Titel
Luxus der Leere. Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt. Eine Streitschrift


Autor(en)
Kil, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
159 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Daniel Kählert, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Wenn Erwerbsarbeit an einem Ort abnimmt, dauert es nicht lange und auch die Zahl der dort lebenden Menschen schrumpft. Die Menschen ziehen der Arbeit hinterher. Was bleibt, sind leerer werdende Räume. Zum Beispiel der Ort Oschatz in Sachsen: Eine fast 800-jährige ehemalige Garnisonsstadt, verkehrsgünstig genau in der Mitte der traditionsreichen Eisenbahnlinie Leipzig – Dresden gelegen. Prosperierend vor dem Zweiten Weltkrieg, zu DDR-Zeiten Kreisstadt, Standort sowjetischer Truppen und einiger mittlerer Industriebetriebe. Zwischen 1990 und 2004 verringerte sich die Oschatzer Bevölkerung um 14 Prozent auf 16.676 EinwohnerInnen. Die Arbeitslosenquote im Landkreis liegt derzeit bei 24,3 Prozent. Das Kino am Marktplatz machte gleich nach der Wende dicht, die Kreisverwaltung wanderte nach der Neuaufteilung ins nahe gelegene Torgau – dafür gibt es jetzt vier moderne, nicht ausgelastete Gewerbegebiete, ein Spaßbad und ein Einkaufszentrum am Stadtrand. Die Aral-Tankstelle an der Bundesstrasse in Richtung Leipzig ist beliebter Treffpunkt der verbliebenen Jugend – donnerstags ist "Ladys Night". Immerhin soll es laut Stadtverwaltung noch 16 Sportvereine und sieben Jugendzentren geben. Die Hälfte der Einwohner des Ortes ist bereits über 45 Jahre. Jährlich sterben 59 mehr Oschatzer als geboren werden. Die Zahl der Weggezogenen übersteigt die Zahl der Ankömmlinge derzeit jährlich um 112.1 Wachstum sieht anders aus. Oschatz ist im ostdeutschen Schrumpfszenario lediglich Mittelmaß – in den ehemaligen Industrieansiedlungen Halle-Neustadt, Hoyerswerda oder Schwedt, in denen nach der Wende ganze Stadtviertel buchstäblich entvölkert wurden, ist die Situation gravierender.

Bereits Mitte der 1980er-Jahre haben die Soziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel auf die Problematik schrumpfender Städte in Westdeutschland hingewiesen.2 Sie fanden damals wenig Gehör: Schrumpfung war im Verständnis Zukunft = Wachstum keine positive Perspektive.3 Im Zuge der Wiedervereinigung wurde das Problem allerdings vor allem im Osten der Republik evident und ließ sich schon aufgrund der rund eine Million leer stehenden Wohnungen 4 nicht mehr übersehen. Mit dem weitest gehenden Wegfall der wirtschaftlichen Basis 5 in den neuen Bundesländern setzte ein rasanter Depopulationsprozess ein, der die Berliner Soziologin Christine Hannemann zu dem Schluss kommen ließ, dass die schrumpfende Stadt als der neue Normalfall in der Stadtentwicklung anzusehen ist.6 Die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess abläuft, hat im Osten Deutschlands eine Laborsituation entstehen lassen, anhand derer Schrumpfungsprozesse und ihre Folgen beobachtet und analysiert werden können.

Einer der Beobachter ist der Berliner Architekturkritiker Wolfgang Kil. In seinem Buch „Luxus der Leere“, das sich von der künstlerisch ambitionierten Aufmachung her vermutlich vor allem an Architekten und Stadtplaner richtet, liefert er eine bedrückende Bestandsaufnahme des Verfalls. In seiner Suche nach den Ursachen der Schrumpfungsprozesse entkräftet Kil Argumente derer, die meinen, ostdeutsche Besonderheiten führten zum Auszehren der Städte und zum Exodus der Regionen. Der Autor ordnet die Phänomene vielmehr in einen allgemeinen, globalen Zusammenhang. Er stellt die These auf, dass das Ende der Industrie-Epoche, die zu ihrem Beginn ganze Bevölkerungen in Europa in Bewegung gebracht hat, unsere soziale und räumliche Umwelt ähnlich deutlich verwandeln wird (S. 45).

