M. Erbe: Revolutionäre Erschütterungen

Titel
Revolutionäre Erschütterungen und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785-1830


Autor(en)
Erbe, Michael
Reihe
Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 5
Erschienen
Paderborn 2002: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Rödder, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Vom europäischen Gleichgewicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts über seine fundamentale Erschütterung in den Koalitionskriegen und der napoleonischen Ära bis zur Neuordnung des europäischen Staatensystems durch den Wiener Kongress und deren Grenzen führt Michael Erbes Darstellung der internationalen Beziehungen zwischen 1785 und 1830. Ihre Einteilung in „Strukturen“ und „Ereignisse“ hat zwar etwas Schematisches, ist aber für die informative Orientierung praktisch und entspricht dem Aufbau bzw. den Vorgaben der Reihe.

Mit seinem informativen Anspruch und seinem weit gefassten Verständnis des Politischen, das „wirtschaftliche, kulturelle, konfessionelle, mentale, geopolitische, strategische usw. Gegebenheiten und Interessen“ einbezieht (S. XIII), füllt das auf neun Bände angelegte „Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen“ eine Lücke innerhalb der enzyklopädischen Studien- bzw. Überblicksliteratur. Sein Wert liegt weniger in einer originellen Konzeption als vielmehr in seinem thematischen Focus.

Mit Erbes Darstellung sind nach sieben Jahren nun drei Bände der Reihe erschienen. Der Zeitraum von 1700 bis 1878 ist somit durchgehend abgebildet.1 Eine Randbemerkung: die im Reihenvorwort einer „mittleren Historikergeneration“ zugerechneten Autoren, deren Bände zu zwei Dritteln noch ausstehen, befinden sich allesamt in ihrem siebten Lebensjahrzehnt und in ihrer Mehrheit bereits im Ruhestand – diese Ausgabe von „mittlere Historiker stellen sich vor“ wirft doch gewisse Fragen hinsichtlich der Altersstruktur und ihrer Wahrnehmung innerhalb des Faches auf.

Erbes Darstellung ist ein solides, unspektakuläres Handbuch: mit Literaturangaben am Ende jedes Kapitels, aber nur ganz sparsam dosierten Anmerkungen verfasst, reflektiert sie die Forschung samt ihrer verschiedenen Positionen und Kontroversen nur sehr mittelbar. Auch erhebt sie nicht den Anspruch, eine magistrale These oder eine neue Deutung ihres Gegenstandes vorzulegen – was für ein solches Handbuch wiederum Vorteile im Hinblick auf den Informationsgehalt hat, zumal mancher der zuletzt in Mode gekommenen Versuche, eine Neuinterpretation der Staatenbeziehungen des 19. Jahrhunderts vorzunehmen, dann doch mehr ambitioniert als tragfähig ausgefallen ist.

Im Vergleich zu den beiden anderen Bänden der Reihe fällt Erbes systematischer Teil mit mehr als zwei Dritteln des Umfangs besonders gewichtig aus. Darin werden zunächst die Konzepte des Mächtegleichgewichts und des Mächtekonzerts, das Völkerrecht, politische Ideen und öffentliche Meinung sowie die Mittel der Außenpolitik (Ministerien und diplomatischer Dienst, Kriegswesen und Finanzen) behandelt. Den breitesten Raum nimmt dann ein fast zweihundertseitiger enzyklopädischer Überblick über einzelne Länder bzw. Regionen Europas und, ausblickend, des gesamten Globus ein. Gerade hier bewahrheitet sich der Charakter des Buches als Nachschlagewerk. Mit gut einhundert Seiten fällt die weitgehend faktografische chronologische Darstellung von 45 bewegten Jahren der Staatenbeziehungen demgegenüber eher knapp aus, wobei vieles bereits in den Länderkapiteln abgehandelt worden ist.

Als signifikante übergreifende Entwicklungen identifiziert Erbe erstens gänzlich neue Formen des Krieges, zweitens staatliche Reformimpulse, die von Frankreich ausgingen, und drittens die nationalen Bewegungen. Insbesondere die acht Koalitionskriege und die Herrschaft Napoleons „veränderten Europa in einer Weise, wie es seit der Zeit der Karolinger nicht mehr geschehen war“ (was gegenüber dem Dreißigjährigen Krieg eine durchaus weitreichende Aussage darstellt). Dabei hebt er nicht nur die territorialen Veränderungen hervor, sondern auch die vom napoleonischen Frankreich ausgehenden staatlichen Reformimpulse: die ökonomische Entwicklung hin zu Volkswirtschaften im modernen Sinne, die Abschaffung der ständischen Privilegien zunächst in Frankreich, die Umgestaltung der Zentralverwaltung, die Vereinheitlichung und Kodifizierung des Rechts, die Einführung eines modernen Kriegswesens auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht. All dies schuf „Staaten mit ganz neuen Möglichkeiten der Kraftentfaltung, die sich bei Bedrohung wie bei dem Bestreben, andere zu unterwerfen, in einer bisher nie gekannten Wucht nach außen kehren konnte“ (S. 5f.).

Die dadurch freigesetzten Potentiale hatten sich denn auch sogleich entladen – sie wieder einzuhegen, war die Aufgabe des Wiener Kongresses. Erbe stellt heraus, dass er nicht einfach zum Gleichgewichtsdenken des vorrevolutionären 18. Jahrhunderts zurückkehrte, sondern das „Konzert der Großmächte“ etablierte, dem es um die Vermeidung des (im Gleichgewichtsdenken des 18. Jahrhunderts ja eingeschlossenen) Krieges ging. Inwiefern der Wiener Kongress also – wie somit nahe liegt und wie es Paul Schroeder zugespitzt herausgearbeitet hat 2 – einen scharfen Bruch gegenüber den Staatenbeziehungen des 18. Jahrhunderts oder doch eben auch eine Rückkehr zu den alten Kategorien darstellte, bleibt angesichts uneinheitlicher Aussagen letztlich unbeantwortet.

Herausgestellt wird unterdessen die ambivalente Zusammengehörigkeit von Friedenswahrung bzw. Kriegsvermeidung einerseits und Stabilität, d.h. Unterdrückung der fortschrittlichen Entwicklungen, im Innern und nach außen andererseits – wohingegen es, wie die napoleonische Ära gezeigt hatte, gerade die Kräfte des vorwärtsdrängenden Neuen, Modernisierenden waren, die mit dem Instrument des Krieges spielten. Gegenüber diesen katastrophischen Erfahrungen um den Preis innerer Unbeweglichkeit und Repression den militärischen Frieden zu sichern, arbeitet Erbe denn auch als Leistung des Wiener Kongresses heraus. Zwar stieß die dort etablierte Ordnung bereits nach wenigen Jahren an ihre Grenzen – welche Staatenordnung könnte überhaupt krisenfrei sein? –, aber sie hatte letztlich doch für ein gutes Jahrhundert Bestand.

Die internationalen Beziehungen – in einem weit gefassten und zugleich traditionellen Sinne, ohne zum allgefälligen catch-all-Begriff zu verschwimmen – dieser Zeit in konzentrierter und solide informierender Art und Weise nachschlagen zu können, ist der Vorzug dieser Publikation. 88 Euro sind allerdings viel Geld dafür.

Anmerkungen:
1 Duchhardt, Heinz, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785 (Handbuch der Internationalen Beziehungen 4), Paderborn 1997; Baumgart, Winfried, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878. (Handbuch der Internationalen Beziehungen 6) Paderborn 1999.
2 Schroeder, Paul W., The Transformation of European Politics, 1763-1848, Oxford 1994.

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