G. Mölich u.a. (Hrsg.): Rheinland, Westfalen und Preußen

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Titel
Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte


Herausgeber
Mölich, Georg; Veltzke, Veit; Walter, Bernd
Erschienen
Münster 2011: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie van de Kerkhof, Historisches Institut, Universität Mannheim

Die Histoire Croisée trachtet zwar nach Überwindung einer nationalstaatlichen Fokussierung, doch dient der Nationalstaat häufig als Ausgangspunkt ihrer Analysen. In modernen Verflechtungsgeschichten stehen die (post-)kolonialen Staaten und transnationale Phänomene stärker im Mittelpunkt. Ein Desiderat blieben aber regionale Dimensionen, die der vorliegende Band in sieben profunden Beiträgen in den Blick nimmt. Ansätze der Verflechtungsgeschichte werden explizit nur in der konzisen Einleitung von Georg Mölich angesprochen, dienen aber als Hintergrundfolie für die Beziehungsgeschichte Rheinland-Westfalens mit Preußen vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Den souveränen Auftakt macht Jörg Engelbrecht (†2012) mit einem landeshistorischen Überblick über die Konstituierung und Expansion brandenburgisch-preußischer Herrschaft. Die Darstellung der dynastischen Auseinandersetzungen (jülich-klevischer Erbfolgestreit, pfälzischer und spanischer Erbfolgekrieg) wird sorgfältig in die europäische Herrschaftsgeschichte eingebettet. Engelbrecht zeigt dabei, wie das Gebiet eher ein „Objekt der politischen Bestrebungen fremder Mächte gewesen ist, als das aus ihm selbst heraus gestalterische politische Impulse gekommen wären“ (S. 40). Verdeutlicht wird diese These etwa am politischen, ökonomischen und kulturellen Einfluss der Niederlande auf die brandenburgische Herrschaft unter dem Großen Kurfürsten. Durch die klar zentrierte Herrscherperspektive wird überzeugend dargelegt, dass nicht nur die östlichen Gebietserweiterungen im 17. Jahrhundert an Relevanz zunahmen, sondern dass das Haus Hohenzollern auch besonderes Augenmerk auf die Konsolidierung seiner westlichen Territorien legte. Die Spannung zwischen West und Ost sieht Engelbrecht als Konstituante der brandenburgisch-preußischen Dynastie bis zum Ende ihrer Herrschaft 1918.

Den beherrschten Gebieten widmet sich Horst Carl intensiver für das „lange“ 18. Jahrhundert. Er misst insbesondere der Krönung 1701 eine große Bedeutung als einigendes Symbol bei, denn die Neuerwerbungen im Westen waren äußerst heterogen in konfessioneller, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht. Konflikte entstanden auch bei der Integration der katholischen Untertanen in ein gesamtpreußisches Staatswesen und bei der Einbindung der überwiegend lutherischen Bevölkerung in eine calvinistisch geprägte Herrschaft. Die Verbindung von Toleranz und Aufklärung mit pietistischen, bürgerlichen Werten wirkte daher legitimierend. Herrschaftssichernd war daneben die Konstituierung eines kostspieligen Militärstaats mit Festungsbau in Wesel, Minden und Magdeburg. Ausführlich beschreibt Carl die zentrifugalen Tendenzen, die trotz forcierter Staatsintegration und administrativer Regelung fortbestanden, wozu die ineffiziente preußische Städtepolitik im Westen beitrug. Erst nach dem Siebenjährigen Krieg setzten fortschrittlichere Entwicklungen unter innovativen Beamten ein. Mit modernen gesetzgeberischen und wirtschaftlichen Impulsen im Gewerbe, Berg- und Hüttenwesen machten sie die Region zwar zur „Modernisierungsressource für den preußischen Gesamtstaat“ (S. 94). Insgesamt zeigt Carl aber mit Rückgriff auf neuere Forschungen, dass nicht die preußischen Reformen, sondern die französischen beziehungsweise rheinbündischen Reformen „die entscheidende Umbruchphase auf dem Weg in eine bürgerlich-moderne Gesellschaftsordnung“ (S. 103) markieren.

