R. Steininger: Deutschland und der Nahe Osten

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Titel
Deutschland und der Nahe Osten. Von Kaiser Wilhelms Orientreise 1898 bis zur Gegenwart


Autor(en)
Steininger, Rolf
Erschienen
Reinbek 2015: Lau-Verlag
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Hanisch, Historisches Institut der Universität Duisburg-Essen

Kaum ein Regionalbegriff ist so sehr mit Konflikt, Gewalt, Krieg und ungelösten Fragen zu nation building und Staatlichkeit verbunden wie der „Nahe Osten“. Und in kaum einer anderen Region sind dabei die politischen Entwicklungen so sehr an die Einflussnahme und das Engagement auswärtiger Mächte geknüpft, die diesen überwiegend arabisch-islamischen Raum seit dem imperialen Zeitalter permanent nach ihren geopolitischen Vorstellungen und Interessen erfunden, geformt und verändert haben. Im übertragenen Sinne ist die sogenannte „orientalische Frage“ des 19. Jahrhunderts auch 150 Jahre später immer noch unbeantwortet. Befriedung und die Errichtung von politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die ein geregeltes, selbstbestimmtes sowie vor allem gewaltfreies Mit- und Nebeneinander von Muslimen, Juden und Christen ermöglichen, bleiben auch für das 21. Jahrhundert eine existenzielle Herausforderung, deren Tragweite und Auswirkungen vor dem Hintergrund der aktuellen Katastrophen in der Region und den damit verbundenen Flüchtlingsbewegungen mehr als jemals zuvor Europa und nicht zuletzt Deutschland zu spüren bekommen.

Deutschland wiederum war spätestens seit der, vor allem im Nachklang, symbolisch überfrachteten zweiten Orientreise von Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1898 ein wichtiger Akteur in diesem Raum, dessen Rolle und Prestige sich allerdings maßgeblich von den anderen, dort seit längerem engagierten Großmächten unterschied. Das Reich besaß hier weder Kolonien noch protektoratsartige Einflussgebiete, wie es für Frankreich und insbesondere Großbritannien galt. Deshalb wurde das deutsche ,Mantra‘, nämlich keine politischen Interessen im Orient/Nahen Osten zu besitzen, von der türkisch-arabischen Bevölkerung und Herrschaftselite als durchaus glaubhaft angenommen und in dem ökonomisch wie militärisch potenten Deutschen Reich ein attraktiver Partner beziehungsweise ,natürlicher‘ Verbündeter in ihrem Kampf um Selbstbestimmung gesehen. Dies galt umso mehr, je deutlicher das konflikthafte Konkurrenzverhältnis zwischen Berlin und London zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Krieg dieser beiden Großmächte für die Zukunft erwartbar machte. Der Klassiker, wonach ,der Feind meines Feindes mein Freund sei‘, bildete in vielerlei Hinsicht den eigentlichen Kern der sogenannten ,deutsch-islamischen‘ bzw. ,deutsch-arabischen Freundschaft‘, wodurch in beiden Weltkriegen nicht nur das Osmanische Reich (WKI) sondern auch Führungsfiguren wie der ehemalige irakische Ministerpräsident Raschid Ali al-Gailani und Großmufti al-Husseini (WKII) auf Seiten des Deutschen Reiches in die Kriege eintraten.

Als wirkungsmächtiges außenpolitisches Schlagwort überdauerte diese vermeintliche ,Freundschaft‘ alle Zäsuren deutscher Geschichte bis weit in bundesrepublikanische Zeit hinein. Dies wird auch in Rolf Steiningers zitatenreicher wie zitatenstarker Überblicksdarstellung „Deutschland und der Nahe Osten“ erkennbar, wenn beispielsweise der Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, Paul Frank, auf einem Tiefpunkt der deutsch-arabischen Beziehungen 1969, erklärte, dass „[e]in halbes Jahrhundert lang […] die Araber in Deutschland ihren besten, wenn nicht einzigen Freund [sahen]. Mehr als anderen Staaten des Westen wird uns deshalb vorgeworfen, dass wir gute Beziehungen zu Israel unterhalten.“ (S. 161)

Diese Beziehungen zu Israel waren vor dem Hintergrund des Holocaust alles andere als selbstverständlich. Und ihre Implementierung und Pflege blieb vor allem in den ersten Dekaden nach der Gründung beider Staaten auch alles andere als frei von Spannungen und Vorbehalten. Spätestens ab 1965 (Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Israel, in dessen Folge neun arabische Staaten wiederum die Beziehungen zu Bonn abbrachen) sollte Israel jedoch die dominante wie auch konstante Determinante in der (west-)deutschen Nahostpolitik darstellen, die alles verändert hatte, was an tradierten Denkgebäuden in der deutschen Nahostpolitik seit 1898 vorherrschend war. Zu Recht hat Bundespräsident Gauck die Geschichte und Entwicklung der (west-)deutsch-israelischen Beziehungen zum 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen als »Wunder« bezeichnet. Und dieses ,Wunder‘ findet bisweilen auch in den deutschen Geschichtswissenschaften ihren Nachklang, wenn, wie bei Markus A. Weingardt, der 2002 die erste größere Überblicksdarstellung zu diesem Thema vorgelegt hatte, Israelpolitik mit Nahostpolitik gleichgesetzt bzw. verwechselt wird.1

Auch bei Steiniger stellen die deutsch-jüdischen/-israelischen Beziehungen den eigentlichen roten Faden dar, die mit der Audienz Theodor Herzls bei Kaiser Wilhelm II. während seiner zweiten Orientreise im Oktober 1898 in Konstantinopel beginnt. Was im zeitgenössischen Kontext kaum mehr als eine Fußnote bedeutete, wird zum Ausgangspunkt einer kurzen, aber dadurch nicht weniger informativen Gesamtdarstellung, die quasi bis in die Gegenwart reicht und buchstäblich mit den jüngsten deutschen Waffenlieferungen an die Peschmerga (S. 218) endet.

