M. Schwartz: Vertriebene und "Umsiedlerpolitik"

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Titel
Vertriebene und "Umsiedlerpolitik". Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961


Autor(en)
Schwartz, Michael
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 61
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 1247 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Sturm-Martin, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Kurzfristig und ephemer – das sind die beiden Adjektive, mit denen Michael Schwartz die „Umsiedlerpolitik“ in der SBZ/DDR in Bezug auf die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen im Ostteil Deutschlands bezeichnet (S. 33). Immerhin über ein knappes Jahrzehnt nach Kriegsende hinweg lässt sich ein speziell auf „Umsiedler“ gerichtetes politisches Handeln im Ostteil Deutschlands nachvollziehen, und Schwartz macht es sich zur Aufgabe, einige Aspekte dieses Themas gründlich zu erörtern. Die Kurzfristigkeit dieser Politik ist dabei nicht in Abrede zu stellen: „Umsiedlerpolitik“ (Schwartz reflektiert den problematischen Begriff umfassend in seiner Einleitung und übernimmt ihn der Einfachheit halber) der SBZ/DDR erlebte 1946/47 und noch einmal zu Beginn der 1950er-Jahre „kurze Höhepunkte“, um dann nach 1953 „vollständig zu verschwinden“ (S. 1118). Aber wie ephemer ist diese Politik wirklich gewesen?

Schwartz kann in seiner Studie, die er auf eine breitere Quellenbasis stellt als alle vorangegangenen Forschungen zum Thema, einige gängige Urteile über die SBZ/DDR- Vertriebenenpolitik differenzieren. Anhand von zahlreichen Einzelheiten wird deutlich, dass nicht pauschalisierend von einer „rein repressiven“ Politik gesprochen werden kann, wobei repressive Elemente ohne Zweifel zur Anwendung kamen. Qualifiziert wird bei Schwartz auch die Unterstellung, die Flüchtlinge und Vertriebenen selbst seien weitgehend passive Empfänger einer solchen Politik gewesen. Schwartz kann eine beachtliche Zahl an Beispielen von unterdrückter, aber auch von zeitweise erfolgreicher Selbstorganisation anführen. Die Rolle der Bodenreform in der Vertriebenenförderung stuft Schwartz im Gegensatz zur bisherigen Forschung als gering ein.

Die Gliederung der Stoff-Fülle dieser Studie kann kein leichtes Unterfangen gewesen sein. Schwartz meistert das elegant, indem er sich auf zwei Hauptteile beschränkt, die geschickt miteinander verzahnt sind. Gegenstand der Analyse sind dabei im ersten Hauptteil zunächst die formalen Instanzen und informellen Netzwerke der Akteure. Schwartz will dabei der „Differenz zwischen Politik und Verwaltung“ (S. 1118) auf die Spur kommen, hier verstanden als politische Praxis von sowjetischem Befehl und deutscher Umsetzung, was sich später ausdifferenziert in SED-Führung und umsiedlerpolitische Lobby. Von dieser Position aus dringt Schwartz zusammen mit dem Leser immer tiefer in die Einzelheiten und Details der „netzwerkartigen Verflechtungen zwischen Akteursgruppen in Bürokratien, Politik und Gesellschaft“ (S. 1119) ein, um der o.g. Differenz auf die Spur zu kommen. Bei Schwartz wird erstmals deutlich, dass die Umsiedler-Sonderverwaltungen dabei nur ein Rädchen im Geflecht politisch-gesellschaftlicher Beziehungen waren, von dem die Umsiedlerpolitik letztlich bestimmt wurde. Neben den Sonderverwaltungen waren maßgeblich auch die Arbeits- und Sozialverwaltung beteiligt, die Agrarverwaltungen und nach 1948/49 auch die Instanzen der Wirtschaftsplanung. Schwartz hebt auch die Rolle der politischen Parteien neben der SED hervor, so nennt er CDU und LDP als bis zum Jahre 1949 „wichtige Nebenzentren von Umsiedlerpolitik“ (S. 1126). Auch der FDGB, die „Volksolidarität“ und die „Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe“ waren Teil des politischen Beziehungsgeflechts, das im Urteil von Schwartz die Umsiedlerpolitik prägte. Nicht zuletzt die Vertriebenen selbst konnten innerhalb und außerhalb der politischen Instanzen die auf sie selbst gerichteten Maßnahmen mitzugestalten versuchen.

Im zweiten Hauptteil widmet sich Schwartz dem Spannungsfeld von Integrationsanspruch und praktischer Umsetzung, das er anhand von zwei Beispielen untersucht. Sowohl die vertriebenenspezifischen Elemente der Bodenreform als auch die speziell auf Flüchtlinge und Vertriebene ausgerichteten Hausrat-Umverteilungsaktionen der ersten Nachkriegsjahre bettet er aufschlussreich in den Kontext gesamtgesellschaftlicher Verteilungskonflikte ein. Schwartz weist nach, wie der politische Eingriff die Ungleichheit „weniger behob als neu strukturierte“ (S. 46).