Im längsten Beitrag stellen Jürgen Herres und Bärbel Holtz den schwierigen Weg vom Wiener Kongress bis 1888 dar. Sie nehmen stärker beziehungsgeschichtliche Fragen in den Fokus und zeigen, dass die Industrialisierung – verbunden mit älteren Konflikten – zu neuen Spannungen führte. Dies galt nicht nur für die alten Eliten aus Adel und Klerus, sondern auch für neue bürgerliche Schichten, die als „Mußpreußen“ (Venedey) stereotype Kritik an der Verwaltung übten. Die in den Westen kommenden preußischen Beamten verwunderte dagegen die Mentalität der durch die Reformen der Besetzungszeit geprägten „Halbfranzosen“, denen eine „Re-Germanisierung“ (S. 125) entgegen wirken sollte. Daraus ergaben sich vielfältige Konflikte, auch Konkurrenzen der Städte und Behörden untereinander. Teil der Konflikte war die liberale rheinische Verfassungsbewegung von 1817/18 und die Lobbyarbeit des Adels zur Wiederherstellung der Standesvertretungen und des Grundbesitzes 1818. Die Versorgungskrisen 1830/31 und 1846/47 reflektierten dagegen die sozialen Spannungen. Streitobjekte waren auch Finanzfragen und Prestigeprojekte wie der Eisenbahnbau. Insbesondere im Konflikt um die Rheinische Städteordnung von 1856 können Herres und Holtz die zentralen Linien der Auseinandersetzung zwischen den politisch liberalen und wirtschaftlich fortschrittlichen Rheinlanden und den altpreußischen Hoch- und Ultrakonservativen nachzeichnen. Diese Spannungen äußerten sich von Widerständen gegen die preußischen Jubiläumsfeiern 1865, politischen Bewegungen und Streiks 1869 bis 1873 bis hin zum „Kulturkampf“ und den Sozialistengesetzen. Dabei spielten die gewandelten Arbeits- und Lebensverhältnisse eine entscheidende Rolle, wie Herres/Holtz anhand neuen Datenmaterials eingehend nachweisen.

Die sozioökonomischen Entwicklungen verfolgt auch Veit Veltzke in seinem Beitrag zum wilhelminischen Kaiserreich. Er betont, dass Wilhelm II. konsensuale innenpolitische Ziele (zum Beispiel Arbeiterschutzgesetze, Integration des Zentrums) verfolgte, die zur stärkeren „Integration von Preußens westlichen Provinzen in den Gesamtstaat“ führten (S. 216). Als wesentliche Grundlage dafür sieht er Bevölkerungswachstum, wirtschaftliche Potenz und neue politische Konstellationen: Gewerkschaftsgründungen, Sozialdemokratie und Zentrum sowie die nationalen Verbände und Vereine. Hier zeigt Veltzke, dass auch in Rheinland und Westfalen koloniale, expansive und militaristische Lobbygruppen agitierten. Sie betrieben im Verbund mit den Wirtschaftsverbänden eigenständig Expansionspolitik. Integrativ für das Reich wirkten auch Schutzzollpolitik und lokale Agitation für eine Germanisierungspolitik in den Nachbarländern durch den Bund der Landwirte und die schwerindustriellen Verbände. Diese Sammlungspolitik unterstützte eine neue Repräsentations- und Symbolpolitik des Kaisers, der „Kaiser und Reich“ in das Zentrum seiner Identitätskonstruktion rückte. Seine überkonfessionelle Bedeutung suchte er durch profane und sakrale Bauwerke an Rhein und Ruhr zu stärken. Integrierend wirkte das wilhelminische Kaiserreich auch auf die Großregion, die durch die neue Militärstruktur, Schul- und Bildungspolitik sowie Vereinsgründungen eine gemeinsame „rheinisch-westfälische“ Identität herausbildete.

Demgegenüber zeigt Martin Schlemmer in seinem kürzeren Beitrag zur Weimarer Republik, dass in den 1920ern die Zahl der konkurrierenden zentralstaatlichen, regionalen und kommunalen Interessen zunahm. Zwar wird deutlich, dass gerade dieser konfliktreichen Umbruchsphase größerer Raum gewidmet werden müsste, um beispielsweise die Rolle der Westprovinzen bei der Verhandlung des Versailler Vertrages genauer zu beleuchten. Differenziert werden aber die Mentalitäten der Zwischenkriegszeit dargestellt: einerseits schwanden Vorbehalte gegen den bürokratisch-effizient agierenden „Freistaat Preußen“, andererseits wurde „das Preußentum“ mit Militarismus, Drill und Obrigkeitshörigkeit weiterhin abgelehnt. Rheinische beziehungsweise westfälische Mentalitäten wurden zum Beispiel von der Separatistenbewegung instrumentalisiert, wobei multiple Identitäten entstanden. Stammesgedanke und Heimatideologie wurden zunehmend von völkischen und nationalsozialistischen Gruppierungen genutzt. Doch erkennt Schlemmer seit den Präsidialkabinetten bis zum „Preußenschlag“ von Papens zunehmend Grenzen dieser Instrumentalisierung, denn „rheinische, westfälische und preußische Identitäten waren im völkisch-nationalen Sinne also solange willkommen, wie sie nicht in Konkurrenz zu einer deutschen Identität im nationalsozialistischen Verständnis traten, sondern dieser zuarbeiteten und von der NS-Stammesideologie dienstbar gemacht werden konnten“ (S. 312).

