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Titel
Musizierende „Wunderkinder“. Adoration und Observation in der Öffentlichkeit um 1800


Autor(en)
Traudes, Jonas
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margret Scharrer, Institut für Musikwissenschaft, Universität Bern

Obgleich bekannt ist, dass einige der herausragendsten Musiker und Komponisten – unter ihnen Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Georg Friedrich Händel oder Franz Liszt – bereits mit überragenden musikalischen Leistungen in ihrer Kindheit auf sich aufmerksam machten, wurde diesem Phänomen in der historischen Musikwissenschaft bisher nur begrenzt Aufmerksamkeit geschenkt.1 Einzelne musikgeschichtlich orientierte Publikationen untersuchten lediglich Ausschnitte der „Wunderkind“-Thematik, erarbeiteten einen Überblick und wandten sich zumeist den bekannten Fällen des „Komponistenkanons“ zu. Die hier zu besprechende Dissertation von Jonas Traudes steht einer Heroengeschichtsschreibung kritisch gegenüber. Mit der Ausnahme eines den „Mythos“ Mozart dekonstruierenden Eröffnungskapitel schreibt Traudes hier eine Geschichte der „Wunderkinder“ jenseits dieser bekannten Fälle und begegnet damit einem musik- und kulturgeschichtlichem Forschungsdesiderat.

Als zentrale Methode wählt Traudes einen mikrohistorischen Zugang, den er als „Alternative beziehungsweise Korrektiv […] zu traditioneller Ereignisgeschichte“ und zur „jüngeren Strukturgeschichte“ versteht. Mittels dessen möchte er die Produktion von „anachronistischen Missverständnissen“ möglichst umschiffen, sich damit aber ein weites kulturgeschichtliches Panorama offenhalten (S. 16f.). Vorgehen und Probleme der Darstellungsweise sowie Forschungsstand werden in der Einleitung vorgestellt und eingehend reflektiert.

Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die Kindervirtuosen: William Crotch (1775–1847), Hippolyte Larsonneur (um 1811–?) und Isabella Rudkin (1821?–1888). Die Wahl der drei Hauptakteure, die den berühmteren „Wunderkindern“ ihrer Zeit zuzuzählen seien, erfolgte nicht nur aufgrund der günstigen Quellenlage, sondern vor allem wegen ihrer Heterogenität, die es zuließe, unterschiedliche kulturgeschichtliche Aspekte zu diskutieren. Weniger von Bedeutung sind für Traudes die einzelnen biographischen Schicksale (wie sonst im Fokus). Er fragt vielmehr nach den Wissensdiskursen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts und den in diesen formulierten Auffassungen, Bildern oder Methoden, wie sie in Musikästhetik, Pädagogik, Philosophie oder Medizin greifbar werden.

Auf der Grundlage umfangreichen Quellenmaterials in Form von Artikeln bzw. Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften, die durch Almanache, Romane, Gedichte, Programmzettel, Notendrucke, Gemälde und Bilddrucke ergänzt werden, entwirft er anhand der drei Fallstudien ein weites Spektrum öffentlicher Wahrnehmung von Kindervirtuosen. Dass jedoch, wie Traudes in seiner Einleitung formuliert, von musikhistorischen Forschungen allgemein behauptet werden kann, deren Quellengrundlage bleibe „von vornherein auf musikalische Fachorgane beschränkt“ (S. 20), entspricht kaum den Tatsachen. Nicht erst in den letzten Jahren, da Interdisziplinarität in der musikwissenschaftlichen Forschung ein ausdrücklich formuliertes Ziel ist, wird umfangreiches historisches Quellenmaterial abseits des fachhistorischen Fokus erfasst und aufgearbeitet.2

