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Titel
Thomas Becket. Höfling und Heiliger


Autor(en)
Vollrath, Hanna
Erschienen
Göttingen 2004: Muster-Schmidt Verlag
Anzahl Seiten
139 S.
Preis
€ 13,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sybille Schröder, Institut für Geschichte und Kunstgeschichte, Technische Universität Berlin

Auch wenn man sich eigentlich mit der Lebenszeit des Thomas Becket (um 1120-1170) befasst, wird doch der Blick stets auf den gewaltsamen Tod des Erzbischofs von Canterbury gelenkt. Die Frage, wie der Konflikt mit Heinrich II. von England zu dem „Mord im Dom“ führen konnte, ist wohl für jede Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte Beckets von größter Bedeutung. Nicht nur deshalb ist das Vorhaben, eine Biografie dieses Heiligen zu schreiben, kein leichtes. Die Überlieferungssituation ist zwar quantitativ günstig, aber die historiografischen und hagiografischen Quellen sowie die Briefe sind nicht einfach zu interpretieren. Verfolgt man Beckets Lebensweg, kommt man zwangsläufig mit ganz unterschiedlichen Bereichen hochmittelalterlicher Wirklichkeit in Berührung: Sohn Londoner Bürger, trat Becket zunächst in den Haushalt des Erzbischofs von Canterbury ein, wurde 1155 königlicher Kanzler und 1162 selbst Primas der englischen Kirche, als ein vehementer Streit um kirchenrechtliche Fragen entstand, der in das Exil Beckets und schließlich in seinen gewaltsamen Tod mündete.

Die umfassende und schwierige Aufgabe einer solchen Biografie meistert Hanna Vollrath, ausgewiesene Kennerin der englischen Geschichte, bravourös. Dabei geht sie chronologisch vor, indem sie sich am Lebenslauf Beckets orientiert. Da sie den Konflikt mit Heinrich II. in seiner rechtsgeschichtlichen Bedeutung weit ausgreifend, fundiert und zugleich anschaulich erläutert, misst sie Beckets Zeit als Erzbischof von Canterbury in England besondere Aufmerksamkeit bei. Die ereignisgeschichtliche Ebene wird in der Regel knapp, aber deutlich dargestellt. Einzelne Handlungen werden nur dann hervorgehoben, wenn es darum geht, die Zeichenhaftigkeit der Kommunikation im Hinblick auf die Entwicklung des Konfliktes zu beschreiben.

Die inhaltlichen und methodischen Grundlagen zum Verständnis ihrer anspruchsvollen Argumentation schafft Vollrath mit Hilfe zahlreicher klug platzierter Zwischenkapitel, in denen sie etwa die politisch-dynastische Situation, die administrative Struktur Englands oder Veränderungen im Bildungswesen beschreibt. Zudem stellt sie ihre Bemerkungen stets in einen weiten historischen Zusammenhang. Entsprechend legt sie in der Einleitung (S. 9-16) die Überlieferungssituation dar, charakterisiert knapp und präzise die einschlägigen Quellengattungen, um etwa für die Viten sogleich das veränderte Kanonisierungsverfahren sowie die der Beschreibung zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Motiv und Tat zu erläutern (S. 12f.).

Im ersten Kapitel „Kindheit und Jugend“ (S. 17-24) wird nicht nur Beckets gesellschaftliche Herkunft als Sohn Londoner Bürger beschrieben, sondern zugleich diese Stadt ausführlich dargestellt. Dabei geht Hanna Vollrath auf die berühmte Beschreibung in der Becket-Vita des Wilhelm Fitz Stephen ein, eine der zentralen Quellen zum Leben Thomas’, mit der sie sich zugleich kritisch auseinandersetzt.