In vier kleinen Exkursionen nach Hoyerswerda, Görlitz, Halle-Neustadt und Leipzig Plagwitz skizziert Kil pointierte Bilder verschiedener Schrumpfungsszenarien. Dabei macht er keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen neoliberale Wachstumsdogmen. Polemisch legt er die im Schrumpfungsprozess versagenden Instrumente des Marktes bloß. Sein Plädoyer: Schrumpfung als natürlicher Prozess, der dem Wachstum folgt, sollte angenommen, und es sollte sich auf einen möglichst schmerzarmen Übergang konzentriert werden. Planer und Architekten sollten auf „Entdichtung, Verkleinerung und Entschleunigung“ (S. 104) setzen: „Das Wenigerwerden darf nicht allein auf irgendein Wegnehmen reduziert werden, vielmehr muss man das ‚Andere‘ herausfinden, das in dem ‚Weniger‘ steckt.“ (S. 98f.)

In dem „Anderen“ wähnt Kil gar einen Gewinn höherer Ordnung und damit eine Chance zur Abkehr von bestehenden Wachstumszwängen. In der Vision des Autors bleiben nach dem Schrumpfen Räume übrig, die „aus globalen Konkurrenzen ausgeschieden“ (S. 104) sind. Leere Räume, für die es eine neue Nutzungsidee zu finden gilt oder die einfach leer gelassen werden. Mut zur Lücke. Städte werden perforiert 7, und „die Natur“ kehrt in die Stadt zurück.

Kil wagt in seiner populärwissenschaftlichen Streitschrift den Blick weit in die Zukunft. Aufgrund des sehr breiten Spektrums seiner Ausführungen bleibt er gezwungenermaßen oberflächlich, zeigt aber die Komplexität und den damit notwendigen interdisziplinären Zugang auf. „Luxus der Leere“ bietet sowohl für PlanerInnen als auch für EthnologInnen einige spannende Forschungsansätze. Gibt es derzeit doch noch wenig Erfahrungswerte, wie Schrumpfungsprozesse sinnvoll begleitet werden können. Selbst theoretisch ist das Gegenteil von Wachstum 8 bisher nur unscharf umrissen. In diesem Bereich sind gerade Europäische EthnologInnen als die klassischen BeobachterInnen gefragt, denn als Grundlage aller weiteren Schritte gilt es, die Lebenswelten der Betroffenen darzustellen: Wie organisieren die Menschen ihren Alltag in einer schrumpfenden Stadt? Das anfangs von mir kurz skizzierte Beispiel Oschatz sagt recht wenig über die Lebensqualität in dieser Stadt aus. Statistiken machen die Dynamik eines Schrumpfungsprozesses kaum sichtbar. Alltagskulturelle Komponenten können daraus nicht abgelesen werden. Hans-Joachim Bürkner nennt diese Komponenten „weiche Faktoren“, die bei Vernachlässigung die Abwärtsspirale von Schrumpfungsprozessen verstärken: Brüche in lokalen Netzwerken führen bei den Dagebliebenen zum Rückzug in die Privatsphäre. Zivilgesellschaftliches Engagement stirbt ab und wird durch kollektive Resignation ersetzt.9 Es fällt nicht schwer, dieses Schema in Richtung Politikmüdigkeit und Anfälligkeit für Radikalismus weiter zu denken.

Eine breite Basis dieses Grundlagenwissens hilft dagegen, die Problematik zu entdramatisieren sowie blinden Aktionismus von kommunaler Seite zu vermeiden. Jede Stadt hat ihre eigene alltagskulturell eingebettete Entwicklungsdynamik.10 Zu erkennen, was den Alltag in einer bestimmten Stadt lebenswert oder eben nicht mehr lebenswert macht, könnte den Schrumpfungsprozess in positive Bahnen lenken. Die Einbindung von „Local Knowledge“ würde eine Steuerung dieser Transformation lebensweltlich verankern. Wie Häußermann jüngst angemerkt hat, sind die Bewohner selbst und ihre Strategien das eigentliche Kapital für die zukünftige Stadtentwicklung – städtische Kreativität als Antriebsmoment für städtische Transformation.11

Karl-Dieter Keim fordert in diesem Zusammenhang, auch bereits vollzogene Transformationsprozesse in die Debatte mit einzubeziehen: Es gab in der Vergangenheit genügend Städte, die trotz erheblicher Schrumpfung überlebt und ihre Identität bewahrt oder neu gefunden haben. In der Analyse der Bedingungen und speziellen Verlaufsformen dieser Prozesse bieten sich Chancen für künftige Strategien.12

