Religiös motivierte Migrationen

Absmeier, Christine; Asche, Matthias; Fata, Márta; Röder, Annemarie; Schindling, Anton (Hrsg.): Religiös motivierte Migrationen zwischen dem östlichen Europa und dem deutschen Südwesten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. . Stuttgart 2018 : Kohlhammer Verlag, ISBN 978-3-17-034385-6 XIV, 334 S. € 34,00

: Konfessionelle Theologie und Migration. Die Antwerpener Gemeinde Augsburger Konfession im 16. Jahrhundert. Göttingen 2018 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-56721-0 402 S. € 80,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Arend, Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Die im 16. Jahrhundert einsetzende Konfessionsmigration zählt zu den folgenreichsten Bevölkerungsverschiebungen im frühneuzeitlichen Europa: Der sich in Folge der Reformation entfaltende religiöse Pluralismus ließ Minderheitengruppen entstehen, die sich gegen die Mehrheitsgesellschaft abgrenzten und denen von dieser nicht selten Ablehnung entgegengebracht wurde. Diese Konstellation führte zur Migration zahlreicher Menschen in Europa. Personengruppen, die aufgrund ihrer Konfession aus der einen Region geflohen waren, fanden in einer anderen mitunter dankbare Aufnahme. Auswanderung und Ansiedelungsmaßnahmen standen somit in einem engen Verhältnis zueinander. Das Thema der Konfessionsmigration während der Frühen Neuzeit ist in der Forschung bereits seit Jahren aktuell.1 Zwei neue Publikationen – ein Sammelband und eine Monographie – knüpfen daran an und eröffnen neue Perspektiven.

Der Sammelband vereint 16 Beiträge einer Tagung, die 2014 vom Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart in Kooperation mit dem Seminar für Neuere Geschichte der Universität Tübingen und dem Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen veranstaltet wurde. Die Aufsätze behandeln Wanderungsbewegungen aus Württemberg, Baden, der Schweiz und dem Elsass ins östliche Europa und umgekehrt, in der Zeit vom 16. bis 19. Jahrhundert.

France Martin Dolinar und Renate-Karoline Adler untersuchen Migranten, die im 16. Jahrhundert aus Innerösterreich in den deutschen Südwesten übersiedelten. Dolinar verfolgt den Lebensweg des evangelischen Theologen Primus Truber (1508-1586), der aus Laibach floh und über mehrere Stationen nach Württemberg kam. Hier ließ er evangelische Schriften in slowenischer und kroatischer Sprache drucken und seinen Landsleuten in den habsburgischen Gebieten zukommen. Eine gänzlich andere Situation schuf Herzog Friedrich von Württemberg, der für die Besiedlung der neu gegründeten Stadt Freudenstadt evangelische Glaubensflüchtlinge aus Innerösterreich anwarb, wie Adler ausführt. Die Zuwanderer waren seit 1599 nicht nur maßgeblich am Aufbau der Planstadt beteiligt, sondern ihnen verdankte sie auch ihr erstes Aufblühen.

Jan-Andrea Bernhard und Eberhard Fritz widmen sich Wanderungsbewegungen aus den habsburgischen Ländern im 17. und 18. Jahrhundert. Bernhard geht den Lebenswegen und sozialen Netzwerken ungarischer Protestanten nach, die zwischen 1671 und 1681 vor der Verfolgung Kaiser Leopolds I. in die Städte der Schweiz und der Niederlande flohen. Er führt „die beispiellose Solidarität des protestantischen Europas“ vor Augen und zeigt, dass die leopoldinische „Trauerdekade“ zum „Identifikationsrahmen für Generationen ungarischer Protestanten“ (S. 68) wurde. Fritz betrachtet zwei unterschiedliche evangelische Flüchtlingsbewegungen, von denen die eine aus dem Defereggental, die andere aus Salzburg ins Herzogtum Württemberg gekommen war. Während der Herzog die Deferegger 1684/85 gezielt auf der Schwäbischen Alb ansiedelte, um hier den Protestantismus zu stärken, kamen die Salzburger Immigranten 1731/32 gewissermaßen zur falschen Zeit: Der Landesherr hatte kein Interesse an ihrer Integration und unterband kurzerhand ihren Zuzug. Die bereitwillige Aufnahme von Glaubensflüchtlingen oder ihre Abweisung waren folglich stets abhängig von den aktuellen politischen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnissen im Zufluchtsland.

