D. Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick

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Titel
Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie


Autor(en)
Edmonds, David
Erschienen
München 2021: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Lorenz und Hans Veigl

Wie jeden Tag betritt am Morgen des 22. Juni 1936 der Mitfünfziger die Universität am Ring, durchquert die Aula und wendet sich der sogenannten Philosophenstiege zu. Für den schmächtigen, bebrillten Mann hat die Wartezeit ihr Ende gefunden. Seit 9 Uhr früh hatte er nächst der juridischen Fakultät auf das Eintreffen seines Opfers gewartet, um ihn herum geht jeder an sein Geschäft und seines ist der Mord. Er überholt den Erwartenden am ersten Treppenabsatz, wendet sich um und gibt vier Schüsse aus einem Browning ab. Der Getroffene taumelt mit einem Aufschrei zurück und fällt rücklings auf die Stufen. Der Täter stößt nunmehr, wie die Bedienerin Marie Finder später glaubwürdig versichern wird, die Worte „So, Hund, du verfluchter, jetzt hast du es!“ aus und lässt sich widerstandslos festnehmen. Auf dem grünbespannten Konferenztisch im philosophischen Dekanat, den Kopf auf zwei Bücher gestützt, stirbt unterdessen der Fünfundfünfzigjährige. Der vom Ständestaat eingesetzte „Sachwalter der Hochschülerschaft“, Heinrich Drimmel, meldet um 9 Uhr 45 die Tat an das Unterrichtsministerium, wo der Vorfall unter der Geschäftsnummer 215006/1 vermerkt wird: „Gegenstand: Prof. Moritz Schlick, Ermordung“.

Ins Schussfeld war Moritz Schlick und mit ihm der „Wiener Kreis“ durch seine liberale bis sozialistische, antimetaphysische und aufklärerische Haltung bereits seit seinem Amtsantritt 1922 an der Wiener Universität geraten. Eine breitgestreute Interessenskoalition, bestehend aus konservativ-klerikalen und deutschnational, später nationalsozialistischen Professoren, versammelt etwa in der „Deutschen Gemeinschaft“ gestützt vom „Deutschen Klub“ und dem jeweiligen Unterrichtsministerium, ein Milieu im Zeichen von Krucken- wie Hakenkreuz, das seit den letzten Tagen der Monarchie bis hinein in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts die Hochschulen des Landes in ihrem Sinne fürsorglich lenken wird, hatte den „Wiener Kreis“ seit seinem Entstehen mit der praktikablen Waffe des Antisemitismus bekämpft. Ab dem Jahr 1934 forderte eine faschistisch-totalitäre christliche Ständestaatsführung nun offen die „Beseitigung des revolutionären Schutts“ an den Universitäten, im Austausch gegen eines auf Naturrecht fundierten politischen Katholizismus samt christlicher Philosophie als „Grundwissenschaft“, freilich als „Magd der Theologie“.

1936 war zum Jahr der Säuberungen der Universitäten proklamiert worden, und so paarte sich in den offiziellen Nachrichten über Schlicks Ermordung unverhohlene Erleichterung mit unverschleiertem Hass auf den relegierten „Wiener Kreis“. „Um Schlick“, so verkündete etwa die ständestaatliche Zeitschrift Schönere Zukunft vom 12. Juli 1936, „scharten sich alsbald alle metaphysikfeindlichen Elemente, insbesondere alle Juden und Freimaurer“, rief ihm ein anonymer Kollege ins Grab nach. „Unter Schlicks Führung bildete sich der sogenannte ‚Wiener Kreis‘, der sehr rührig war und der – sehr zum Schaden für den Ruf Österreichs als christlichen Staates – im Ausland als die österreichische Philosophie angesehen wird. Wir möchten aber doch daran erinnern, dass wir Christen in einem christlich-deutschen Staate leben, und dass wir zu bestimmen haben, welche Philosophie gut und passend ist.“

Auch wenn Moritz Schlick kein Jude und später sogar Mitglied der „Vaterländischen Front“ geworden war, so warf ihm doch das Linzer Volksblatt in philosophischer Hinsicht am 10. Juli 1936 vor, das „Edelporzellan des Volkstums, heimathörige Schollenkinder, edler Wuchs aus dem geistigen Kraftreservoir unseres Bauernstandes, Menschen, entzündlich für das Schöne und Hohe“ geistig verführt zu haben. Einer von diesen war Johann Nelböck.

Die Figur des Täters wirft keinen langen Schatten, entspricht jedoch durchaus dem erwähnten Schollenkind des Linzer Blattes: Nelböck, 1903 im oberösterreichischen Brandel als Sohn eines Kleinbauern geboren, studiert in Wien Philosophie und dissertiert bei Schlick, schlägt sich in Zeiten hoher Akademikerarbeitslosigkeit mit Nachhilfestunden durch und stößt bereit 1931 Morddrohungen gegen seinen Doktorvater aus. Danach psychiatriert, wird er zur Beobachtung drei Monate in eine Anstalt abgeschoben, eine neuerliche Auseinandersetzung mit Schlick um eine Studentin endete für Nelböck auf Betreiben seines Professors 1932 mit einer weiteren Klinikeinweisung wegen „absonderlichen Benehmens“.