Wenngleich diese Ausrichtung auf eine größere Quellengrundlage begrüßenswert ist, so hätte man sich in der vorliegenden Arbeit – zumal sie dezidiert einen mikrogeschichtlichen Ansatz wählt und sich im Kontext historischer Forschungen begreift – eine etwas ausführlichere Darstellung und Reflektion gewünscht. In der Einleitung erschöpfen sich die Ausführungen zu den benutzten Quellen in wenigen Bemerkungen, die weitestgehend eine Aufzählung unterschiedlicher Typen darstellen. Wir erfahren weder etwas über den genauen quellentechnischen Zugriff, noch findet eine Problematisierung oder Auswertung der unterschiedlichen Quellenarten statt. Die Reflexion wäre aber umso wichtiger gewesen, als die drei Fallstudien im Wesentlichen auf der Basis historischer Zeugnisse konstruiert werden und im Darstellungsteil der Monographie fast auf jeder Seite ein (umfangreiches) Zitat begegnet, oft sind es sogar mehrere, die im Falle von fremdsprachigen auch noch übersetzt werden, so sie nicht in englischer Sprache verfasst sind. Ob all diese Zitationen in dieser Ausführlichkeit wirklich zwingend notwendig sind, ist zu fragen, zumal es sich nicht immer um Passagen handelt, die den originalen Quellenlaut unbedingt erfordern. Eine prägnante und zusammenfassende Schreibweise wäre nicht nur dem „Lesevergnüge“ an mancher Stelle mit Sicherheit zuträglich gewesen, sondern auch der Fokussierung in der Darstellung, die zuweilen etwas zerfasert und zu langer Absatz- und Kapitelbildung tendiert.

Die drei Fallbeispiele thematisieren Karrieren in verschiedenen sozialen und lokalen Kontexten, reflektieren Reaktionen und Kindheitsbilder der Öffentlichkeit, setzen sich mit Auftritts- und Konzertformen, Repertoire, Präsentation und musikalisch (-pekuniärer) Motivation auseinander. William Crotch aus Norwich erregte seit Ende der 1770er Jahre als Tastenkünstler die Aufmerksamkeit von Publikum und Presse. Konzertreisen führten ihn nach London, an den königlichen Hof und durch die Provinzen Großbritanniens. Seine Eltern entstammten dem „kleinbürgerlichen“ Milieu. Im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stand immer wieder die Naturbegabung des Kindes, die schließlich auch die Aufmerksamkeit der Royal Society erregte. Traudes diskutiert diese eingehend vor dem Hintergrund des Sensualismus.

Der Fall des Violinisten Hippolyte Larsonneur wiederum führt ins Paris Ende der 1810er und 20er Jahre. Larsonneur entstammte einer Musikerfamilie. Sein Vater, zugleich sein Lehrer, ließ ihn zuerst in den „üblichen“ Zaubershows und Theaterdarbietungen zwischen den Akten auftreten. Nachdem sich Hippolyte in der Provinz erfolgreich bewährt hatte, stand seiner Mitwirkung bei Konzerten in Paris nichts mehr im Weg. Einen der Höhepunkte seiner Laufbahn stellten Auftritte im höfischen Umkreis u.a. bei Louis-Philippe, dem späteren französischen König, dar. Konzertreisen führten ihn bis nach London und in den deutschsprachigen Raum. Wie kaum anders zu erwarten, unterrichtete der Vater auch die Geschwister, die ebenfalls öffentlich auftraten. Mittels seiner Kinder, allen voran aber Hippolytes, machte er als Lehrer und Pädagoge auf sich und seine Methode aufmerksam. Dies nimmt Traudes zum Anlass, die französische Violinschule und deren „ästhetische Utopie“ ausführlich darzustellen und den Fall Larsonneur einzuordnen. Ferner stehen Kindheitskonzepte u.a. von Jean-Jacques Rousseau und medizinische Ausführungen, etwa der Phrenologie, im Mittelpunkt.