Im Unterschied zu den meisten Beiträgen des Bandes, die sich mit Wanderungsbewegungen von Protestanten befassen, untersucht Carsten Kohlmann die Ansiedelung osteuropäischer Juden im Südwesten des Reichs während des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Flüchtlinge kamen vorwiegend aus Polen-Litauen und ließen sich am Oberen Neckar – zwischen Rottweil und Tübingen – nieder. Dass sich die Juden hier nach einigen Generationen kulturell integrierten, kann Kohlmann aufgrund der schlechten Quellenlage jedoch nur vermuten.

Im Anschluss an diese Beiträge, die sich mit der Immigration in den Südwesten des Reichs befassen, behandeln die folgenden den Südwesten als Auswanderungsregion in Richtung Osteuropa. So zogen im 16. Jahrhundert zahlreiche Täufer (v.a. Hutterer) von Württemberg aus nach Mähren. Astrid von Schlachta macht in ihrem Artikel die religiösen Motive dieser Wanderung als die vordergründigen, die wirtschaftlichen jedoch als die entscheidenden aus. Anders verhielt es sich bei den von Márta Fata untersuchten evangelischen „Schwaben“, die sich im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts im habsburgisch-ungarischen Banat sowie im Komitat Tolna niederließen. Ihnen wurde zunächst freie Religionsausübung gewährt, bis die wenig später einsetzende religiöse Unterdrückung in Ungarn diese Freiheit zunichtemachte. Die Immigranten, die aus ökonomisch-existentiellen Gründen in Ungarn bleiben wollten, kämpften für die Ausübung ihrer Konfession, mussten ihre religiösen Motive jedoch letztlich ebenfalls den wirtschaftlichen unterordnen.

Nachdem die zwischen 1708 und 1714 grassierende „Große Pest“ die Bevölkerung in Preußisch-Litauen um bis zu 40 Prozent dezimiert hatte, versuchte Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg gezielt Protestanten anzusiedeln. Matthias Asche führt aus, dass der König nicht nur rund 16.000 aus dem Salzburger Land ausgewiesene Protestanten aufnahm, sondern auch Reformierte aus der Schweiz sowie aus Nassau und der Pfalz. Trotz dieser massiven Bemühungen um das Rétablissement in Ostpreußen führte die Ansiedelung nicht zu einer Verschiebung der ethnischen Struktur im Land, und insgesamt blieb die Besiedelungsdichte in Preußisch-Litauen auch im späten 18. Jahrhundert gering.

Dietmar Neutatz und Annemarie Röder untersuchen die Auswanderung südwestdeutscher Protestanten nach Russland im 18. und 19. Jahrhundert. Neutatz stellt fest, dass nur ein Teil der Russlandwanderer (Mennoniten, Separatisten und Chiliasten) aus religiösen Gründen ging. Die Diasporasituation führte jedoch dazu, dass sich viele den im Aufschwung begriffenen Erweckungsbewegungen anschlossen, dass religiöse Bindungen in der Fremde also wieder eine größere Rolle zu spielen begannen. Ähnlich verhielt es sich bei den von Annemarie Röder in den Blick genommenen württembergischen Pietisten und Chiliasten, unter denen die Sehnsucht nach Jerusalem besonders ausgeprägt war und die 1817 in Richtung Kaukasus aufbrachen. Im russischen Katharinenfeld konstituierten sie ihr Gemeindeleben gemäß der Württembergischen Großen Kirchenordnung von 1743, mittels der sie ihre Gemeinschaft nach innen stärkten und nach außen abgrenzten.

