt und versuchten, die ihnen verwaltungsmäßig nicht direkt unterstellten Regierungspräsidenten „auf Linie“ zu bringen.

Während die daraus resultierenden politischen Konflikte immer wieder aus der Provinzialperspektive betrachtet wurden 2, untersucht Hedwig Schrulle nun in ihrer Dissertation die Auswirkungen der „Gleichschaltung“ auf der Ebene der Regierungspräsidenten. Am Beispiel der Bezirksregierungen von Münster und Minden bestimmt sie für den Zeitraum zwischen 1930 und 1960 „Ausmaß und Reichweite der Handlungsautonomie der Bezirksregierungen sowie die handlungsleitenden Motive und Interessen des Personals“ (S. 5). Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei deutlich auf dem Zeitraum bis 1945.

Methodisch lehnt sich Schrulle an die soziologische Implementationsforschung an 3, nach der sie das Verwaltungshandeln auf verschiedenen Ebenen untersucht: Vor dem Hintergrund „der gesetzlichen Programmformulierung in Reich und Ländern“ konzentriert sie sich auf die Ebene der „Vollzugsinstanzen“ sowie „der behördlichen Klientel“ (S. 9). Mit Bezug auf Max Weber fragt Schrulle, in welchem Maße die preußischen Bezirksregierungen nach 1933 „den Prinzipien der klassischen Verwaltungslehre verpflichtet blieben bzw. inwieweit sie diese nur unter äußerem Druck aufgaben“ (S. 14). Sie konzentriert sich dabei neben der Personalpolitik auf die vermeintlich rein technische Baupolizei, auf die „durch den nationalsozialistischen Erziehungsanspruch hochgradig ideologisch“ (S. 20) aufgeladene Schulaufsicht sowie auf das Gesundheitswesen.

Die Arbeit beginnt mit einer Darstellung der verschiedenen Generationen von Regierungspräsidenten, wobei Schrulle die gesamtpreußische Perspektive immer wieder einbezieht. Während im Zuge des „Preußenschlags“ vom Sommer 1932 bereits elf (von 31) Regierungspräsidenten abgesetzt worden waren, wurden im ersten Jahr nach der nationalsozialistischen Machtergreifung noch einmal insgesamt 24 Amtsinhaber ausgewechselt. Dieses dramatische Revirement – aus der Weimarer Zeit waren im Frühjahr 1934 nur noch zwei Regierungspräsidenten im Amt – stand ganz im Zeichen einer Aufwertung der Gauleiter bzw. Oberpräsidenten, denen es in vielen Fällen gelang, eigene Kandidaten als Regierungspräsidenten durchzusetzen.

In den Folgejahren wurden die Bezirksregierungen durch die Übertragung von Hoheitsfunktionen auf „die stetig wachsende Zahl von (berufs-)ständischen Körperschaften, halbstaatlich-parteimäßigen Organisationen und vor allem von staatlichen Sonderbehörden“ (S. 171) institutionell ausgehöhlt. Viele Regierungspräsidenten wie der Mindener Adolf von Oeynhausen versuchten, das Reichsinnenministerium durch Eingaben „gegen die fortschreitende Zersplitterung der Verwaltung zu mobilisieren“ (S. 174). Auch wenn solche Initiativen inhaltlich mit den Verwaltungsreformabsichten des Reichsinnenministeriums korrespondierten, gerieten die Regierungspräsidenten durch dieses Engagement noch stärker in das Schussfeld der an einer staatlichen Kontrolle ihrer Einflussbereiche nicht interessierten Gauleiter.

Im Gau Westfalen-Nord war die Position der Regierungspräsidenten – durchaus typisch – vom persönlichen Vertrauen des Gauleiters, Alfred Meyer, abhängig. Meyer hatte seit 1933 starken Einfluss auf die Personalpolitik der Bezirksregierungen genommen und wurde 1938 Oberpräsident der Provinz Westfalen. Selbst ein „Altparteigenosse“ wie Adolf von Oeynhausen blieb als Regierungspräsident auf das Wohlwollen Meyers angewiesen, der ihn 1942 wegen einer „zu laxen Haltung […] in der Kirchenfrage“ (S. 60) ablösen ließ.

Schrulle arbeitet sehr detailliert heraus, wie diese Macht- und Konfliktkonstellationen die Bezirksregierungen lähmten. Das liest sich manchmal etwas mühsam, aber die Zerrüttung traditioneller Verwaltungsarbeit im Nationalsozialismus wird eben erst dann wirklich anschaulich, wenn man sich beispielsweise in die Niederungen baupolizeilicher Genehmigungsverfahren begibt. An diesen Verfahren beteiligten sich nach der Verkündung des Vierjahresplans im Herbst 1936 immer mehr Sonderverwaltungen und zusätzliche Fachbehörden, sodass sich die Genehmigung von Bauten immer aufwendiger und langwieriger gestaltete. Vorschläge der Bezirksregierungen für eine erneute Vereinfachung des Verfahrens versandeten lange in den Ressourcenkämpfen der Reichs- und Sonderbehörden. Erst Albert Speer erreichte 1943 in seiner Funktion als Generalbevollmächtigter für die Regelung der Bauwirtschaft eine neuerliche Zentralisierung der Baugenehmigungen, allerdings in Verbindung mit einem verschärften Bauverbot, das die zivile Bautätigkeit nahezu stilllegte.