Steininger lässt keine Phase aus: Kaiserreich, Weltkrieg, Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg machen dabei gut ein Drittel des Buches aus. Dabei gelingt es ihm, episodenhaft und zugleich fundiert die großen Linien deutscher Orient-/Nahostpolitik bzw. temporären Engagements zu vermitteln. Als ausgewiesener Experte versteht es Steiniger, die politischen Kontexte sowie globale und regionale Entwicklungen im Sinne der Erzählung gut herunter zu brechen. Dass sich dabei auch Fehler einschleichen und beispielsweise der preußische Kultusminister und Begleiter der kaiserlichen Orientreise von 1898, Robert Bosse, bei Steininger zum „Geschäftsträger der deutschen Botschafter in Konstantinopel“ (S. 19) wird oder er auch die in der älteren Literatur verbreitete Falschdatierung von Max von Oppenheims „Denkschrift zur Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“ (S. 23) auf Oktober 1914 übernimmt, obwohl diese erst nach der Proklamation des Dschihads im November 1914 fertiggestellt worden war und darüber hinaus nur eine scheinbare und nicht wirkliche „Blaupause“ (S. 23) darstellte, kann man in diesem Zusammenhang verschmerzen.

Der quantitative Schwerpunkt des Buches deckt vor allem die Nachkriegszeit von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis einschließlich des sogenannten Yom Kippur-Kriegs von 1973 ab (S. 79–192). Diese Phase kann sicherlich als die intensivste der deutschen Nahostpolitik in Friedenszeiten mit dem größten außenpolitischen Regionalengagement im Allgemeinen gelten. Gleichzeitig stellt sie auch eine Art Schlusspunkt im Sinne klassischer nationalstaatlicher Außenpolitik in diesem Feld dar, denn „[v]on nun an verwies die Bundesregierung immer wieder auf entsprechende Entschließungen der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ (S. 193). Die Multilateralisierung der deutschen Nahostpolitik war dabei nicht nur „Schutzschild“ (ebd.), wie Steininger den schon erwähnten – mittlerweile Staatssekretär – Paul Frank 1974 zitiert, sondern auch ein Ausweg. Die Durchsetzung der Hallstein-Doktrin, Stellvertreterposition für den Westen, die Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen, inklusive geheimer Waffenlieferungen, bei gleichzeitigen Bemühungen um den Erhalt – bzw. nach 1965 Wiederaufbau – der guten deutsch-arabischen Beziehungen, die diese Phase kennzeichneten, forderten und überforderten die BRD zunehmend, bis man letztlich in fast allen Belangen – Israel in diesem Fall selbstredend ausgeklammert – gescheitert war. Die Europäisierung dieses Politikfeldes in den 1970er-Jahren im Verbund mit der neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition führten aus der nahöstlichen Sackgasse heraus, in die vor allem der Alleinvertretungsanspruch die BRD geführt hatte. Man war nicht mehr erpressbar oder musste erpressen, sondern zog sich auf eine Position zurück, die Deutschland auf diesem Feld im 19. und 20. Jahrhundert ohnehin überwiegend eingenommen hatte: nämlich ein nachgeordneter Akteur zu sein. Und gemessen an den Zielen, auch mit Erfolg. Oder, um es mit Steiningers Worten aus seinem Fazit zu sagen: „Mit den arabischen Staaten hat Deutschland hervorragende Beziehungen [… und auch] mit Israel bestehen inzwischen hervorragende Beziehungen.“ (S. 218)

Dem eigenen Anspruch, „eine knappe, zusammenfassende Darstellung“ (S. 9) zu liefern, wird Steininger mit „Deutschland und der Nahen Osten“ mehr als gerecht. Die große Stärke des Buches liegt nicht allein in dem Umstand, die bisherige Forschung, auch jüngeren Datums, immer im Blick zu haben und großen Teils auch vermitteln zu können, sondern vor allem in dem bereits erwähnten Zitatenreichtum. Oftmals gelingt es Steininger dadurch, komplexe Sachverhalte, wie beispielsweise die Frage, wie Israel, sechs Jahre nach dem überwältigenden Sieg über eine Koalition arabischer Staaten im Juni-Krieg von 1967, im Oktober 1973 sich derart unvorbereitet auf einen Angriff der arabischen Staaten präsentieren konnte, durch die Stimmen hochrangiger Personen der Zeit beantworten zu lassen: „Wir haben einfach nicht geglaubt, dass die Araber das konnten. Wir haben sie verachtet“ (S. 173), so Mossad-Chef Zvi Zamir rückblickend.

Die Fülle der Zitate macht das Buch daher auch nicht allein für Leser interessant, die sich mit einer kurzen Darstellung in dieses Themenfeld einführen lassen wollen, sondern bietet auch dem Geschichtswissenschaftler mit eigenen Forschungsprojekten zur deutschen Nahostpolitik einen reichen Fundus an Originalstimmen aus gut 120 Jahren Konfliktgeschichte.

Anmerkung:
1 Markus A. Weingardt, Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949, Frankfurt am Main 2002.

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