S. Wehking (Hrsg.): Die Inschriften der Lüneburger Klöster

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Titel
Die Inschriften der Lüneburger Klöster. Ebstorf, Isenhagen, Lüne, Medingen, Walsrode, Wienhausen


Herausgeber
Wehking, Sabine
Reihe
Die Deutschen Inschriften 76 = Die deutschen Inschriften: Göttinger Reihe 13
Erschienen
Wiesbaden 2009: Reichert Verlag
Anzahl Seiten
455 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Linda Maria Koldau, Institut for Æstetiske Fag, Aarhus Universitet

„Vom September 2006 bis zum September 2009 entstanden“ – wer Sabine Wehkings Band „Die Inschriften der Lüneburger Klöster“ in die Hand nimmt, mag diese Zeitspanne kaum glauben: 455 Seiten mit historischem Quellenmaterial, oft unter Schwierigkeiten und mit detektivischem Scharfsinn aufgespürt, registriert, ediert, aus dem Lateinischen übersetzt, kommentiert und kontextualisiert; 345 Nummern, zum Teil aufgegliedert in zahlreiche Unternummern, je nachdem, wo sich auf dem Inschriftenträger überall Inschriften fanden. Wer über die Lüneburger Klöster arbeitet, aus welcher Perspektive auch immer, wird ohne diesen Band künftig nicht auskommen können: Er zeichnet die Geschichte und Entwicklung dieser Klostergruppe in einer umfassenden Weise nach, an die die übliche disziplinäre Trennung der Quellengattungen – Literatur, Kunst, Architektur, Musik – nicht heranreichen kann.

Sabine Wehking hat den Band im Auftrag der Inschriftenkommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen erstellt (gefördert durch die Klosterkammer Hannover und die VGH-Stiftung). Die hochrangige wissenschaftliche Arbeit präsentiert eine Mischung aus kunsthistorischer Archäologie und geschichtswissenschaftlicher Forschung in zahlreichen Disziplinen, wobei in erster Linie Frömmigkeitsgeschichte, Kunstgeschichte, Textilkunde und Schriftkunde zu nennen sind.1 Die Ausweitung des – bei den Inschriften-Bänden ansonsten bis zum Jahr 1650 begrenzten – Zeitraums auf das Jahr 1700 erfolgte aus kultur- und frömmigkeitsgeschichtlichen Gründen: Die sechs Klöster, ursprünglich als Benediktinerinnen- und Zisterzienserinnenkonvente gegründet und im Zuge der Reformation in evangelische Damenstifte umgewandelt, erlebten gerade nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges eine Erneuerung der Frömmigkeit, die sich in den Inschriften deutlich abzeichnet. Berücksichtigt wurden Originale sowie Inschriften, die nur noch in älteren Abschriften oder auf Abbildungen vorliegen; die angestrebte Vollständigkeit wird lediglich dadurch eingeschränkt, dass eine gewisse Zahl von Quellen bis heute verborgen sein dürfte.

Abgedeckt ist ein breites Spektrum an Inschriftenträgern: die berühmten mittelalterlichen Bildteppiche in den Klöstern Wienhausen und Lüne, verschiedene Gegenstände der Kirchenausstattung (Vasa sacra, Leuchter, Taufbecken, Paramente, Epitaphien und Gemälde, Altäre und Kanzeln sowie die Orgel des Klosters Lüne), Wandmalereien und Grabdenkmäler. Zusammengenommen und im historischen Kontext betrachtet, spiegeln diese manchmal extrem kurzen, manchmal relativ umfassenden Texte die Entwicklung der Klöster, die Klosterreform im 15. Jahrhundert, die Durchführung der Reformation und die Umgestaltung in Damenstifte sowie die allmähliche Verfestigung des evangelischen Bekenntnisses und seiner speziellen Lebensform in den Stiften wider. Sie stellen somit eine besondere, in der Forschung bislang nur selten beachtete Quellenart sowohl für die mittelalterliche Frömmigkeit in norddeutschen Frauenklöstern als auch für den Wandel des religiösen Lebens im 17. Jahrhundert dar.

Der knapp 450-seitige, chronologische Katalogteil bietet für jede Nummer eine präzise Quellenbeschreibung (samt Datierung), ihre Edition mit Auflösung der Abkürzungen und gegebenenfalls Übersetzung der Inschrift, eine Beschreibung des jeweiligen Inschriftenträgers (hier wird der Zusammenhang deutlich, in dem die Inschrift steht) und einen Kommentar. Für sich genommen, führen die Kommentare hinein in die Geschichte und die religiöse Lebenswelt der Lüneburger Klöster – mit einer Präzision und Kenntnis von Primär- und Sekundärquellen, die ihresgleichen sucht. Nicht selten beleuchtet Sabine Wehking bekannte und vielzitierte Quellen in neuem Licht und kommt dabei zu unerwarteten Ergebnissen. So zeigt die Analyse des Medinger Gemäldezyklus mit seinen zahlreichen Inschriften (entstanden 1499, überliefert durch eine Abschrift von 1772), dass das als „ehemaliges Zisterzienserinnenkloster“ bekannte Damenstift in den klösterlichen Quellen nur wenige Jahrzehnte lang als Zisterzienserinnenkloster bezeichnet wurde und vielmehr über Jahrhunderte die benediktinische Tradition pflegte (Nr. 58, S. 135f.). Tatsächlich steht das plötzliche Bekenntnis zum Zisterzienserorden in unmittelbarem Zusammenhang mit der Klosterreform – wobei Sabine Wehking in realistischer Deutung aufzeigt, dass es durchaus im Sinne der neu eingesetzten, den Idealen von Demut und Bescheidenheit verpflichteten Reform-Priorin Margaretha Puffen gewesen sein dürfte, in den glanzvollen Status einer zisterziensischen Äbtissin erhoben zu werden.

