A. Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur

Cover
Titel
Deutschlands Krise und Konjunktur 1924-1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre


Autor(en)
Ritschl, Albrecht
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Beihaft 2/2002
Erschienen
Berlin 2002: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Scherner, Seminar für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Mannheim

Albrecht Ritschls Werk „Deutschlands Krise und Konjunktur 1924-1934“ knüpft an eine der bekanntesten Kontroversen in der deutschen Wirtschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte an. In der so genannten Borchardt-Kontroverse stellte Knut Borchardt die traditionelle Interpretation für die Schwere der Weltwirtschaftskrise nach 1929 in Deutschland in Frage. Diese lautete, dass die Depression und zuletzt darauf folgend die Etablierung des NS-Regimes auf vermeidbare Fehler in der Wirtschaftspolitik der letzten Weimarer Regierungen, insbesondere die Deflationspolitik Brünings zurückzuführen sei. Dieser keynesianisch beeinflussten Deutung stellte Borchardt die angebotstheoretisch inspirierte Sichtweise entgegen, dass bereits vor der Weltwirtschaftskrise die deutsche Wirtschaft krank gewesen sei und dass die Deflations- und Budgetausgleichspolitik Brünings aus einer Zwangslage resultierte. Wenn dem aber so wäre, so ein zentraler Einwand gegen die Borchardt’sche Interpretation, warum konnte nur ein Jahr nach Brünings Rücktritt eine dramatische Wende hin zu einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik eingeleitet werden?

Das, so argumentiert Ritschl in seinem Buch, würde nur dann die Zwangslagenthese nicht in Frage stellen, wenn sich zeigen ließe, dass kurz vor der „Machtergreifung“ die Restriktionen, die noch Brüning keine andere Wahl als die Verfolgung seiner Deflationspolitik gelassen hätten, weggefallen wären, mithin ein Wandel der Rahmenbedingungen für die Wirtschaftspolitik eingetreten wäre. Ursächlich, so die zentralen Arbeitshypothesen Ritschls, für diesen Wandel der Rahmenbedingungen und für das Eintreten der Zwangslage zuvor, könnte ein Wechsel der Reparationsregimes gewesen sein, denen Deutschland unterworfen war. Ritschl greift dabei ein Argument auf, das in zeitgenössischen Deutungen zur Ausprägung der Weltwirtschaftskrise – nicht sehr überraschend angesichts des damaligen politischen Klimas in Deutschland – eine wichtige Rolle gespielt hatte, in der jüngeren Forschung aber etwas aus dem Blickfeld geraten ist.

Ritschls Hypothese basiert dabei auf dem Umstand, dass mit der Ablösung des Dawes- durch den Youngplan insoweit eine Zwangslage begründet wurde, als eine Umkehrung der Seniorität von Reparationsverpflichtungen auf der einen und von Auslandsschulden auf der anderen Seite erfolgte. Nach der Transferschutzklausel des Dawesplan sollten nämlich Reparationsleistungen nur dann in Devisen konvertiert und transferiert werden, wenn dadurch die Stabilität der Reichsmark nicht gefährdet werden würde. Das bedeutete faktisch, dass die Bedienung der Reparationen hinter der Bedienung der kommerziellen Auslandsschulden zurückzustehen hatte. Ein weiterer Effekt war, dass Deutschland letztendlich seine Reparationen durch die massiv ansteigende Auslandsverschuldung finanzieren konnte. Die Aufhebung dieser Klausel im Youngplan führte dazu, dass nun die Bedienung von kommerziellen Auslandsschulden hinter der Erfüllung der Reparationsverpflichtungen zweitrangig wurde. Damit wurde aber das Risiko für potentielle ausländische Gläubiger deutlich erhöht. Infolgedessen gab es, so Ritschl, keine Basis für eine kreditfinanzierte expansive Konjunkturpolitik a là Keynes und befand sich Brüning mithin in einer Zwangslage. Erst mit seiner Entmachtung wurde diese Restriktion auf der Lausanner Konferenz aufgehoben, die das faktische Ende der Reparationen bedeutete.

Dennoch sieht Ritschl nicht die Reparationslast als solche für verhängnisvoll für die deutsche Entwicklung an. Er zeigt nämlich, dass gemessen an heutiger und auch zeitgenössischer Verschuldung die Reparationslast aus dem realistischen, also nicht-propagandistischen Teil für das nach der Inflation faktisch entschuldete Reich keineswegs zu einer international aus dem Rahmen fallenden und daher kaum zu bewältigenden Schuldenlast führte. Ritschl kommt daher auf Seite 240 zu dem plausiblen Schluss, dass nicht die Reparationen selbst zu Deutschlands Krise und Konjunktur in der Zwischenkriegszeit beitrugen, „sondern der verhängnisvolle deutsche Versuch, die Reparationen mit immer neuen Manövern zu verweigern, zu unterlaufen und abzuschütteln, anstatt die gegebene Reparationslast möglichst gleichmäßig und langfristig abzutragen. Als diese Versuche ein Ende hatten und der Zahltag gekommen war, fiel Deutschland in die Grube, die es anderen gegraben hatte, selbst hinein.“ Eine realistische Alternative zu diesen Versuchen deutscher Politik, die Reparationen zu umgehen, und damit die Vermeidung der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise, hätte dementsprechend, so Ritschl überzeugend in seiner kontrafaktischen Überlegung, eine vollkommen andere politische Kultur im Deutschland der damaligen Zeit vorausgesetzt.

Insgesamt orientiert sich Ritschls Untersuchung an klaren Fragestellungen und Hypothesen. Es wird versucht, diese nicht nur durch klassisch wirtschaftshistorische Methoden, sondern auch durch ökonometrische Verfahren und anhand ökonomischer Modelle sowie mittels kontrafaktischer Überlegungen zu überprüfen. Dementsprechend wechseln sich Abschnitte, in denen überwiegend wirtschaftswissenschaftlich orientiert argumentiert wird, mit eher „historischen“ Abschnitten ab. Besonders hervorzuheben an der empirischen Überprüfung ist dabei, dass der Autor revidierte Daten für den Haushalt der öffentlichen Hand und für das Sozialprodukt aus teilweise neu erschlossenen Archivbeständen und halbamtlichen Publikationen gewonnen hat. Dankenswerterweise präsentiert Ritschl diese mit großem Aufwand erhobenen Daten, die mit Sicherheit für die künftige Forschung eine zentrale Grundlage darstellen werden, in übersichtlicher und kommentierter Form in einem ausführlichen, akribisch aufgeschlüsselten Anhang.

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