A.Betz u.a. (Hg.): Kultur, Literatur und Wissenschaft

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Titel
Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich. Zum 100. Geburtstag von Robert Minder


Herausgeber
Betz, Albrecht; Richard Faber
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hélène Miard-Delacroix, Ecole Normale Supérieure Lettres et Sciences humaines, Lyon

Der Sammelband, den Albrecht Betz und Richard Faber zum 100. Geburtstag des großen französischen Germanisten und deutschen Autors Robert Minder herausgeben, spielt auf den Titel eines Buches von Minder aus dem Jahr 1962, „Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays“ 1 an. Diese Hommage erscheint fünfundzwanzig Jahre nach dem Tode des französischen Literaturhistorikers elsässischer Herkunft, der sich in der deutschen Öffentlichkeit als Schriftsteller einen Namen machte. Diesem prominenten Akademiker, dessen Laufbahn im französischen Hochschulsystem vom Studium an der Ecole Normale Supérieure rue d’Ulm über die Professur an der Sorbonne bis an den ruhmreichen Lehrstuhl für Langues et littératures d’origine germanique am Collège de France geradezu beispielhaft war, ist eine Sammlung von Beiträgen vornehmlich deutscher Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen gewidmet.

Neben den zwei Herausgebern und Germanisten Betz und Faber sind die Autoren des Sammelbands Literaturwissenschaftler, Historiker, Sprachwissenschaftler, Politologen, Romanisten und Philosophen. Diese Vielfalt ist nicht nur als Hommage für den facettenreichen Robert Minder zu verstehen, sie dokumentiert auch die Bedeutung seines Werks für die Geschichte und die aktuellen Debatten der verschiedenen Fächer und Fachrichtungen der Geistes- und Sozialwissenschaften. Nicht zuletzt spricht die Gestaltung dieses Sammelbandes für die Vielseitigkeit und somit die Besonderheit der so genannten Auslandsgermanistik und insbesondere ihrer französischen Variante, zu deren Erneuerung im zweiten Teil des 20. Jahrhunderts Robert Minder (1902-1980) erheblich beitrug. Während in Deutschland die Kulturwissenschaft und die interkulturellen Studiengänge in den letzten Jahren ihre lettres de noblesse errangen, hatte das Engagement Minders für die Etudes germaniques in Frankreich schon lange auch deren besondere Prägung durch die Kulturwissenschaft und so genannte Civilisation allemande mitgestaltet. Insofern ist es etwas verwunderlich, dass unter den zwanzig Autoren dieses Bands ein einziger Franzose zu finden ist. Zwar gelingt es dem französischen Germanisten Fabrice Malkani, der der Fachrichtung Ideengeschichte zuzurechnen ist, die herausragende Bedeutung des Literaturhistorikers und Komparatisten Minder für das Fach in Frankreich zur Geltung zu bringen, aber hätten mehrere Vertreter der verschiedenen französischen Germanistengenerationen, die Robert Minder als Hochschullehrer, Kollegen oder Mitarbeiter erlebten, zum Hommagewerk beigetragen, dann wäre der Band dessen besonderer Rolle vollständiger gerecht geworden. Zwar räumen die Herausgeber im Vorwort ein, dass „vieles ‚unbearbeitet’ bleibt, wie es sich bei Sammelbänden zu verhalten pflegt“ (S. 17), jedoch kann diese deutsch-französische Asymmetrie gerade bei dem Thema als eine schwer zu erklärende Schwäche betrachtet werden.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die jeweils drei bis sechs Beiträge umfassen. Den insgesamt 20 Texten folgen eine Chronik des Lebens und eine 260 Titel umfassende Bibliografie Minders; beide wurden von Manfred Beyer erstellt und in französischer Sprache in Allemagne d’aujourd’hui 2 vor einem Jahr veröffentlicht – in jener Zeitschrift, die Robert Minder seinerzeit mitbegründete.