Das in den Viten zum Teil als freundschaftlich beschriebene Verhältnis zwischen Thomas, seit 1155 „Kanzler des Königs“ (Kapitel 2, S. 25-40), und Heinrich II. von England interpretiert Vollrath vor dem Hintergrund der sich wandelnden Herrscheraufgaben, der Herrschergunst und der veränderten Rolle der Dienstleute am Hofe. Vollrath kontrastiert verschiedene in der Überlieferung entworfene Bilder Beckets als „Asket im Höflingsgewand und heimliche[r] Wohltäter der Kirche“ (S. 39) oder als allein im Sinne Heinrichs II. handelnder Machtmensch und kommt zu dem Schluss, dass Thomas als Kanzler in seiner Parteinahme für den König auch in den Augen einiger Anhänger recht weit ging.

Im vierten Kapitel „Thomas von Canterbury“ (S. 50-97) beschreibt Vollrath die „so wundersame Verwandlung des Weltmenschen Thomas von London in den Asketen“ (S. 55), um dann detailliert auf die weitgehenden Revindikationsforderungen Beckets einzugehen. Sein konfrontatives Handeln habe auf kirchenrechtlichen Normen beruht, die sich jedoch nicht an der sozialen Wirklichkeit und am Gebräuchlichen orientierten. Gründe dafür sieht Vollrath auch in Beckets Charakter; zudem sei es in dieser Zeit kaum möglich gewesen, einen Konflikt anders als an die gesamte Person gebunden auszutragen: „Thomas Becket scheint ein Mann gewesen zu sein, bei dem sich zeitbedingte politische Handlungsformen und individuelle Disposition in besonderer Weise gegenseitig verstärkten.“ (S. 67)

Im Mittelpunkt aber steht die große Auseinandersetzung zwischen Heinrich II. und Thomas Becket, die sich am Problem des privilegium fori entzündete, der Frage nämlich, ob Kleriker auf dem Gebiet der Strafgerichtsbarkeit nur von geistlichen oder auch von weltlichen Gerichten verurteilt werden konnten. Vollrath geht hier nicht von der in den Viten wiedergegebenen „Grundversion“ (S. 68) des Konfliktes oder der Summa causae aus, sondern erläutert – mit einem Vorlauf im dritten Kapitel (Kirche und König, S. 41-49) – die feudal- und kirchenrechtlichen Grundlagen und wird so der Komplexität dieses Zusammenhanges voll gerecht. Zudem betont sie die veränderte soziale Rolle der Kleriker im 12. Jahrhundert: Da viele der in immer größerer Zahl ausgebildeten Verwaltungskleriker keine religiösen Aufgaben wahrnahmen und möglicherweise auch keine Beschäftigung fanden, sei es nicht mehr unbedingt im Sinne der Kirche gewesen, diese Personen ausschließlich von der relativ milden geistlichen Gerichtsbarkeit verurteilen zu lassen. Becket jedoch habe auf dem privilegium fori bestanden und nicht auf diese Veränderungen reagiert, wobei auch seine intellektuelle Herangehensweise an das Problem nicht mehr zeitgemäß gewesen sei.

Die weitere Entwicklung beschreibt Vollrath als „Eskalation ins Prinzipielle“ (S. 86): Heinrich II. reagierte auf die kategorische Argumentation Beckets, indem er selbst auf einer grundsätzlichen Ebene danach fragte, ob Becket sich auf dem Boden der consuetudines, der Summe des englischen Gewohnheitsrechts, befände, worauf Becket mit der salvo-Formel als Kirchenmann einschränkend antwortete. Für die Zuspitzung des Konfliktes sieht Vollrath auch charakterliche Gründe als bedeutend an, die sie in offener kritischer Auseinandersetzung mit den Quellen erschließt: „Es spricht vieles dafür, dass es nicht zuletzt die Persönlichkeit beider war, die den Konflikt bis in die Ausweglosigkeit vorantrieb.“ (S. 87) In diesem Sinne beschreibt sie die beiden Akteure, bis hin zu Fragen der körperlichen Konstitution, als entgegengesetzte Persönlichkeiten (S. 87ff.).