Zurück im englischsprachigen Raum stellt das vorletzte Kapitel die Harfenistin Isabella Rudkin in den Mittelpunkt, die in der Öffentlichkeit ausschließlich als „Infant Lyra“ (davon gab es seinerzeit mehrere) präsentiert wurde und deren Karriere in Dublin begann. Auch sie wurde im Laufe der 1820er Jahre in Theatern und Kuriositätenshows in der Provinz und London vorstellig, erregte aber auch in Adelskreisen Aufmerksamkeit. Ursprünglich verfügte die Familie – wie in der Presse kolportiert – wohl über aristokratische Wurzeln, hatte aber durch finanzielle Nöte ihren Adelstitel verloren. Die Öffentlichkeitswirkung der „Infant Lyra“ muss immens gewesen sein und, wie Traudes ausführt, „an Berühmtheit […] alles Gewesene in den Schatten [ge]stellt“ haben (S. 306). Rennpferde und Modetänze wurden nach ihr benannt. Jedoch gestaltete sich ihre Wahrnehmung nicht ausschließlich positiv, bildeten sich doch verschiedene Lager, die anhand ihrer Person das Für und Wider kindlichen Virtuosentums diskutierten. Auch die Geschwister der jungen Harfenistin traten als Wunderkinder in Erscheinung, ihr jüngerer Bruder sogar schon mit dreizehn Monaten. Ausgehend von der „Infant Lyra“ werden verschiedene Kind-, Sehnsuchts- und Weiblichkeitsbilder vorgestellt und erläutert, auf Kinderarbeit in Industrie- und Unterhaltungskulturen eingegangen. Die Untersuchung schließt mit einem kurzen Kapitel, in dem der Topos des frühzeitigen Todes von Wunderkindern eine Diskussion erfährt.

Die Monographie umkreist ein großes kulturgeschichtliches Thema, wertet weitgehend unbekanntes Material aus und gibt damit Einblicke in wenig bekannte Terrains. Problematisch erscheint allerdings, dass die drei Fallstudien kaum miteinander verknüpft werden und es kein abschließendes Kapitel oder Ausblicke gibt, die die Ergebnisse zusammenführen und auswerten. Auch auf das Eröffnungskapitel wird in den einzelnen Fällen kaum Bezug genommen. Da hier eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Wunderkindkult“ um Mozart, dessen Dekonstruktion vor der Folie von Musikerkarrieren, Geniekult, Mythos und biographischer Stilisierung in Wissenschaft und Geschichte erfolgt, wäre es sinnvoll gewesen, dieses Kapitel erst nach den drei Fallstudien einzuordnen, um Erkenntnisse aus diesen mit einfließen lassen zu können. Insgesamt fällt auf, dass die Untersuchung auf Fazitbildungen verzichtet und vereinzelte Diskursausflüge zuweilen etwas sehr weit vom eigentlichen Thema wegführen.

Trotz dieser strukturellen Mängel wartet die Arbeit mit zahlreichen neuen Erkenntnissen auf, setzt sich unter Einbeziehung unterschiedlicher geschichts- bzw. kulturwissenschaftlicher Diskurse kritisch mit vorherrschenden Bildern auseinander und bedeutet nicht nur für die musikwissenschaftliche Forschung einen großen Wissens- und Erkenntniszuwachs.

Anmerkungen:
1 Natürlich gibt es zahlreiche Untersuchungen zu kindlichen Musikbegabungen, doch bewegen sich diese vor allem im Bereich der Musikpsychologie.
2 In seinem grundlegen Aufsatz Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft erklärte Guido Adler „die allgemeine Geschichte mit ihren Hilfswissenschaften der Paläographie, Chronologie, Diplomatik, Bibliographie, Bibliotheks- und Archivkunde“ zu „Hilfswissenschaften“ des Faches: Adler, Guido, Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft, in: Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 5–20. Wenngleich die so formulierte Forderung nach einer breiten Quellenbasis weiterhin Bestand hat, steht die Musikwissenschaft den mit diesen Ansatz verknüpften positivistischen Vorgehen inzwischen zurecht kritisch gegenüber.

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