Cover
Titel
Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal


Autor(en)
Bahr, Egon
Erschienen
Anzahl Seiten
157 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kersten Schüßler, Redaktion www.lizardmedia.com, Potsdam

Tote soll man ruhen lassen. Oder? Der "deutsche Weg" lag längst ad acta, allenfalls noch lebendig in historischen Debatten über den "deutschen Sonderweg". Nun erlebt er ausgerechnet bei den Sozialdemokraten fröhliche Wiederauferstehung. "Der deutsche Weg", schreibt SPD-Urgestein Egon Bahr im Untertitel seines schlanken Buches, sei "selbstverständlich und normal". Auf dem Schutzumschlag ist die Frakturschrift durchgestrichen und durch moderne Schrifttype ersetzt.

Nun knüpft Bahr mit seinen Ausführungen ausdrücklich an Gerhard Schröder an. Der hatte im Wahlkampf am 5. August 2002 im Anschluss an den damaligen SPD-Generalsekretär Franz Müntefering erstmals vom "deutschen Weg" gesprochen und damit die deutsche Verweigerung ausgesprochen, ohne UN-Mandat in den Irak-Krieg zu ziehen. Die Reaktionen reichten bis zum sofortigen Erstickungsversuch. Joschka Fischer, der 1994 mit "Risiko Deutschland" eine Zeitreise durch die deutsche Vergangenheit mit einer Absage an alle Sonderwege verbunden hatte, rüffelte gegenüber Journalisten: "Vergessen Sie den deutschen Weg!"

Egon Bahr sieht das ganz anders. Er bedauert ausdrücklich, "dass Schröder den deutschen Weg schnell auf die Sozialpolitik verengte" (S. 138). Der Außenpolitiker Bahr möchte die Kategorie genuin außenpolitisch verwenden. Aus persönlichen Erinnerungsmosaiken rekonstruiert er zunächst, wie negativ alles Deutsche nach dem Krieg besetzt und wie unsouverän das deutsche Handeln war. Entsprechend ordnet Bahr das historische Sonderbewusstsein und dessen Umbruch ein: "Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war der deutsche Weg selbst zu verantwortende Geschichte. Danach wurde uns der Weg gewiesen. Wir wurden gegangen." (S. 46)

Dass dies mehr als zehn Jahre nach Wiedervereinigung und wiedererlangter Souveränität ein Ende haben muss, geht für Bahr vor allem aus der gewandelten geopolitischen Lage hervor. Nach rasantem Aufstieg und Fall von 1871 bis 1918, unter den Nazis bereits 20 Jahre später wieder zur beherrschenden europäischen Macht geworden, steigt nach 1945 aus der Asche völliger Vernichtung zum Staunen der umliegenden Länder bald das Wirtschaftswunder empor. Bis 1991 arbeitet sich die BRD ganz allmählich auch politisch zum souveränen Handeln vor. Die überraschende Wiederbewaffnung, der deutsch-französische Elysée-Vertrag sowie die von den USA mehr oder weniger hingenommenen Verhandlungen und Verträge mit Moskau und Ost-Berlin sind für Bahr bereits erste Schritte auf dem neuen "deutschen Weg" (S. 25-48). Bei aller politischen Zerrissenheit und Einschränkung empfinden sich dabei auch die Menschen in der DDR primär als Deutsche. Das Phönixhafte wird erst nach der Wiedervereinigung gedämpft, das Land durch "fast 1 000 Milliarden Euro Transferleistung nach Osten [...] von der wirtschaftlichen Spitzenstellung auf eine strukturelle Position im unteren Drittel der EU gesenkt" (S. 135).

Auch politisch muss Deutschland sich erst in jüngster Zeit wirklich bewähren. Für Bahr, der in langen Linien denkt, hat sich mit der Bush-Administration der Schleier einer angeblichen transatlantischen Wertegemeinschaft zu lüften begonnen. Dahinter wird ein militärischer Gigant sichtbar, der rücksichtslos seinen eigenen Weg geht und dabei gezielt sein "Protektorat" Westeuropa einer Spaltung aussetzt (S. 53). Gegen die lange vor dem 11. September angestrebte Strategie der "großen Abschreckung" mittels taktischer Atomwaffen, Raketenabwehrsystemen, Implosionswaffen und hochpräziser Weltraumlaser seien alle Versuche, als Ausgleich eine gemeinsame europäische Armee zu schaffen, schlicht lächerlich. Die USA, die nach dem 11. September um so rücksichtsloser neue Stützpunkte bis nach Usbekistan und an die Westgrenze Chinas aufgebaut hätten und die ohne UN-Mandat ihre Interessen durchsetzen, seien nicht nur weiterhin "jung und hungrig", sondern hätten auch vom Jugoslawien-Krieg bis zum jüngsten Irak-Einsatz einen sowohl militärtechnologischen als auch rechtspolitischen Quantensprung vollzogen. Die europäische Öffentlichkeit habe sich nicht klargemacht, dass der "Krieg gegen den Terror" den "totalen Krieg bedeutet, mit allen Mitteln, die Amerika zur Verfügung stehen [...]: Druck, Drohung, Unterwanderung bis zur wieder erlaubten Tötung" (S. 79). Es werde gleichfalls ignoriert, dass eine Militärmacht, die "täglich eine Milliarde Dollar für militärische Zwecke" ausgibt (S. 121), nicht an Gleichgewicht interessiert ist: "Ohne die Selbstbehauptung unserer Werte wären wir auf dem Weg vom Protektorat zur Kolonie." (S. 115)