Die elsässische Abstammung Robert Minders durchzieht wie ein roter Faden den Band und schon im Vorwort wird sie von Albrecht Betz mit dem Wort Minders in ihrer Eigenschaft einer „Nahtstelle des Kontinents“ erwähnt, im Sinne einer zwar zwei Teile zusammenführenden Stelle, die aber leicht platzen kann. Das Elsässische an Minder prägte nicht nur sein Verhältnis zur deutschen Sprache sondern auch zugleich sein Gefühl fürs Regionale an der von ihm untersuchten besonderen deutschen Lebensauffassung sowie seine Sozialisation und daher sein im Vergleich zu anderen französischen Germanisten distanziertes Engagement für eine deutsch-französische Verständigung. Am ausführlichsten erörtert Hans Manfred Bock in seinem Aufsatz die Rolle der elsässischen Herkunft als Sozialisationsmilieu, als Rekrutierungsgegend der französischen Hochschulgermanisten und als „Projektionsfläche“ (S. 70) für die Verbindung zwischen zwei Kulturen.

Das mosaikartige Porträt Minders, das Betz in seinem Vorwort skizziert - ergänzt durch die informative Vorstellung der Autoren durch Faber –, wird einleitend weitergeführt durch den ersten Aufsatz des Bandes. Collageartig beschwört Faber Minders Verhältnis zur Literatur herauf und jongliert dabei mit Zitaten aus Texten des französischen Germanisten. Dieser besondere Stil, bei dem keine Zeile ohne Anführungszeichen bleibt, zeugt von einer extrem guten Kenntnis des Werks Minders; er erschwert allerdings die Lektüre und vernebelt etwas die Analyse.

Der erste Teil des Buchs („Über Literaturwissenschaft und Literaturwissenschaftsgeschichte“, S. 19ff.) ist für Historiker und ein geschichtsinteressiertes Publikum am interessantesten. Unter diesem Titel findet man eine Reihe von Aufsätzen, die zwei Grundsatzfragen zu beantworten suchen: was ist in dem ihm besonderen kultursoziologischen und mentalitätsgeschichtlichen Ansatz der Beitrag Robert Minders zur Erneuerung eines Faches im Wandel gewesen? Und wie lässt sich diese Position in der französischen Germanistik durch das wissenschaftliche Umfeld und das Erbe des Fachs erklären? Zur Kontextualisierung des Werks Minders hilft auch der Aufsatz von Peter Schöttler („Robert Minder, Lucien Febvre und die Annales“) in der zweiten Beitragsgruppe sehr, der im Grunde in die erste gehört. Diese Autoren untersuchen Minders Literaturverständnis als „soziale Tatsache“ und seine Einschätzung von der Rolle der Mythen in der deutschen Kultur aus verschiedenen Perspektiven, und in den meisten wird auch die Frage nach der „nationalen Optik“ im Geschichtsbewusstsein, wie Minder sie stellte, erörtert. Bock analysiert Minders Eigenart im Vergleich zu den drei großen Germanisten der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts Charles Andler, Lucien Herr und Henri Lichtenberger, und seine Ausführungen finden eine Ergänzung und Vertiefung im sehr gut dokumentierten vergleichenden Rückblick von Katia Marmetschke auf die Geschichte der Germanistik der Zwischenkriegszeit und auf die Besonderheiten und jeweiligen Verdienste von Edmond Vermeil und Robert Minder. Im Vergleich zum gesellschaftspolitisch engagierten Germanisten Vermeil war der Blick Minders auf Deutschland „verstehend-empathiegeleitet“ (S. 90). Marmetschke diskutiert die häufig gezogene Trennlinie zwischen den akademischen Studien Minders in der Tradition der französischen Germanistik und seinen literatursoziologisch geprägten Essays, die der Literaturwissenschaftler Heribert Tommek als „spezifisches Produkt einer Kompromissbildung“ (S. 49) wertet; vielmehr weist die Politikwissenschaftlerin Marmetschke auf Kontinuität und Komplementarität hin. Fabrice Malkani erläutert sodann den Anspruch Robert Minders auf eine Gesamtgermanistik sowie dessen Bewusstsein, dass dieser globalen Erfassung aller Erscheinungen der Kultur eines Landes (zugleich Literatur, Philosophie, Musik, Geschichte, Religion etc.) etwas Utopisches anhaftete. Die komparatistische Perspektive (wohl eher als komparatistische Methode) Minders wird gleichfalls von Heinrich Kaulen im Rahmen seines Beitrags „Robert Minder und das deutsche Lesebuch“ hinterfragt. Auch hier wird die Frage nach der Wirkung des nationaltypologischen Erklärungsansatzes gestellt, der in einem „Spannungsverhältnis zum Programm einer theoretisch fundierten, empirischen Kultursoziologie“ (S. 113) stand.