Die im ersten Teil des Tagungsbandes versammelten Aufsätze lassen erkennen, dass die Gründe für Migrationen in der Frühen Neuzeit oft nicht ausschließlich religiös, sondern vielschichtig und in vielen Fällen ökonomisch bedingt waren. So hatten Bevölkerungswachstum, Besitzzersplitterung, Wirtschaftskrisen, Pauperisierung sowie Anwerbungspolitik (Peuplierungsmaßnahmen) signifikanten Anteil daran, Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zu bewegen.

Die folgenden Beiträge nehmen die Bildungsmigration in den Blick, bei der Menschen nicht gezwungenermaßen, sondern freiwillig ihre Heimat verließen. Reformierte Ungarn betrieben im 16. Jahrhundert ihre Studien in Straßburg im kryptocalvinistischen Umfeld des Rektors Johannes Sturm, wie András Szabó konstatiert. Nachdem die Straßburger Hohe Schule zu Beginn des 17. Jahrhunderts jedoch zunehmend zum Anlaufort für lutherische Studenten wurde, nahm die Zahl der ungarischen Studenten deutlich ab. János Heltai geht einer ganzen Generation von Ungarn nach, die zwischen 1598 und 1621 in der reformierten Metropole Heidelberg Theologie studierte und dabei in engem Kontakt zu dem Alttestamentler David Pareus standen. Diese engen persönlichen Kontakte waren auch ausschlaggebend dafür, dass die in Heidelberg ausgebildeten Theologen nach ihrer Rückkehr die reformierte Kirche in Ungarn nachhaltig prägten.

Kęstutis Daugirdas kommt in seinem Beitrag zu polnisch-litauischen Studenten an den reformierten Hohen Schulen von Basel und Zürich im 16. und 17. Jahrhundert zu ähnlichen Ergebnissen: Die Bildungseliten aus Polen-Litauen wirkten nach ihrer Rückkehr maßgeblich auf die Gestalt der reformierten Kirche in ihrer Heimat ein, sie wurden zu den „entscheidenden politischen Stützen des reformierten Protestantismus in Polen-Litauen“ (S. 277).

Sabine Holtz untersucht anhand der nahezu vollständig erhaltenen Matrikel der Universität Tübingen die Gruppe von Studenten, die aus Polen, Schlesien, Mähren, Böhmen und Krain ins evangelische Württemberg kam. Mit der Durchsetzung einer gegenreformatorischen Politik in ihren jeweiligen Heimatländern wurde es für die osteuropäischen Bildungseliten jedoch schwierig bis unmöglich, ein Studium in Tübingen aufzunehmen.

Die im zweiten Teil des Tagungsbandes zusammengestellten Beiträge zur Bildungsmigration zeigen ein recht einheitliches Bild, das von folgenden Faktoren gekennzeichnet ist: Für die Wahl des Ausbildungsorts waren sowohl die konfessionellen Verhältnisse als auch persönliche Netzwerke entscheidend. Die Bildungseliten waren auch ökonomische Eliten, die sich das Studium und den Aufenthalt in der Fremde leisten konnten. Die Bildungsmigration zeigt eine große Mobilität der Gelehrten in Europa, vor allem aber den starken Einfluss, den die in der Fremde ausgebildeten Theologen auf die Kirche und die Gesellschaft in ihren Heimatländern ausübten. Der südwestdeutsche Protestantismus kann somit als prägend für viele evangelische Kirchen im östlichen Europa gelten.

Im Gegensatz zum Stuttgarter Tagungsband legt Carsten Brall in seiner monographischen Studie den Fokus auf den westeuropäischen Raum. Er untersucht die Antwerpener Gemeinde des Augsburger Bekenntnisses (CA), die im 16. Jahrhundert die größte und bedeutendste lutherische Gemeinde in den Niederlanden war. Nachdem sie 1567 aus der Stadt ausgewiesen worden war, ließen sich die Gemeindemitglieder an verschiedenen anderen Orten nieder und gründeten dort Tochtergemeinden. Brall zeichnet die Entstehung und das Fortleben der Antwerpener Gemeinde und ihrer Filiationen bis hin zur heute noch bestehenden Niederländischen Gemeinde Augsburger Confession (NGAC) in Frankfurt nach.

