Cover
Titel
Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film


Autor(en)
Wilharm, Irmgard
Erschienen
Hannover 2006: Offizin Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zahlmann, Fachgruppe Geschichtswissenschaft, Universität Konstanz

Der von Detlef Endeward, Claus Füllberg-Stolberg und Peter Stettner herausgegebene Band vereint Aufsätze von Irmgard Wilharm aus den Jahren zwischen 1986 und 2001. Nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass dieser Band anlässlich der Emeritierung der Professorin aus Hannover veröffentlicht wurde, hätte man sich von den Herausgebern eine wohlwollende Würdigung von Wilharms Forschungen und eine eindeutige Positionierung ihrer Arbeiten in der mittlerweile sehr differenzierten Praxis der historischen Arbeit mit audiovisuellem Material gewünscht. Irmgard Wilharms Verdienste um die Einführung der didaktisch und theoretisch fundierten Analyse von Filmen in die Geschichtswissenschaft sind unbestritten. Dieser Band hätte die Möglichkeit geboten, die Wirkung Wilharms auf die deutsche Film- und Medienwissenschaft sowie die Anschlussmöglichkeiten ihrer Überlegungen für eine neue Generation von Wissenschaftler/innen und Lehrer/innen zu verdeutlichen.

Das Buch dokumentiert die über mehrere Jahrzehnte entwickelten theoretischen und methodischen Überlegungen Wilharms über den Einsatz von Filmen für die historische Bildungsarbeit. Die 17 Beiträge der Professorin für Neuere Geschichte und Didaktik an der Universität Hannover sind sämtlich bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden und überschneiden sich zum Teil inhaltlich. Doch dieser Aspekt wirkt sich nicht störend auf die Lektüre aus. Wilharms Sprache ist klar und die von ihr vorgestellten und analysierten filmischen Beispiele sind überzeugend. Dennoch zeigen die Beiträge auch die Grenzen des Bandes: Ein eigenständiges theoretisch-didaktisches Instrumentarium für den Einsatz von Filmen in der historischen Bildungsarbeit legt Wilharm nicht vor. Ihr Ansatz basiert auf Siegfried Kracauers psychologischer Filmanalyse und rückt die Verdeutlichung „kollektiver Mentalitäten“ (S. 49) in den Mittelpunkt. Auch die deutliche Konzentration der Fallbeispiele auf die deutsch-deutsche Nachkriegszeit bzw. auf Filme, die sich mit dem Nationalsozialismus befassen, ist diesem Ansatz geschuldet.

Mit dem nüchternen Untertitel des Bandes, „Studien zur Zeitgeschichte im Film“, suggerieren die Herausgeber eine thematische und theoretische Breite, die diese Veröffentlichung nicht einlöst. Es ist ein Zeichen für eine „klassische“ Lesart der Filmgeschichte, dass Kracauers Thesen und Methodik nicht kritisch diskutiert, sondern als gleichsam althergebrachte Vorgehensweise völlig selbstverständlich vorgestellt werden. Angesichts der differenzierten Debatten über Methoden und Grenzen der Analyse von bewegten und unbewegten Bildern als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, die auch den Konstanzer Historikertag prägten, wirkt die Inbrunst, mit der Wilharm „AV-Medien [als] die wichtigsten Quellen zur Erforschung der inneren Verfasstheit einer Gesellschaft“ (S. 207) bewertet, wie die Rhetorik aus einer Zeit geschichtswissenschaftlicher Praxis, in welcher der Stellenwert von Filmen als historischer Quelle noch legitimiert werden musste. Die Selbstverständlichkeit, mit der Filme im angloamerikanischen Raum als historische Quelle genutzt werden, ist in Deutschland allerdings immer noch die Ausnahme. Wilharm kann angesichts ihrer langjährigen Bemühungen und ihrer Erfolge auf diesem Gebiet als sympathische Pionierin gewürdigt werden.

Es mag jedoch den argumentativen Spätfolgen einer Zeit geschuldet sein, in der sich kultur- und mediengeschichtliche Ansätze noch gegenüber einer dominanten Politik- und Sozialgeschichte zu behaupten hatten, dass die Beiträge Wilharms dort die größten Stärken und Schwächen offenbaren, wo sie sich thematisch der Zeitgeschichte stellen, etwa in ihren Ausführungen zur Filmproduktion in der deutsch-deutschen Nachkriegszeit. Die wirtschafts- und kulturpolitischen Rahmenbedingungen der Filmproduktion in West- und Ostdeutschland, ebenso die mediale Konkurrenz durch das Fernsehen, werden hier auf eindrucksvolle Weise verdeutlicht. Die vorgestellten Fallbeispiele gewinnen jedoch keine Eigenständigkeit als kulturelle Leistungen. Sie erscheinen in diesen Aufsätzen als geronnene kollektive Mentalitäten, als Wunschträume des Publikums (oder wenigstens der Produzenten) und als Reaktionen auf die spezifischen Gesellschaftsordnungen in beiden Teilen Deutschlands. So werden in den Fallstudien, die eigentlich nur als Nachweis der Gültigkeit für Kracauers Thesen eingesetzt werden, keine Fragen an die Filme selbst gestellt. Sie erscheinen lediglich wie eine Verdopplung des akademisch definierten Gesellschaftsbildes. Ganze Dimensionen des Mediums und der thematischen und ästhetischen Vielschichtigkeit beider deutschen Filmkulturen fallen aus dieser Beweisführung heraus. Filme dienen so als Illustrationen einer traditionellen Gesellschaftsgeschichte, nicht als Gegenstand einer ambitionierten Kulturgeschichte.

