J.B. Köhne: Geniekult in Geisteswissenschaften und Literaturen

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Titel
Geniekult in Geisteswissenschaften und Literaturen um 1900 und seine filmischen Adaptionen.


Autor(en)
Köhne, Julia Barbara
Erschienen
Anzahl Seiten
580 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dorothea Dornhof, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Begriffs- und Kulturgeschichte des Genies verweist auf eine komplexe Traditionslinie. Ob als Genius, Daimon oder Engel der Antike oder als Theorien von Enthusiasmus, Inspirationen und Manien, Ingenium und Individualität, Kreativität und Originalität in den folgenden Jahrhunderten, die Geniedebatten dienten stets dazu, Fragen von allgemeiner Relevanz zu klären. Die historisch jeweils unterschiedlich konzeptualisierte Opposition von Imitations- und Inspirationslehre wird als Grundspannung europäischer Kultur betrachtet. 1 Die damit einhergehenden ästhetischen, philosophischen und anthropologischen Theorien sind umfassend erforscht, besonders die Kunst- und Künstlerkonzepte der deutschen Genieperiode auf dem Höhepunkt der Geniebewegung im 18. Jahrhundert sowie die Theorien der deutschen Romantik und die vielfältigen Transformationen und Umdeutungen des Geniegedankens in der Moderne.

Die auf ihrer 2012 an der Universität Wien eingereichten Habilitationsschrift basierende interdisziplinäre, kulturgeschichtliche und medienwissenschaftliche Studie der Kulturwissenschaftlerin Julia B. Köhne widmet sich mit dem Zeitraum 1880–1920 einem bisher wenig erforschten Feld in den Verhandlungen des Genietopos, den sie mit einem signifikanten Paradigmenwechsel begründet: „Zwar erstreckte sich der kulturgeschichtliche Geniediskurs schon über Jahrhunderte, aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das ‚Genie‘ zu einem prominenten Gegenstand modernen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses und wissenschaftlicher Selbstreflexion.“ (S. 19)

Mit der Diskursexplosion vor allem in populärwissenschaftlichen und psychopathologischen Studien, in Wissenschaft und Literatur, wird in der „Geniebündelliteratur“2 um 1900 in vergleichender Analyse mit filmischen Adaptionen seit den 1980er-Jahren ein interdisziplinärer Zugang erprobt, der wissenschaftsgeschichtliche mit kultur- und filmwissenschaftlichen als auch gendertheoretischen Fragestellungen verbindet, um historische Spezifika und Kontinuitäten, Brüche und Transformationen bei der Ausgestaltung der Geniefigur in unterschiedlichen Textsorten und filmischen Visualisierungen herauszustellen. Im Zentrum der Untersuchung stehen Texte geisteswissenschaftlicher Genieforschung, literarische Texte und Visualisierungen, die auf Praktiken, Repräsentationsmuster und Narrationen der Geniefigur befragt werden. Damit zielt die Studie auf die Wissensoperationen und Effekte in und zwischen den Wissensformationen. Der zeitliche Bogen zu ausgewählten Filmadaptionen verweist auf Differenzen, Umdeutungen und Kontinuitäten der Geniefiguration in der medialen Kultur und zeugt davon, dass die Rede vom Genie aus ästhetischen Diskursen nicht verschwunden ist und weiterhin zur Verständigung über außerordentliche bewundernswerte Menschen (Männer) sowie den Preis der Exzellenz dient.