Durchgängig werden Vergleiche mit der Politik Westdeutschlands gegenüber den zwangsweise zugezogenen Bürgern aus dem Osten eingeflochten. Ähnlichkeiten der Vertriebenenpolitik in Ost und West sieht Schwartz im Vertrauen der politischen Akteure auf die integrative Wirkung der Arbeit, der Zukunftsbezogenheit aller Integrationskonzepte und in der Idee der Hilfe zur Selbsthilfe. Als wesentlichen Unterschied nennt er den Anspruch der vollständigen Assimilation im Osten gegenüber dem zumindest verbal im Raum stehenden Rückkehr-Vorbehalt im Westen. Schwartz macht dabei die Rolle der SBZ/DDR-spezifischen politischen Situation für die ostdeutsche Vertriebenenintegration deutlich und nennt als deren besondere Kriterien „die Bedingung der rückhaltlosen Anerkennung der deutschen Gebietsverluste und der damit verbundenen Massenvertreibungen von Deutschen, welche die Vertriebenen in der SBZ/DDR unter erheblichen Anpassungsdruck setzte, sowie die Bedingung eines gewaltsamen Umbaus der DDR-Nachkriegsgesellschaft, welche vielen dort lebenden Vertriebenen soziale Aufstiegs- und Integrationschancen bot“ (S. 1165). Es ergibt sich für ihn damit eine „Dialektik gesellschaftlicher Desintegration und paralleler Vertriebenen-Integration“ (S. 1175).

Schwartz erörtert die beiden Eckpunkte seiner Analyse auf nicht weniger als 1.200 Seiten. Wurde hier das Kürzen vergessen, die Zusammenführung auf das Wesentliche verweigert? Solche spontanen Zweifel erweisen sich sehr bald als unbegründet gegenüber einem Text, dessen Ausführlichkeit an keiner Stelle langweilig ist. Die Detailfreude von Schwartz erhöht sogar die ohnehin sehr gute Lesbarkeit der Studie, und Wiederholungen sind ausgesprochen selten. Schwartz hat durchweg genug zu sagen, um den Leser bei der Stange zu halten. Hochinteressant ist die biografisch eng geführte Beschreibung von Ulbrichts und Piecks Rollen in der ‚Umsiedlerpolitik’ (S. 269-283), die Rekapitulation der Zerschlagung einer Vertriebenenorganisation („Deutscher Umsiedlerverband“ in Malchin, Mecklenburg) im Januar 1947 (S. 484-487) oder auch der Vergleich der ersten Gartenlandgesetze der Sowjetischen Zone 1947 mit ähnlichen Plänen der amerikanischen Militärregierung in Württemberg 1946 (S. 757). Der letzte ausführliche Abschnitt widmet sich dem Bemühen um eine Verbesserung der materiellen Situation besitzloser Flüchtlinge. Wie schwer dabei die private Hilfeleistung zu mobilisieren war, ist schon oft beschrieben worden; aufschlussreich ist bei Schwartz besonders der Nachweis, wie die Bevorzugung von ‚Werktätigen’ bei Transferleistungen vor den Anfängen einer Sozialpolitik in der SBZ/DDR gerade die Flüchtlinge benachteiligte, unter denen sich viele allein stehende Frauen mit mehreren Kindern und alte Menschen befanden.

Schwartz verwendet eine Fülle von Quellenmaterial, das er mit beeindruckendem Überblick analysiert und stringent gruppiert. Leider lässt er den Leser am Prozess seiner Auswahl nur kursorisch teilhaben. So wünscht man sich beispielsweise bei einer quellentechnisch anspruchsvollen Fragestellung wie der seiner Implementationsanalyse im dritten Abschnitt ein kritisches Urteil über sein Archivmaterial – was gibt es im Einzelnen her, um den Grad der “tatsächlichen“ Integration zu messen? Ein paar Werkstattgeheimnisse aus dem Archiv, der eine oder andere Hinweis auf seine Überlegungen zum vorliegenden Material hätten in ein Werk dieses Umfangs auch noch hineingepasst.

In seiner Schlussbilanz stellt Schwartz fest, wie die Flüchtlinge und Vertriebenen in der SBZ/DDR während der kurzen Spanne der Umsiedlerpolitik gleichzeitig unterdrückt und betreut wurden (S. 1118). Zu dieser Ambivalenz kam es durch die verordnete Assimilation zusammen mit dem verordneten Heimatverzicht, was bei den Betroffenen auf Ablehnung stieß. Hat diese Klarheit letztlich die Integration erleichtert? Schwartz hält sich klug zurück mit eindeutigen Antworten, die wohl auch nicht zu geben sind. Bei allen verwaltungsgeschichtlichen Details der Politik gegenüber den Vertriebenen und Flüchtlingen verliert Schwartz nie den Blick für die letztlich geringe Bedeutung aller offiziellen Bemühungen um Integration angesichts der Tragik des Einzelschicksals. Kurzfristig und ephemer war der Effekt einzelner ‚umsiedlerpolitischer’ Aktionen. Dieser wichtigen Studie möchte man dagegen eine langfristige und nachhaltige Wirkung wünschen.

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