Eine knappe, jedoch ebenfalls höchst aufschlussreiche Grundlage für die speziellen Analysen und Kommentare im Katalogteil bietet die Darstellung der sechs Klöster in der Einleitung. Sabine Wehking beschreibt hier in aller Kürze die Geschichte jedes Klosters und stellt Bezüge zwischen dem Inschriftenbestand und dem individuellen Kloster her. Dabei zeigt sich die eigene Charakteristik jedes einzelnen Konvents: das Totengedenken in Kloster Ebstorf; der reiche Bestand an nachreformatorischen Inschriften in Isenhagen; der herrschaftliche Stil des Klosters Lüne (verkörpert durch die Reihe der Domina-Darstellungen und den besonderen Schwerpunkt auf Dorothea von Meding) wie auch das Aufscheinen einer neuen, frühbarocken protestantischen Frömmigkeit in diesem Damenstift; die Grabplatten für die Pröpste, Priorinnen, Äbtissinnen und Dominae in Medingen; der geringe Inschriftenbestand in Kloster Walsrode, der auf einen Großbrand im Jahr 1482 und eine eigene Prägung des Reformationsprozesses zurückzuführen ist; demgegenüber wiederum das prunkvolle, von den Welfenherzögen geförderte Kloster Wienhausen, das den höchsten Bestand an vorreformatorischen Inschriften aufweist – der berühmte Nonnenchor aus dem 14. Jahrhundert könnte dazu beigetragen haben, dass die Konventualinnen die frühere Ausstattung auch nach der Reformation als erhaltenswert betrachteten (S. 21). Während viele der Inschriften Zeugnis von der generellen Frömmigkeit, insbesondere auch nach der Reformation geben, gewähren kulturhistorische Kleinode wie die Steckschildchen aus dem Kloster Wienhausen (Nr. 77, S. 155f.) Einblick in die Organisation und den Dienstplan des vorreformatorischen Gottesdienstes.

Weitere kultur- und frömmigkeitsgeschichtliche Aufschlüsse bietet die Einleitung mit einer Beschreibung der Texttypen und Inschriftenträger (Grabinschriften, Bildbeischriften und erbauliche Texte) und zwei Abschnitten über die Sprache und die Schriftformen der Inschriften. Insgesamt zehn Register sichern, dass sämtliche Aspekte des kulturhistorischen Reichtums in diesem Buch auffindbar sind: die Standorte der Inschriftenträger in den sechs Klöstern; die Personen- und Ortsnamen sowie andere geografische Bezeichnungen; Wappen und Marken; Initien (in Latein und Deutsch); Formeln und besondere Wendungen, die immer wieder auftreten (etwa „starb“, „obiit“, „selig in Christo“); Texttypen und Inschriftenarten nach Sprachen geordnet; Zitate und Zitatparaphrasen aus der Bibel, aus liturgischen Texten, Kirchenliedern und geistlichen Schriften (erneut ein zentrales Zeugnis für die sich im Alltag niederschlagende Frömmigkeit); Inschriftenträger; Schriftarten; schließlich ein umfassendes Sachregister mit gesonderten Abschnitten einerseits für Heilige, biblische Personen, Allegorie, Mythologie in Text und Bild, Ikonographie, andererseits für Initialen.

Abschließend folgt ein Bildteil mit 300 Abbildungen, 76 davon in Farbe, die einen erheblichen Teil der edierten Inschriften vor Augen führen. Größtenteils von der Autorin selbst aufgenommen, bieten sie in hervorragender fotografischer Qualität Einblicke in Details, die beim Besuch der Klöster – meist schon auf Grund der Platzierung oder Distanz der Inschriften vom Betrachter – verborgen bleiben.

1988 gab Sabine Wehking ihren ersten Band in der Inschriften-Reihe heraus.2 Die über 20-jährige Erfahrung, gepaart mit wissenschaftlichem Scharfsinn und spürbarer Begeisterung für die Materie, spricht aus jeder Seite dieses Bandes. In ihrem Vorwort hebt die Autorin hervor, dieses Inschriftenprojekt sei „ein ganz besonderes“ gewesen: „Die Atmosphäre ungebrochener Tradition, die die Klöster und ihre Konventualinnen noch heute vermitteln, überträgt sich ungebrochen auf denjenigen, der dort – wenn auch nur vorübergehend – arbeiten darf.“ (S. 8) Tatsächlich hat sich eben diese Atmosphäre auch auf dieses Buch übertragen: „Die Inschriften der Lüneburger Klöster“ werden nicht nur für Klosterforscher aus verschiedenen Disziplinen, sondern für jeden, der ein Interesse an norddeutscher Frömmigkeitskultur hat, eine Freude sein.

Anmerkungen:
1 Gemäß den Richtlinien der Inschriftenkommission wurden nur Inschriften aufgenommen, die auf dauerhaftem Material ausgeführt und nicht mit Feder auf Pergament oder Papier geschrieben sind.
2 Sabine Wehking (Hrsg.), Die Inschriften der Stadt Osnabrück, Wiesbaden 1988.

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