In der Einleitung wird ein offenes, auf unterschiedlichen Ebenen situiertes Geniekonzept entwickelt, das im historischen Verständnis des Geniebegriffs verschiedene Phänomene und Erkenntnisinteressen bündelt und auf Struktur- und Funktionsweisen des „Genies“ in politischen und kulturellen Kontexten zielt. Genie gewinnt im untersuchten Zeitraum zunehmend an öffentlichem Interesse, wird Sache der Nation und gewissermaßen Folie für die Verhandlung des bürgerlichen Persönlichkeitsideals. Köhne stellt überzeugend dar, wie dieses Ideal zwischen Genieverehrung und Entzauberung des Genies changiert, und dass in deren wissenschaftlichen als auch literarischen Figuren stets Elemente des traditionellen Geniekults des 18. Jahrhunderts und der Sakralisierung des männlichen Künstlers und Wissenschaftlers verwoben sind. Unter Berufung auf den Philosophen Eberhard Ortland stellt die mobilisierende Kraft des ‚Außerordentlichen‘ für die Innovationsdynamik der Moderne einen, die Studie durchziehenden, konzeptionellen Faktor dar.

Der erste Teil des Buches ist nach problemgeschichtlichen Gesichtspunkten angeordnet und untersucht die „strategischen Wissensoperationen“ (S. 51), mit denen das Genie am Schnittpunkt verschiedener Diskurse verortet wird. Es sind vor allem brisante gesellschaftliche Problematiken um 1900, in denen sich die Geniekonzepte mit Fragen der Geschlechterverhältnisse, der Genealogie, der Religion und der Nation verbinden. Mit den untersuchten wissenschaftlichen Verfahren – Biographisieren und Metaphorisieren – wird zunächst nachgewiesen, wie die epistemologische und soziokulturelle Funktion der Geniefigur in ihrer kulturprägenden und weltbildenden Leistung und als Vollbringer überzeitlicher Höchstleistungen vor allem als ein Symptom für die Neustrukturierung und Profilierung der Wissenschaften und für die Professionalisierung der Forschenden zu lesen ist. Die Ideale naturwissenschaftlicher Rationalität, Objektivität und Expertise werden mit neuen Versionen des Göttlichen (des Genie-Gottes) verbunden, so dass die Geniedebatten vor allem neue Wissensfelder legitimieren sollten, in denen sich auch die Spannung von Natur- und Geisteswissenschaften spiegelt. Gleichzeitig diente die Geniefigur dazu, – so eine der Thesen – dass strukturelle Unsicherheiten der sich an naturwissenschaftlichen Paradigmen orientierenden Geisteswissenschaften überdeckt werden konnten (S. 23).

Zu den untersuchten Quellen gehören im ersten Teil vor allem biographische Texte „genialer Helden“ zwischen 1863 und 1939, an denen das Verhältnis von Biographik und Wissenschaftlichkeit diskutiert wird. Die Akteure der neuen Wissenschaftsdisziplin Biographik verkörperten neu auszuhandelnde Identitäten zwischen Künstler/Autor und Wissenschaftler, wobei Köhne Genieforschung und Biographik treffend als „pas de deux“ (109ff.) charakterisiert. Die Jesusbiographien von Ernest Renan (1863) und Friedrich Nietzsche (1888) bilden die Grundlage für die narrative Gestaltung genialer Subjekte, wie sie in späteren Jesusbiographien weitergeführt wird. Die Beispiele belegen, über welche Speichermedien und Überlieferungstechniken in wissenschaftlichen Geniebiographien, in biographisch geprägten wissenschaftlichen Texten über ‚Genies‘ oder in literarischen Geniebiographien das außergewöhnliche Leben hergestellt wird, und wie sich darüber nicht zuletzt auch Selbstgenialisierungen der Autoren vollziehen.

Mit einer differenzierten Metaphernanalyse des Geniewissens wird überzeugend die erschaffende und erlösende Potenz des „Genies“ betont und dargelegt, wie z. B. durch Naturmetaphern imaginierte Sphären unendlicher Möglichkeitsräume entstehen, worin die fundamentale Wandlung von einem kosmologischen Naturverständnis als Gottesschöpfung hin zu einer positivistisch-empirischen Naturvorstellung in den Projektionen des Geniewissens verschmilzt.