Die evangelische Gemeinde CA bestand im Wesentlichen aus niederländischen und deutschen Kaufleuten sowie anderen wirtschaftlich potenten Mitgliedern und ihren Familien. Vereint wurde die Gemeinde durch das „Antwerpener Bekenntnis“, dessen 13 Unterzeichner allesamt Vertreter eines strengen Luthertums waren, die ihre theologischen Überzeugungen auch gegen Widerstände vertraten. Zu diesen Führungspersönlichkeiten zählten namhafte Theologen wie Matthias Flacius Illyricus oder Cyriacus Spangenberg.

Nachdem die konfessionellen Spannungen in den Niederlanden um die Jahreswende 1566/67 zugenommen hatten und Antwerpen von spanischen Truppen erobert worden war, wuchs der Druck auf die Evangelischen, von denen viele die Stadt verließen. Die Lutheraner zogen in Richtung Norden oder Osten und ließen sich unter anderem in Köln, Wesel, Aachen und Frankfurt nieder. Bemerkenswert ist, dass die Flüchtlinge überwiegend solche Städte aufsuchten, in denen die Confessio Augustana nicht das Mehrheitsbekenntnis war und wo dessen Anhänger auch keine besonderen Privilegien genossen. Die Wahl fiel vielmehr auf Städte, in denen die Antwerpener Kaufleute bereits seit langem Handelskontakte unterhielten.

Im Exil trafen sie auf unterschiedliche Bedingungen: In Köln schlossen sie sich mit anderen Konfessionsverwandten zusammen und konnten sich langfristig etablieren. In Wesel blieben sie hingegen separiert und konnten nicht dauerhaft Fuß fassen. In Aachen, Antwerpen und Frankfurt wurden Filiationen gegründet, die sich auf die erste Antwerpener Gemeinde CA beriefen. Signifikante Merkmale waren die personelle Kontinuität der Prediger sowie die Verwendung des Siegels der Ursprungsgemeinde, womit ein Bezug zum theologischen Erbe hergestellt wurde. Über das Siegel waren die Filiationen auch untereinander verbunden.

Carsten Brall hat eine konzise gegliederte und flüssig lesbare Dissertation vorgelegt, die im Rahmen des Mainzer DFG-Projekts „Migration und Exil im Luthertum des 16. Jahrhunderts“ entstanden ist. Prägnante Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels sowie eine Schlussbilanz erleichtern den stringenten Zugriff auf seine Forschungsergebnisse.

Sowohl der Tagungsband als auch die Monographie führen bezüglich der erzwungenen Migration einige Parallelen vor Augen: Geflüchtete Minderheitengruppen wurden im Exil zusammengeschweißt; sie bildeten eine mehr oder weniger abgeschlossene Gemeinschaft innerhalb der Mehrheitsbevölkerung, sie pflegten ihr eigenes Selbstverständnis und verschmolzen nicht mit bestehenden Gemeinden, selbst dann nicht, wenn diese das gleiche Bekenntnis teilten. Dies hat insbesondere Brall für die Antwerpener Filiationsgemeinden herausgearbeitet. Die Exilsituation führte nicht zuletzt dazu, dass die Flüchtlinge umfangreiche Beziehungsnetzwerke knüpften, indem sie zum einen Kontakt zu den Menschen in ihrer Heimat hielten und zum anderen Beziehungen zu anderen Exilgruppen aufbauten. Religiöse Auswanderungsmotive waren in der Regel eng mit säkularen – überwiegend wirtschaftlichen – verbunden, wie insbesondere der Tagungsband an zahlreichen Fallbeispielen vor Augen führt. Schließlich – so formuliert es Mark Häberlein in seiner Einleitung – war religiös motivierte Migration kein linearer Prozess von einem Ort an einen anderen, sondern ein komplexes Feld des Hin und Her, der Zwischenstationen, des Hängenbleibens und gelegentlich auch der Rückkehr.

Anmerkung:
1 Zu nennen sind etwa: Joachim Bahlcke (Hrsg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Berlin 2008; Joachim Bahlcke / Rainer Bendel (Hrsg.), Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, Köln 2008; Henning P. Jürgens (Hrsg.), Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2010.

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