G. A. Ritter: Der Preis der deutschen Einheit

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Titel
Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats


Autor(en)
Ritter, Gerhard A.
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
541 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Steiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten bildete zweifelsohne die einschneidendste Zäsur der jüngsten deutschen Zeitgeschichte. Ihre sozialpolitische Begleitung und deren Folgen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes des Münchner Emeritus Gerhard A. Ritter, der durch seine Verdienste beim historischen und internationalen Vergleich des Sozialstaats allgemein bekannt ist. Ritter behandelt den Zeitraum von Ende 1989 bis zur Bundestagswahl vom Oktober 1994. Dabei greift er immer wieder bis in die Gegenwart aus, was seine Darstellung mit aktuellen Bezügen bereichert. Innerhalb des Untersuchungszeitraums unterscheidet Ritter drei Perioden.

Erstens geht es um den Zeitabschnitt zwischen dem Mauerfall am 9. November 1989 und der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990, in dem die DDR zusammenbrach, die rechtlichen Grundlagen für die Wiedervereinigung gelegt wurden und diese schließlich über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli sowie mit der staatlichen Vereinigung am 3. Oktober 1990 realisiert wurde. Ritter arbeitet heraus, dass in der Bundesrepublik für diesen Fall weder ein Masterplan noch ähnliches für spezielle Felder existierte. Zudem wurden die Schwierigkeiten und die Dauer der Transformation vielfach unterschätzt. Man orientierte sich an dem Wirtschaftsboom der frühen Bundesrepublik, der mittelfristig der Währungsreform von 1948 gefolgt war. Dabei wurden die vollkommen anderen Rahmenbedingungen vernachlässigt bzw. bewusst ausgeblendet. Faktisch sollte schließlich die westdeutsche Sozialordnung vollständig auf Ostdeutschland übertragen werden. Ritter fragt aber auch nach den möglichen Alternativen. Beispielsweise wollten wirtschaftsnahe Kreise die vollständige Übertragung der westdeutschen sozialen Sicherung mit dem Argument verhindern, dass dadurch private Investoren abgeschreckt würden. Das wurde sowohl vom Bundesarbeitsministerium – unterstützt vom Bundeskanzler – als auch von Gewerkschaften, Sozialdemokraten und DDR-Politikern zurückgewiesen. Andererseits hofften die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften, die Strukturschwächen des westdeutschen Systems – beispielsweise im Gesundheitswesen oder in der Sozialversicherung – über den Umweg der neuen Bundesländer abbauen und den Sozialstaat mit der Übernahme bestimmter Elemente aus der DDR ausbauen zu können – wie dem Recht auf Arbeit und Wohnung und der Grundsicherung im Rentenalter. Das ließ sich wiederum angesichts der politischen Kräftekonstellation nicht verwirklichen. Auch das Erfordernis, die außenpolitisch günstige Situation für die Vereinigung auszunutzen, sowie der Druck der DDR-Bevölkerung auf eine schnelle Einheit verhinderten nach Ritter schließlich Alternativen im Einigungsprozess und Veränderungen des westdeutschen Systems.

Die zweite Periode erstreckte sich von der Regierungsbildung im Januar 1991 bis etwa Herbst 1992. In dieser Zeit wurde der westdeutsche Sozialstaat auf die neuen Bundesländer übertragen. Dabei sicherte die Sozialpolitik – insbesondere die Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik – den Umbruch in Ostdeutschland entscheidend ab. Sie dämpfte die Konsequenzen des Einbruchs am Arbeitsmarkt und legte die Grundlagen für die Akzeptanz und schließlich auch die Legitimation der neuen Ordnung. Damit übernahm der Staat letztlich die Verantwortung für die Lebensverhältnisse in den ostdeutschen Ländern, was der Haltung und Sozialisation der dortigen Menschen weitgehend entsprach. Doch veränderten die damit verbundenen Transferzahlungen die Rahmenbedingungen für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die durchaus erfolgreichen Versuche der 1980er-Jahre, die Staatsverschuldung und den Sozialstaat zu konsolidieren, verkehrten sich nun wieder in ihr Gegenteil: Die Staatsschulden stiegen stark an – ebenso wie Sozialleistungsquote, Staatsquote und Lohnnebenkosten.