Mit der Analyse von textuellen Operationen des (De-)Sakralisierens/Erotisierens wird die Bedeutung von Säkularisierung und Religion in einer sich als säkular begreifenden deutschsprachigen Gemeinschaft diskutiert (Sakralisierung und Christologisierung des Geniethemas). So beschreibt Edgar Zilsel die „Geniereligion“ (1918) als Reaktion auf entsäkularisierende Strömungen, um ein anti-egalitäres Residuum des metaphysischen Denkens zu errichten, dem er rationale, objektive und sachliche Prinzipien gegenüberstellt. Wie Köhne in ihrer umfangreichen Analyse betont, verkenne Zilsel hier gerade das Typische am Geniekult: dessen Gefühlsmäßigkeit, Subjektivität und Wertungsbedürfnis (S. 190ff., 222, 529).

Die Untersuchung der transzendentalen Funktionen des über die Geniefigur verhandelten Subjekts ist nur eine Perspektive, mit der verdeutlicht wird, inwiefern wissenschaftliche Geniedebatten als Reflexionsmedium dienten, mit dessen Hilfe um 1900 Aussagen zu politischen Fragen und gesellschaftlichen Konfliktfeldern getroffen wurden. Weitere über den Genie-Wissen-Komplex diskutierte Problemfelder sind das Kulturschaffen in einer durch den Fin-de-Siècle ‚verrückten‘ Weltordnung, Selbstverständnis und -wahrnehmung der Nation, „Juden-“ und „Frauenfrage“, Geschlechter- und Prostitutionsfrage. „Genies“ verkörperten in den wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen eine „biologische Männlichkeit“, waren weiß und aus der westlichen mitteleuropäischen Sphäre stammend. Die Exklusion des „Weiblichen“ und des „Jüdischen“ aus der maskulinen Genieformel wird so als geläufiger wissenschaftlicher Standard sichtbar. Verfahren des Vergeschlechtlichens und des Rassifizierens (z. B. Otto Weiningers Geniemetaphysik) verdeutlichen jedoch nicht nur Antifeminismus und Antisemitismus im Geniewissen, die eingeschriebenen reproduktiven und familialen Metaphern („geistige Potenz“, „geistiges Zeugen“, „geistige (Un)Fruchtbarkeit“, „Gedanken empfangen“, S. 231ff.) verweisen immer auch auf die unumgänglichen Tatsachen von Körperlichkeit und Vergänglichkeit.

Gegenüber Geniefigurationen als Erlöser von Gesellschaft und Erschaffer von Kultur werden auch Theoretiker in den Blick genommen, die die Funktion des „Genies“ im Rahmen moderner soziokultureller Problematiken, Unsicherheiten oder Utopien beschrieben bzw. kritisierten. Wie Edgar Zilsel und Julian Hirsch gehörte auch Walter Benjamin zu den Kritikern des Geniekults und der damit einhergehenden „Erektion des Wissens“ und der „Vergeschlechtlichung des Geistigen“ (251ff.). Auch mit der literarischen Figur der „Faustina“ schuf Jakob Wassermann eine Antiheldin und einen Gegenentwurf zu den körperlosen männlichen Geniekonzepten und fügte über mythengeschichtliche Bezüge das Weibliche mit dem Genie zusammen (279ff.).

In einer letzten konzeptuellen Figuration des umfangreichen ersten Hauptteils werden wissensproduzierende Verfahren des Kollektivierens und Züchtens im Kontext von Visionen eines genialen deutschen Volkskörpers analysiert, in denen ab den 1910er-Jahren die Kollektivierung der Genialität bis zum Führerkult (Begabtenkult und Züchtungsphantasien) dargestellt werden.