Bernd Walter verdeutlicht profund und strukturiert die Vielschichtigkeit des Preußen-Bildes im öffentlich-politischen Gedächtnis, das von den Nationalsozialisten instrumentalisiert und zu einem „Preußen-Mythos“ mit historischen Versatzstücken stilisiert wurde. Regionale Eigenheiten, vor allem in den altpreußischen Regionen, führten eher zum Rückgriff auf frühneuzeitliche Bezüge als zu nationalen Symbolen des Wilhelminismus. Der Zug zur volkstümlichen Identifikation verstärkte sich und prägte „weite Kreise des Bürgertums bis über die NS-Zeit hinaus …, im ländlich geprägten Westfalen noch intensiver als im stärker urbanisierten Rheinland“ (S. 358). Diese Differenzen zeigten sich auch in der Unterstützung national-konservativer Parteien, die in ihrer Diversität eingehend diskutiert werden. Die geringe NSDAP-Wählerschaft in katholisch und sozialdemokratisch oder sozialistisch geprägten Milieus in den Städten führte dazu, dass diese Gebiete propagandistisch intensiver bearbeitet wurden. Dabei zeigt Walter, dass die Janusköpfigkeit Preußens auch in der Instrumentalisierung von völkischen, altpreußischen oder nationalkonservativen Eliten erhalten blieb. Eingehend analysiert wird dazu der „Tag von Potsdam“ als Übergabe der Macht von den altpreußischen Eliten an die NSDAP, die Gestaltung lokaler Festveranstaltungen, akademische Weihestunden, Denkmäler oder stereotyp gestaltete Preußenfilme, die mit großer Resonanz gezeigt wurden. In der Praxis dagegen wurden die preußischen Behörden seit 1934 durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ weitgehend beseitigt. Auf der Ebene von Kommunen und Provinzialverwaltung blieben zwar preußische Beamte präsent, ihre Handlungsspielräume waren aber durch Gleichschaltung und sogenannten Säuberungen begrenzt. Bei der „Ausrichtung der Verwaltungstätigkeit nach völkisch-rassischen Grundsätzen“ sieht Walter zudem „kaum Widerstand“ der preußischen Bürokratie, „eher ist eine breite Tendenz zur Selbstgleichschaltung zu verspüren“ (S. 376).

Diese Aussagen schärfen die Skepsis gegenüber dem Nachleben Preußens in der Gegenwart, mit dem sich wiederum Veltzke auseinandersetzt. Er problematisiert in seiner Selbstvergewisserung auch die Janusköpfigkeit Preußens, plädiert aber – im Gegensatz etwa zu Peter Hüttenberger – für eine positive Erinnerungskultur. In vier Bereichen belegt er die relevanten Kontinuitäten und argumentiert, dass die Grenzen der preußischen Regierungsbezirke erhalten blieben und an die traditionelle rheinisch-westfälische Kooperation in der kommunalen Selbstverwaltung angeknüpft werden konnte, auch um Reformen und eine innovative Wirtschafts-, Verkehrs- und Strukturpolitik durchzusetzen. Daneben werden preußische Denkmäler, die Migration von arbeitsbereiten Flüchtlingen mit „preußischen Tugenden“ aus den ehemaligen Ostprovinzen nach 1945 sowie eine neuhumanistische Bildungs-, Schul- und Universitätspolitik als weitere identitätsstiftende Traditionsbestände gedeutet. Geschichte dient dabei vorwiegend als Argument, um Preußen als positiv besetzten „Vorläuferstaat Nordrhein-Westfalens“ (S. 388) neu zu konstituieren, obgleich die vorhergehenden Beiträge mit ihrem Hinweis auf europäische Verflechtungen und ihrer Problematisierung von Identitätskonstruktionen dieses Ziel geradezu konterkarieren. Hier gibt der Schlussbeitrag einige Anstöße zu kritischer Diskussion.

Neben einem hervorragenden Überblick und einigen markierten Desideraten für Fachhistoriker/innen bietet der Band für landes- und regionalgeschichtlich Interessierte viele wertvolle Informationen über die wechselvollen und keineswegs eindeutig verlaufenden Beziehungen zwischen Preußen und seinen Westprovinzen. Für Lehrende, Museumsfachleute und Journalisten ist er eine unverzichtbare Grundlage, auch durch die Vielzahl an bestechenden Abbildungen, Karten und einen hilfreichen Anhang. Er wäre noch durch ein Glossar für Fachbegriffe zu ergänzen gewesen, doch schmälert dieses kleine Monitum den Wert des hervorragend ausgestatteten Standardwerks nicht.

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