Angesichts dieser Probleme begann in dem dritten Zeitabschnitt ab Herbst 1992 eine langsame Neuausrichtung der Sozialpolitik. Die Staatsfinanzen seien zu konsolidieren und die Belastungen der Wirtschaft mit Steuern und Arbeitskosten zu reduzieren. Zugleich wurden aber die Leistungen für Familien ausgebaut und insbesondere die Pflegeversicherung neu eingeführt. Letztlich blieben die Versuche der Umsteuerung ohne Erfolg, weil im Osten so schnell keine wettbewerbsfähige Wirtschaft errichtet werden konnte und die Kosten der Massenarbeitslosigkeit weiter stiegen. Dadurch tat sich ein Teufelskreis auf: Die Massenarbeitslosigkeit trieb die Lohnnebenkosten nach oben und dämpfte so wiederum die Beschäftigung. Das lag an der engen Bindung des deutschen Systems der Sozialsicherung an die Erwerbstätigkeit. Dieses System war zwar – so Ritter – schon vor 1990 unter anderem wegen der Massenarbeitslosigkeit unter Druck geraten, aber die schwere Krise nach 1990 war „wesentlich eine Folge der deutschen Vereinigung“ (S. 133). Dies wird zum einen darauf zurückgeführt, dass mit den Kosten der Wiedervereinigung überwiegend einseitig die Träger der Sozialversicherung – die Versicherten und Arbeitgeber – anstelle der Steuerzahler belastet wurden, was nach Ritter der entscheidende Schwachpunkt in der Gestaltung der sozialen Vereinigung war. Zum anderen bestätigte die verwaltungstechnisch gut gelungene Übertragung des westdeutschen Systems in den Augen der Beteiligten die Leistungsfähigkeit des bestehenden Systems und behinderte auch – angesichts des Vereinigungsbooms 1990/91 – die Diskussion von Alternativen. Dadurch wies das westdeutsche System eine erstaunliche Kontinuität bei gleichzeitiger größter Diskontinuität in den neuen Bundesländern auf. Allerdings ist Ritters These, die „Krise des Sozialstaats“ sei der „Preis der deutschen Einheit“, auch zu hinterfragen: War auf die bereits vor 1989 abzusehenden, strukturellen Probleme des (west)deutschen Sozialstaats nicht eher zurückhaltend reagiert worden? Mit der fortschreitenden Europäisierung und Globalisierung, die freilich durch den Zusammenbruch des Ostblocks beschleunigt wurde, hätte sich der Druck auch ohne Wiedervereinigung weiter erhöht.

Dieser Periodisierung, die er in der kurzen, instruktiven Einleitung entwickelt, folgt Ritter dann aber in der Gliederung des Bandes nicht vollständig. Das Buch umfasst drei Teile: Der erste widmet sich den politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen der deutschen Einigung und der Sozialpolitik in dieser Zeit. Der zweite behandelt die Entstehung der Sozialunion, wobei die Sozialpolitik zunächst der Regierung Modrow und dann der Regierung de Maizière sowie die Entstehung des Staatsvertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und die Genese des Einigungsvertrages im Mittelpunkt stehen. Zum Abschluss des zweiten ebenso wie des dritten Teils werden in eigenen Kapiteln die in den jeweiligen Zeitabschnitten wesentlichen sozialpolitischen Akteure herausgearbeitet, ihre Intentionen und Möglichkeiten näher beleuchtet. Der dritte Teil geht auf den Wandel des Sozialstaats zwischen 1990 und 1994 ein. Dabei ist dem Aufbau der Institutionen und Träger des Sozialstaats in den neuen Bundesländern einerseits sowie den Debatten über den Wirtschaftsstandort Deutschland und den finanz- und sozialpolitischen Problemen der Vereinigung andererseits jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier wird somit die in der Einleitung vorgestellte Zäsur im Herbst 1992 wiederum verwischt, womit der Autor ihre Stichhaltigkeit selbst in Frage stellt.

Der Band beruht auf neu erschlossenen Archivalien aus dem Bundeskanzleramt, dem Bundesfinanzministerium und vor allem aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) – was dadurch ermöglicht wurde, dass die vorliegende Studie im Kontext des vom BMAS mitherausgegebenen Großprojekts „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“ entstanden ist. So konnten die üblichen Sperrfristen umgangen werden. Darüber hinaus hat Ritter für die Zeit bis zur Vereinigung auch die Unterlagen der relevanten DDR-Institutionen eingesehen. Außerdem konnten Akten verschiedener Versicherungsträger, der Parteien und Gewerkschaften sowie die persönlichen Unterlagen Norbert Blüms herangezogen werden. Des Weiteren hat Ritter 14 Interviews mit sozialpolitischen Akteuren des Einigungsprozesses geführt.

Die Darstellung konzentriert sich über weite Passagen auf die klassische und detaillierte Präsentation von politischen Entscheidungsprozessen, Institutionengeschichte und juristischer Normensetzung, was mitunter etwas langatmig gerät. Dabei wird die Herkunft des Bandes aus dem Vorhaben zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland erkennbar, denn es lässt sich die dort vorgegebene Gliederungsstruktur wieder finden, die hier im Interesse der Lesbarkeit besser aufgelöst worden wäre. So wäre es wünschenswert gewesen, die längeren Ausführungen zur Normensetzung stärker mit den sozialen Entwicklungen zusammenzubinden. Neben Ungenauigkeiten im Detail, die bei solchen Darstellungen wohl kaum zu vermeiden sind, dürfte manches Urteil weitere Diskussionen hervorrufen. So versagte beispielsweise die aktive Arbeitsmarktpolitik nicht erst in den 1990er-Jahren in den neuen Ländern (S. 388), sondern sie hatte schon in den 1980er-Jahren bestenfalls begrenzte Erfolge zu verzeichnen.1 Trotz dieser eher marginalen Einwände hat Ritter alles in allem einen Band vorgelegt, an dem niemand vorbeikommt, der sich für die deutsche Wiedervereinigung und ihre Folgen interessiert. Zudem sind seine Erkenntnisse allen Beteiligten der aktuellen Sozialstaatsdebatten ans Herz zu legen.

Anmerkung:
1 Siehe dazu: Altmann, Georg, Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 2004.

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