Skepsis gegenüber Wilharms Ergebnissen scheint auch dann geboten, wenn sie die Ausführungen zur DEFA-Filmkultur mit Erinnerungen und Stellungnahmen ostdeutscher Filmschaffender belegt, die sie in der späten DDR oder nach der deutschen Vereinigung und der Abwicklung der ostdeutschen Filmindustrie formuliert haben (S. 224, 228). Hier finden sich ganz gewiss keine kollektiven Mentalitäten der ostdeutschen Bevölkerung, vor allem nicht die von Willharm so nachdrücklich eingeforderte Position der Arbeiter (S. 252), sondern nachträgliche Erklärungen und Rechtfertigungen der in der Regel fest angestellten Vertreter einer keinesfalls automatisch regimekritischen kulturellen Elite. Die großen Verdienste einer kritischen Wirklichkeitssicht auf die DDR einschließlich entsprechender Resonanz beim Publikum kam gerade nicht den von Wilharm analysierten Spielfilmen zu, die nach dem 11. Plenum 1965 verboten wurden. Vielmehr handelte es sich dabei um Filme, die in späteren Jahren durch ihre spezifische Ästhetik, das Spiel mit den Regeln der Filmsprache oder die scheinbar beiläufige Neuzusammenstellung klassischer filmischer Narrative etwas trafen, was im weitesten Sinn als „Nerv“ der Entstehungszeit bezeichnet werden kann. Diese Filme (z. B. „Solo Sunny“, 1980) thematisieren Fragestellungen, die über die filmisch dargestellten Personengruppen hinaus – und auch geschlechterübergreifend – ein ostdeutsches Publikum ansprachen. Die Methode Kracauers scheint jedoch an ihre Grenzen zu geraten, wenn sie auf eine Kulturproduktion Anwendung findet, die sich in und gegenüber einer Diktatur behaupten musste. Zudem kann die ostdeutsche Filmkultur nicht als autarke Filmkultur angesehen werden. Ostdeutsche Mediennutzung muss immer auch als eine Nutzung ostdeutscher und westdeutscher Medien durch DDR-Bürger erfasst werden. Ein Kinofilm der DEFA stand damit thematisch und ästhetisch in Konkurrenz zu internationalen Spielfilmen und reagierte auf diese. Wilharms Fallstudien erscheinen vor diesem Hintergrund wie unter den kontrollierbaren Bedingungen eines Labors aufbereitet. Sie sind in ihrer Evidenz unhinterfragbar – nur zeigen sie einen äußerst engen Aspekt der Deutungsmöglichkeiten des Mediums Film. Gegenläufige oder neutralisierende Deutungsmöglichkeiten werden hierdurch nicht erfasst.

Angesichts einer planwirtschaftlich gelenkten Filmwirtschaft, eines komplizierten Verfahrens der staatlichen Genehmigung und Kontrolle der Filmproduktion auf nahezu allen Ebenen und – mit wenigen Ausnahmen – einer geradezu vorsätzlichen Missachtung der Publikumsbedürfnisse, verweist Wilharms Aussage, „DEFA-Filme in der Tradition des Antifaschismus sind Seismographen für die innere Verfassung der DDR und als solche aussagekräftige Quellen.“ (S. 247), auf eine doppelte Überschätzung: Zum einen einer Überschätzung des Mediums Film als Indikator kollektiver Befindlichkeiten, zum anderen der hiermit einhergehenden Methode zu seiner Analyse. Der Antifaschismus in der Filmkultur diente immer auch als Selbstdarstellung der DDR und ihrer Kontrastierung mit der Bundesrepublik – die Deutung dieses wichtigen kulturellen Aspekts wurde nicht dem Zufall und schon gar nicht der freien Interpretation ostdeutscher Bürger überlassen. DEFA-Filme brauchten zu ihrer gesellschaftlichen Legitimation und zum „Erfolg“ gerade nicht die Akzeptanz des Publikums, sondern die passgenaue Übereinstimmung mit den offiziellen Vorgaben – oder zumindest durften sie dazu nicht in offensichtlichem Widerspruch stehen.

Dass aus der Lektüre dieses Bandes nicht bedingungslos ein positives Fazit gezogen werden kann, ist bedauerlich. Dies ist jedoch weniger der Autorin als der Edition anzulasten: Man hätte die theoretische Position Wilharms stärker definieren und in den Kontext zeitgleicher und gegenwärtiger filmwissenschaftlicher und filmhistorischer Ansätze einordnen können – als einen Zugang zur Quelle „Film“ neben anderen. Wenn den Herausgebern diese Arbeit nicht möglich war, so wäre eine simple Änderung des Titels mit einer Betonung der Position Kracauers oder einer wissenschaftsgeschichtlichen Verortung der Autorin hilfreich gewesen. Welcher Nutzen aus einer psychologisierenden Perspektive auf Filme gezogen werden kann (und vor welchen Grenzen diese haltmacht) hätte auch durch korrespondierende Aufsätze anderer Autoren unterstrichen werden können. Aber bereits ein einziger kritischer und zugleich konstruktiver Kommentar der Herausgeber hätte dieses Buch aufgewertet und zu einer anregenden – und angemessenen – Würdigung Wilharms werden lassen.

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