In der zweiten Abteilung des Bandes („Soziokulturelle Regionen und Räume“, S. 129ff.) werden regionale Studien Robert Minders zum Ausgangspunkt von Überlegungen oder zum Anlass für eine Bilanz von Forschungsfeldern wie Südtiroler Gegenwartsliteratur (Elmar Locher), das Plattdeutsche (Ulf-Thomas Lesle) und das evangelische Pfarrhaus (Christel Köhle-Hezinger).

Mit der dritten, „Über Deutschland, Frankreich und Europa“ betitelten Beitragsgruppe (S. 193ff.) beginnt der eigentliche zweite Teil des Buchs, der sich mit dem Verhältnis von Robert Minder zu verschiedenen Zeitgenossen bzw. Schriftstellern und Werken der Vergangenheit (vierte Beitragsgruppe, S. 233ff.) befasst. Kontakte, Einflüsse und Freundschaften im realen Leben sowie Deutung, Kritik und Intimität im interpretatorischen Schaffen des Literaturwissenschaftlers stehen im Zentrum dieser Beiträge. Es sind letztendlich Einzelstudien, die der Minderschen Heidegger-Kritik (Thomas Meyer) oder seiner revolutionierenden Hölderlin-Deutung (Thomas Schröder) oder auch Minders Analyse von Karl-Philipp Moritz (Horst Günther), Jean-Paul (Paul Fleming), oder Racine und Schiller (Achim Geisenhanslüke) gewidmet sind.

Eine besondere Aufmerksamkeit verdient schließlich der Aufsatz von Manfred Voigts und Till Schicketanz über das Verhältnis Robert Minders zu Alfred Döblin (S. 235f.). Hier werden die erste Rezensionsarbeit Minders und seine eigene Döblin-Interpretation als Ausgangspunkt der Freundschaft in den 1930er-Jahren, die persönliche Unterstützung und Hilfe in der Kriegs- und Verfolgungszeit und schließlich die großen Bemühungen Minders für die Verbreitung und Anerkennung von Döblins Werk nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben. Die extreme Nähe zum Freund und die psychoanalytische Komponente der Minderschen Döblin-Interpretationen führten zu Verleumdungsklagen von Döblin-Nachfahren, was Minders letzte Lebensjahre überschattete und erschütterte (Lebenschronik S. 320).

An der Schnittstelle zwischen Literatur und Gesellschaftsgeschichte erscheint das Werk Robert Minders mit diesem Buch als eine wichtige Etappe in der Entwicklung der französischen Germanistik. Wenn er schon keine regelrechte Revolution des Faches einleitete wie sonst eher Pierre Bertaux, der die moderne civilisation als Fachrichtung erfand, brachte Minder in den 1960er-Jahren nicht nur „frischen Wind in eine Disziplin, die sich auf textimmanente Werkinterpretationen zurückgezogen hatte“ (S. 77, Marmetschke). Vierzig Jahre später befindet sich die französische Germanistik, genauso wie die deutsche Philologie an allen außerdeutschen Universitäten, in einer tiefen Krise. In diesem Kontext kann das Buch von Betz und Faber zur Standortbestimmung und zur Entwicklung eines neuen Rollenverständnisses der Germanisten in Europa eine hilfreiche Inspirationsquelle sein.

Anmerkungen:
1 Minder, Robert, Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays. Frankfurt am Main 1962, 139 S.
2 Allemagne d’aujourd’hui, n° 165, 2003.

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