Für die ideologisch aufgeladene Schulpolitik erkennt Schrulle in der Arbeit der Bezirksregierungen ein „normenstaatliches“ Verwaltungshandeln, das die von Gauleiter Meyer zugespitzten Konflikte mit den Konfessionsschulen zumindest bis Ende der 1930er-Jahre dämpfte. Bei der Sterilisation so genannter „Erbkranker“ hingegen erwies sich die Mindener Regierung bereits seit 1934 als „willfähriges Herrschaftsinstrument des NS-Regimes“ (S. 604). Schrulle zeigt an einer Vielzahl von Beispielen, dass die Prinzipien der klassischen Verwaltungslehre nicht nur durch von außen herangetragene Politikziele gefährdet, sondern vor allem aus der Verwaltungspraxis der Bezirksregierungen selbst heraus zersetzt wurden.

Für die Zeit nach 1945 konzentriert sich die Studie schließlich auf die Entnazifizierungspraxis bzw. den Umgang mit Verwaltungspersonen, die Mitglied der NSDAP gewesen sind. Hier kommt Schrulle für die untersuchten Bezirksregierungen zu einem wenig überraschenden, zweischneidigen Resultat. Während die Regierungspräsidenten von der britischen Besatzungsmacht abgesetzt wurden und zum Teil mehrere Jahre in Internierungslagern verbrachten, verlief die Entnazifizierung nachgeordneter Beamter „wesentlich pragmatischer“ (S. 482). Die neuen Regierungspräsidenten bestimmten dabei die Entwicklung maßgeblich mit: Sozialdemokratische Vertreter sahen in der Entnazifizierung ein wichtiges gesellschaftspolitisches Instrument, bürgerlich-konservative hingegen begünstigten die „Selbstentlastungsbemühungen“ (S. 607) ihrer Beamtenschaft.

Mit dem Verzicht, die für das „Dritte Reich“ ausgewählten Aufgabenfelder auch für den Zeitraum von 1945 bis 1960 systematisch zu untersuchen, vergibt Schrulle die vielversprechende Möglichkeit, die konkrete Verwaltungspraxis der Bezirksregierungen über die Zäsur 1945 zu analysieren. Das ist bedauerlich, denn in den präsentierten Beispielen aus der westfälischen Schulpolitik der späten 1940er- und 1950er-Jahre wird deutlich, dass sich die Inhalte und die Formen der Konfliktaustragung – etwa in der Frage der Schulreformen oder im Umgang mit konfessionellen Minderheiten – fundamental wandelten oder zumindest, wie bei der Neugründung konfessioneller Schulen, an die Weimarer Tradition anknüpften. Es ist fraglich, ob es sich dabei tatsächlich nur um reine „Anpassung“ handelte, oder nicht doch vielmehr auch um Adaptions- und Lernprozesse, die man nicht prinzipiell in Abrede stellen kann. Hier wäre eine weitere Ausdifferenzierung der verwaltungsinternen Verhaltensweisen sinnvoll gewesen.

Das Resümee der Studie fällt entsprechend allgemein aus. Schrulle stellt fest, dass sich die Verwaltung über „die politischen Umbrüche von 1933 und 1945 hinweg“ sowohl „durch ein enormes institutionelles und personelles Beharrungsvermögen“ als auch „durch eine große Anpassung und Flexibilität in ihrem Verwaltungshandeln“ (S. 597) ausgezeichnet habe.
Zugleich hätten die „zahlreichen Kompromisse zwischen den an der Personalauswahl beteiligten Stellen“ dazu geführt, dass „sich kein homogenes Korps an Regierungspräsidenten während der NS-Zeit herausbilden konnte“ (S. 598). Vielmehr sei die Beamtenschaft sozial und vom Bildungsstand her uneinheitlich geblieben – neben jungen, aufstiegsorientierten Verwaltungsbeamten entwickelten auch ältere Beamte der NS-Regierung gegenüber eine Loyalität, die vor allem aus der gemeinsamen Ablehnung der Weimarer Demokratie herrührte. Damit bestätigt Schrulle die Erkenntnisse früherer Studien zur deutschen Verwaltungselite.4

Trotz der skizzierten Einwände handelt es sich bei der Arbeit um einen gewichtigen Beitrag zur westfälischen Regionalgeschichte. Sie bietet darüber hinaus vielfältige Anregungen für eine vertiefende Untersuchung der polykratischen Strukturen im „Dritten Reich“ auf Provinzial- und Bezirksebene. Die Frage nach der Kontinuität des Verwaltungshandelns über das Jahr 1945 hinaus wird indes nicht mit derselben Trennschärfe bearbeitet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Klaus Schwabe (Hrsg.), Die preußischen Oberpräsidenten 1815-1945, Boppard am Rhein 1985.
2 Zuletzt von Fabian Scheffczyk, Der Provinzialverband der preußischen Provinz Brandenburg 1933-1945. Regionale Leistungs- und Lenkungsverwaltung im Nationalsozialismus, Tübingen 2008.
3 Vgl. Renate Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, 2 Bde., Opladen 1980 und 1983.
4 Vgl. etwa Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewusstsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928-1972, München 1996.

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