Nelböck war jung und der Ständestaat auch. Und so kamen beide unter behutsamer Führung des katholischen Universitätslehrers, späteren Ordinarius und christlichen Existenzphilosophen mit Heideggerschem Hintergrund, Leo Gabriel, einander näher. Anfang 1935 scheint die Freundschaft für Nelböck Früchte zu tragen. Gabriel, der auch Vorlesungen an der gesäuberten Volkshochschule Ottakring abhält, lässt Nelböck öfters supplieren und verspricht ihm eine eigene Vorlesungsreihe. Doch Gabriels Personalpolitik scheitert, sein Ansuchen wird mit Hinweis auf die Anstaltsaufenthalte seines Schützlings abgelehnt. Nelböck, von Gabriel als Kenner des Neopositivismus bislang legitimiert, ist nunmehr auch als dessen Kritiker nicht mehr gefragt und gibt erneut Moritz Schlick die Schuld. In einem mit Professor Gabriel aufgenommenen Polizeiprotokoll – dieser weilte während der gesamten Prozesszeit unabkömmlich auf religiösen Exerzitien in Innsbruck – ist davon die Rede, dass er in einem Gespräch gehört habe, Professor Schlick könne Nelböck nicht empfehlen, diese Äußerung soll er aber Nelböck selbst niemals mitgeteilt haben. In der Urteilsbegründung stellt das Gericht dazu jedenfalls fest, dass Nelböck Professor Schlick „durch irrtümliche oder missverstandene Äußerungen dritter Personen, darunter Professor Gabriel, für das Fehlschlagen seiner Pläne verantwortlich“ gemacht habe.

Noch 1936 werden Bemühungen des Ministeriums deutlich, die letzten Reste des „Wiener Kreises“ zu zerschlagen. Der Kreis, seines Mittelpunkts beraubt, zerfällt endgültig, wozu auch die einsetzende Emigration seiner Mitglieder, unter ihnen Rudolf Carnap, Otto Neurath, Hans Hahn und Kurt Gödel (auch Ludwig Wittgenstein und Karl Popper standen dem Kreis nahe), beiträgt. „Volksfremde Heilslehren“, schrieb die christliche Reichspost zum Abschied, seinen nun endgültig „der Boden entzogen“.

Johann Nelböck wird am 26. Mai 1937 zu zehn Jahren schweren Kerkers verurteilt, jedoch bereits im Oktober 1938 von den nunmehr im Lande regierenden Nationalsozialisten bedingt entlassen. Der einstige Neopositivist bleibt auch den neuen Machthabern gegenüber ideologisch aufgeschlossen. Nach Kriegsende arbeitet er in der Sowjetischen Mineralölverwaltung und besucht in diesem Zusammenhang einen Russischkurs. Nelböck stirbt am 3. Februar 1954 in Wien.

Moritz Schlick ist in den Nachkriegsjahren an der Wiener Universität längst vergessen. Dort waltet mit schützender Hand seit 1952 der ehemalige „Sachwalter“ und nunmehrige Ministerialbeamte Heinrich Drimmel über die Hochschulsektion und wird 1954 ÖVP-Unterrichtsminister. Unter seiner zehnjährigen Amtszeit wirkt der baldige Ordinarius Leo Gabriel neben bußfertigen ehemaligen Nationalsozialisten, am Bollwerk christlicher Philosophie und Metaphysik mit, ganz so, als hätte es den „Wiener Kreis“ niemals gegeben.

Nach Erscheinen des äußerst lesenswerten und unterhaltsamen, in deutscher Sprache 2001 erschienenen Werkes „Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte“ von Davis J. Edmonds und John A. Eidinow hat nunmehr Mitautor Edmonds ein neues Werk vorgestellt, das ebenfalls voll ist von der Geschichte, den Fakten, Hintergründen und Widersprüchen dieser bedeutenden philosophischen Gesellschaft sowie treffende Portraits der handelnden Personen beinhaltet.

Wieder gelang es dem Autor, eine kluge, abwägende Mischung aus Erzählung und wissenschaftlichem Diskurs vorzustellen, ein Stil, den man unterdessen wohl mit dem Ausdruck BBC-Didaktik betiteln könnte. Edmonds schildert anregend die Gründung und Entwicklung des Kreises, seiner Protagonisten und Gegner, stellt dies ins Umfeld der Zeit sowie der Kultur Wiens und behält im Blick, dass ironischerweise die Reputation des „Wiener Kreises“ im Ausland eine Bedeutung erlangte, die sie in Österreich niemals erreichen sollte. Er geht zurecht auf Ernst Mach als Gründungsvater zurück, weist auf die Weiterentwicklung zum logischen Positivismus beziehungsweise Empirismus hin und zeichnet den eminenten Einfluss nach, den diese Geistesrichtung vor allem im englischsprachigen Raum auszuüben begann.

„Dieses Buch soll von allgemeinem Interesse sein“, heißt es eingangs, „es soll darlegen, wer die Mitglieder waren, was aus ihnen wurde, warum sie von Bedeutung waren, und vor allem soll es dazu beitragen, sie innerhalb des Milieus zu verstehen, in dem ihre Ansichten gediehen.“ Es war das Wien der zwanziger Jahre, die Zeit der bereits stilbildend ausgeprägten Moderne. Das Ankommen der philosophischen Moderne in Wien kann jedoch exakter bestimmt werden: Im Jahr 1922 übernahm Moritz Schlick an der Wiener Universität den Lehrstuhl für Naturphilosophie, eine Position, die einst Mach eingenommen hatte. Der Wiener Kreis begann mit bemerkenswerten Köpfen aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten, die sich in dieser neuen Form des Philosophierens unter dem milden Vorsitz von Schlick zusammenfanden.

Ab 1924 verabschiedete man sich vom lauten Kaffeehaus und bezog für die regelmäßigen Zusammenkünfte Räumlichkeiten im Mathematischen Institut, in der Boltzmanngasse, Wien IX gelegen, wo die Begrüßung etwaiger ausländischer Gäste, Diskussionen über Abhandlungen und vereinbarte Themen ab 18 Uhr begannen. Darüber und noch über viel mehr wird man informiert in dem kompakten, lesenswerten Werk, das hiermit empfohlen werden soll.

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