Vollrath widmet den rechtlichen Voraussetzungen zu Recht viel Raum. Indem sie fundiert und exemplarisch anhand gut überlieferter Fälle Prinzipien rechtlichen Vorgehens erläutert, gibt sie dem Leser zudem einen tiefen und weit über das Problem hinausgehenden Einblick in die englische und europäische Rechtsgeschichte des 12. Jahrhunderts. So sieht sie auch in der Verschriftlichung, die 1164 in Clarendon erfolgte, eine Veränderung des Rechts (S. 93).

Mit dem Exil des Erzbischofs in Frankreich erhielt der Konflikt in der Zeit des Schismas eine europaweite Dimension (Kapitel 5: Der Erzbischof im Exil, S. 98-120). Vollrath analysiert die strategischen Möglichkeiten, die sich Becket unter den Bedingungen des kommunikativen und diplomatischen Handelns boten.

Zahlreiche von Becket vorgenommene Exkommunikationen führten zu einer weiteren Zuspitzung der Situation. Sein Verhalten bei den gescheiterten Friedensverhandlungen von Montmirail und die Analyse seiner Briefe lassen Vollrath schließen, dass Becket von der Vorstellung beherrscht war, „allein gegen das Teuflisch-Böse ankämpfen zu müssen“ (S. 114). Weiterhin berücksichtigt sie die Ebene der symbolischen Kommunikation, um die Verschärfung des Konfliktes zu erklären.

Das unnachgiebige Verhalten Beckets nach seiner Rückkehr nach England beschreibt Vollrath in einem kurzen Kapitel unter der Überschrift „Der Weg in den Tod“ (S. 121-130) und vermutet die Ursachen für seine Haltung in seiner Religiosität und in der Ausweglosigkeit der Lage: „Thomas Becket war kein selbstgewisser Kämpfer, er trieb andere, weil er sich selbst getrieben fühlte und strafte, um selbst der Strafe Gottes zu entgehen.“ (S. 125)

Beim gewaltsamen Tod des Thomas Becket in der Kathedrale von Canterbury erkennt Vollrath Züge eines Ritualmordes, weist jedoch zurück, dass Heinrich II. die Tötung des Erzbischofs in Auftrag gegeben habe.

Im Epilog (S. 131-133) spricht Vollrath von der „gerade entstehenden Vorstellung zweier unabhängiger Institutionen“, später Kirche und Staat, deren Trennung Becket stets unterstrichen hatte (S. 132). Die davon möglicherweise für das Königtum ausgehende Gefahr sei gemindert worden, indem Heinrich II. den Heiligen zu seinem persönlichen Schutzpatron machte. Dies führte auch zur Ausdehnung des Becket-Kultes in Europa, auf den Abbildungen im Anhang verweisen.

Überzeugend ist, wie Vollrath unterschiedliche Erklärungen bereitstellt, um die Verhärtung der Fronten und die dramatische Zuspitzung des Konfliktes zu erklären: Auf Beckets kategorische und anachronistische Forderungen habe Heinrich ebenso grundsätzlich geantwortet; diese Eskalation mag durch das Zusammentreffen zweier extremer Persönlichkeiten begünstigt worden sein. Bedeutung misst sie auch dem Scheitern der Konfliktlösung auf der Zeichenebene bei.

Hanna Vollrath fügt der bekannten Serie des Muster-Schmidt-Verlags eine Biografie des Thomas Becket hinzu, die aufgrund ihres durchdachten Aufbaus tief in die Thematik einführt und zugleich anspruchsvolle neue Schlussfolgerungen bietet. Dies gelingt auch stilistisch ganz hervorragend, etwa durch die abwägend und kritisch kommentierende Wiedergabe der Quellen und zahlreiche pointierte rhetorische Fragen, die neue Sichtweisen eröffnen. Die Darstellung geht dabei weit über den Lebensweg des Heiligen hinaus und bietet einen fundierten Blick in viele Bereiche der sich wandelnden Welt Westeuropas im hohen Mittelalter, unter deren neuen Voraussetzungen Thomas Becket handelte.

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