Die Selbstbehauptung gegen eine Pax Americana kann nur mit völkerrechtlichen und zivilen Mitteln arbeiten und findet dafür in der singulären deutschen Verfassungsurkunde ihren Glaubenskern. Dort nämlich steht im Artikel 26 des Grundgesetzes das oft übersehene Verbot des Angriffskrieges. Daraus folgt der Grundsatz, "keine Gewalt ohne Mandat des Sicherheitsrates anzuwenden" (S. 106) und das Gebot, auf "ein global anerkanntes rechtliches Fundament" (S. 98) hinzuwirken, denn: "Die USA haben den Rest der Welt daran gehindert zu beweisen, dass der Irak auch ohne Gewalt entwaffnet werden kann. Der erfolgreiche Krieg hat den Konflikt über das Völkerrecht nicht gelöst." (S. 106) Während die USA so folgerichtig den Zusammenprall der Kulturen riskieren, wirke Europa konfliktdämmend. Selbst die radikalsten islamistischen Kräfte, so Bahr, hätten "erstaunt und leise" auf die europäische Ablehnung des Irak-Krieges reagiert (S. 134; Bahr meint hier wohl die deutsch-französische Ablehnung, d.V.). Die Beendigung des Jugoslawien-Krieges und die Einbindung Russlands sind jüngste Leistungen deutsch-europäischen Engagements, die Eindämmung der Umweltzerstörung, die Partnerschaft mit Entwicklungsländern in Armuts-, Krankheits- und Drogenbekämpfung ihre künftigen Aufgaben. Wenn die USA den internationalen Gerichtshof, das Landminen-Verbot, das Kyoto-Protokoll sowie die Chemiewaffenkonvention ablehnen und den ABM-Vertrag kündigen, muss die europäische Reaktion auf diese unipolare Haltung eine "multipolare Weltanschauung sein. Das ist eine Frage der Würde" (S. 128).

Bahrs großteils brillanter Essay gewinnt seine leuchtendste Kraft in dieser Konturierung der amerikanischen und europäischen Position. "Der deutsche Weg" ist dabei eigentlich ein "europäischer Weg". Dann nämlich müsste Deutschland an das von Frankreich behauptete Selbstbewusstsein aufschließen und als europäische Mittelmacht sowohl die neuen europäischen Staaten integrieren als auch sich gegen Amerika behaupten. Die Entscheidung, entweder "der Weltführungsmacht oder dem Weltordnungssystem" zu folgen, wird uns im Übrigen von den USA aufgedrängt, einen dritten Weg gibt es nicht (S. 154). "Der deutsche Weg" ist in Bahrs realpolitisch-strategischer Ernüchterung damit ein zwangsläufiger, wollen die Deutschen sich nicht vom amerikanischen Hegemonialstreben auf Abwege führen lassen, gegen die sie aus ihrer Geschichte heraus mittlerweile gesunde Abneigungen und verbriefte Verfassungsgrundsätze entwickelt haben.

Wenn man den Titel also ernst nimmt, vollzieht Bahr eine Umwertung der Kategorie "deutscher Weg" und genau das hat er wohl auch im Sinn: Von der Überlegenheits- und Verlegenheitsfloskel vom "deutschen Wesen", an dem die Welt genesen solle, über die machtscheue Sonderrolle hin zu einem eigenständigen Normalbewusstsein. Der semantische Überschuss jedoch, der bei der Rede vom "deutschen Weg" aufhorchen lässt, ist mit pragmatischer Ernüchterung und europäischer Einbindung nicht gebändigt. Wer ihn wie Bahr von der Leine lässt, sollte vielleicht das damit verbundene Sendungsbewusstsein an seine älteren und nicht chauvinistischen Quellen zurückbinden. Vom alle Völker motivierenden "Geschichtszeichen" der französischen Revolution hatte da einst Kant gejubelt, worauf der Menschenfreund Schiller die Hoffnung auf eine humane deutsche Antwort mit der Zeile ausdrückte: "Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist die Aernte der ganzen Zeit." Was gemeint war, zeigte dann der Freund und Jurist Goethe, der mit seiner "Iphigenie" nicht ohne Absicht eine Frau die nationalen französischen Errungenschaften in praktisch-gelebtes Völkerrecht umsetzen ließ - zumindest im Drama. Es ließe sich lange schreiben über dieses humane deutsche Sendungsbewusstsein, das Rathenau und Stresemann in der Weimarer Republik vorübergehend zu wirklich großer Politik werden ließen. Denn etwas von diesen lange unerfüllten und immer wieder im Machtrausch pervertierten Hoffnungen schwingt mit in der Rede vom "deutschen Weg". Das aber wäre ein anderes Buch, denn Bahr ist kein Historiker, sondern Politiker. Sein Essay ist hellsichtig und nüchtern und hat zuviel Schiller im Titel.

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