Die Befunde werden nun im zweiten (weitaus kürzeren) Hauptteil mit ausgewählten Kinofilmen hundert Jahre später konfrontiert. Die Frage nach dem Genie ist auf wissenschaftlicher Ebene eher in Kreativitätsforschung, Begabtenpsychologie oder Biowissenschaften eingewandert, während fiktive männliche Genies die Kinowelt bevölkern, deren Repräsentationsweisen von „Genies“ filmästhetisch und symboltheoretisch analysiert werden. Mit der Verschiebung vom Schrift- in das Bildmedium stehen filmische Wissenschaftsbilder mit ihren Protagonisten im Fokus der Untersuchung. Genie-Spielfilme, wie „Amadeus“ (1984), Schlafes Bruder (1995) und „A Beautiful Mind. Genie und Wahnsinn“ (2001), greifen auf biographische Narrative und kulturhistorische Wissenselemente (Göttlichkeit des Genies, Genie und Religiosität und Genie und Wahnsinn) zurück, tragen zu deren Zirkulation in populärem Alltagswissen bei und/oder unterlaufen sie, besonders den Status des Weiblichen betreffend (S. 390ff.). Auf der Basis umfangreicher filmgeschichtlicher Kenntnisse erfolgt die Auswahl der drei Filme mit ihrer Bezugnahme auf unterschiedliche Facetten des Geniediskurses um 1900. Um die Austauschbeziehungen zwischen theoretischen Denkfiguren und ästhetischen Bildformen zu fassen, wird auf Elisabeth Bronfens Konzept des „crossmappings“3 und auf Michel Serres‘ Begriff der „Passagen“4 zurückgegriffen. So differenziert und mehrschichtig die Filmanalysen auch ausfallen und die Langlebigkeit des Genietopos in unterschiedlichen filmischen Inszenierungsweisen des Genialen in ihrer Verflochtenheit mit dem Genie-Wissen um 1900 dargestellt wird, so wäre es wünschenswert gewesen, die nur sehr knapp oder kursorisch ausgefallene film- und zeitgeschichtliche Kontextualisierung der ausgewählten Filme stärker zu fundieren. Diesen methodischen Standard hat Köhne selbst im ersten Teil ihrer Studie gesetzt, wo sie nachweisen konnte, dass und wie gesellschaftliche Konflikte und Krisensymptome in wechselnde Geniemodelle der Geisteswissenschaften eingeschrieben sind und wie der Geniekult politisch und national wirkmächtig wurde.

Insgesamt ist die Studie eine beeindruckende Ausgrabungsarbeit und eine kultur- und medienwissenschaftliche Zusammenschau unterschiedlichster Quellen disziplinären und ästhetischen Wissens, die es ermöglichen, den Geniekult als „halb unbewusste Leitidee“ in seiner „vollen Bedeutsamkeit“5 für einen bestimmten historischen Zeitraum der „Kultur- und Wissensgeschichte“ differenziert zu betrachten. Die Auseinandersetzung mit Mechanismen der Bedeutungsproduktion (Repräsentationen, narrative Strukturen, Argumentationsfiguren, Genres, Bildästhetik) und die damit einhergehende Verortung der wissenschaftlichen und literarischen Kämpfe um die Deutungshoheit des „Genies“ eröffnen in ihren epistemologischen, politischen und kulturellen Funktionen neue vielfältige Perspektiven auf ein umstrittenes Feld. Es wird mehr als deutlich, dass die Kategorie Geschlecht nicht nur um 1900 von hoher Bedeutung für die Strukturierung wissenschaftlichen Wissens war, und dass Wissenschaftsgeschichte vor allem auch Kulturgeschichte sein kann.

Anmerkungen:
1 Eberhard Ortland, Genie, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd.2, Stuttgart u.a. 2001, S. 661–708, hier S. 668.
2 Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer kritischen Begründung, Frankfurt am Main 1990 (1. Aufl. 1918), S. 51.
3 Elisabeth Bronfen, Crossmapping. Essays zur visuellen Kultur, Zürich 2009.
4 Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt am Main 1987.
5 Zilsel, Die Geniereligion, S. 51.

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