Schrumpfung als natürlichen Prozess mit seiner speziellen Eigendynamik zu sehen, wie von Kil gefordert, könnte zudem eine andere Sichtweise auf den Zusammenhang von Zivilisation 13 und Natur als dem, was sich ohne den Menschen entwickelt, ermöglichen. In der Akzeptanz, dass etwas, was vom Menschen gemacht und gewachsen ist, auch wieder schrumpft und vergeht, um etwas Anderem Raum zu schaffen, liegt der Schlüssel für eine positive Deutung dieser Prozesse. Auch Keim plädiert für einen „natürlichen Blick“ auf die Situation: Städte sollten seiner Meinung nach nicht als Maschinen, sondern als Organismen betrachtet werden, so könnte sich der Schwerpunkt des Handelns von eher technokratischen Maßnahmen zur physischen Infrastruktur auf Städtedynamik und Lebensqualität verlagern. 14 In der Relativierung von quantitativem Wachstums- und Fortschrittsglauben rückte dann wieder der Mensch in seinem „qualitativem Wachsen“ im Zusammenleben mit anderen Menschen als Teil der Natur in den Mittelpunkt des Erkenntnis- und Entwicklungsinteresses. Was in etwa Kils prophezeitem „Gewinn höher Ordnung“ nahe käme. Wolfgang Kils Streitschrift ist ein wunderbarer Denkanstoß, Experimente abseits ausgetretener wissenschaftlicher und politischer Pfade in Richtung dieser „höheren Ordnung“ zu wagen.

Anmerkungen:
1 Gemeindestatistik für Oschatz, Stand: 01.01.2004, Statistisches Landesamt Kamenz; Eigene Beobachtung und offizielle Angaben der Stadt unter: www.oschatz.org, Stand 09.03.05
2 Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter, Neue Urbanität, Frankfurt am Main 1987.
3 Hannemann, Christine, Stadtentwicklung ohne Wirtschaftswachstum. Was verursacht schrumpfende Städte in Ostdeutschland?, in: Bauer-Volke, Kristina; Dietzsch, Ina (Hgg.), Labor Ostdeutschland. Kulturelle Praxis im gesellschaftlichen Wandel, Berlin 2003, S. 209-218, hier S. 210.
4 Dies ist die offizielle Zahl der Bundesregierung im Förderprogramm Stadtumbau Ost. Im Rahmen dessen sollen zwischen 2002 und 2009 etwa 350.000 Wohnungen, zumeist Plattenbauten, abgerissen werden. Vgl. www.stadtumbau-ost.info, Stand: 09.03.05.
5 Im Gegensatz zu einem vergleichsweise behutsamen Strukturwandel, wie ihn einige westliche Schrumpfungsregionen wie das Ruhrgebiet durchmachen, sprechen Beobachter im Osten von einem regelrechten Strukturbruch. Zu den wirtschaftlichen Folgen des Transformationsprozesses nach der Wiedervereinigung vgl: Thomas, Michael, Paradoxien in der deutschen Transformationsdebatte, in: Berliner Debatte Initial 9 (1998), S.104-115.
6 Hannemann, wie Anm. 3, S. 217.
7 Beachtenswerte Versuche hierzu finden seit einigen Jahren in Leipzig statt, vgl.: Lütke Daldrup, Engelbert, Die perforierte Stadt. Eine Versuchsanordnung, in: Stadtbauwelt 24 (2001), S. 40-45.
8 Einen Überblick über die definitorischen Ansätze bietet: Scholl, Dominik, Alles hat ein Ende – nur das Wachstum hat zwei, in: Dietzsch, Ina (Hg.), Vergnügen in der Krise. Die Berliner Trabrennbahnen zwischen Alltag und Event. Berlin 2005, S.82-101.
9 Bürkner, Hans-Joachim, Schrumpfung und Alltagskultur. Blinde Flecken im Stadtumbau-Diskurs, in: Keim, Karl-Dieter (Hg.), Regenerierung schrumpfender Städte – Zur Umbaudebatte in Ostdeutschland, Erkner 2001, S.41-68, hier S. 57.
10 Ebenda, S. 60.
11 Häußermann, Hartmut, Umbauen und Integrieren – Stadtpolitik heute. in: Aus Politik und Zeitgeschichte 3/2005, S. 3–8, hier S. 5.
12 Keim, Karl-Dieter, Forschungs- und Entwicklungsprogramm zur Regenerierung der ostdeutschen Städte. in: Ders. (Hg.), Regenerierung schrumpfender Städte – Zur Umbaudebatte in Ostdeutschland, Erkner 2001, S. 9-39, hier S. 21.
13 Ich habe hier den Begriff Zivilisation dem der Kultur vorgezogen, da er meiner Meinung nach die Gesamtheit der Entwicklung von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Faktoren besser ausdrückt. Vgl.: Elias, Norbert, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1, Frankfurt am Main 1997, S. 90.
14 Keim, wie Anm. 12, S. 21.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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