Spätestens seitdem französische Mentalitätshistoriker in den 1970er-Jahren Lebensende und Sterben als Themen in die Geschichtswissenschaft einführten, ist klar, dass der Tod selbst eine Geschichte hat. Seither wurden Einstellungen zu Sterben und Tod in Europa mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten analysiert. Mal stand die These vom verdrängten Tod hoch im Kurs, mal die Historisierung des Suizids oder Bestattungspraktiken, die ambivalente Faszination des Leichnams oder Verbindungen von Sterben und Tod mit den Themen Altern, Schmerz, Trauer und Erinnerung. Die Historikerin Michaela Maria Hintermayr schreibt in ihrer Diskursanalyse, wie über den selbstgegebenen Tod gesprochen und suizidale Subjekte konstruiert wurden und welche Rolle Geschlecht als Differenzkategorie spielt. Sie verfolgt dabei auch das Ziel, Texte aus Medizin und anderen Wissenschaften gleichberechtigt neben Texten aus den Medien und autobiografischen Texten zu interpretieren.
Österreich, ein Land mit hohen und höchsten Suizidraten, erlebte einen statistisch signifikanten Anstieg der Suizidraten um 1870, ein Trend, der sich erst mit der Therapeutisierung und der Einführung der Suizidprävention in den 1950er-Jahren wandelte und den erst der „Psychoboom“ der 1970er-Jahre nachhaltig verändern konnte. Die auf den historiographischen Überblick in Kapitel 1 folgenden fünf Kapitel orientieren sich an zentralen kulturellen Skripten, die suizidales Handeln umgaben, und folgen in ihrer Chronologie etablierten Periodisierungen österreichischer Geschichte von der langen Jahrhundertwende (Kapitel 2), dem Ersten Weltkrieg (Kapitel 3), der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1938 (Kapitel 4), Nationalsozialismus (Kapitel 5) und der Nachkriegszeit bis 1970 (Kapitel 6).
Mit der Blütezeit der Statistik im 19. Jahrhundert versuchte der Staat, auch mehr über die Sterblichkeit der Staatsbürger:innen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu ermitteln. Denn seit 1871 mussten auch Suizidfälle statistisch erfasst werden. Sexualität, Degeneration und Suizid waren in den Diskursen des späten 19. Jahrhunderts bereits verflochten. Da es Hintermayr vor allem darum geht, geschlechtergeschichtlich informiert Muster aufzuspüren, mit denen Zeitgenoss:innen versuchten, suizidales Handeln zu erklären, bringt sie im zweiten Kapitel Biopolitik und Medizinisierung ins Spiel, mit denen dem Staat jedes Menschenleben als nützlich und daher als rettenswert galt. Denn in der langen Jahrhundertwende setzten sich auch aus dem Sozialen abgeleitete Erklärungsmuster durch. Das Motiv von der finanziellen Problemlage etablierte sich als männliches Paradigma, während der Suizid vor allem bürgerlicher Frauen als Ausdruck psychischer Störung erklärt wurde, die eine Folge des weiblichen Eindringens in männliche Domänen und ein Verlust der heterosexuellen Integrität sei.
Während der selbstgegebene Tod im Ersten Weltkrieg normalisiert worden sei, weil Sterben zum Alltag im Krieg gehörte, widmet sich Hintermayr in Kapitel 4 den allgegenwärtigen Metaphern der „Selbstmordepidemie“ und des „Selbstmordfiebers“ in der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1938. Die Registrierung steigender Suizidzahlen lässt sich mit einer wachsenden Aufmerksamkeit für Jugendliche und Frauen erklären. „Wirtschaftliche Not“ etablierte sich als zentrales Suizidmotiv im zeitgenössischen Diskurs, blieb allerdings um weiße, männliche Arbeiter und Familienernährer herum organisiert. Auch wenn erste präventive Informationszentren der 1920er-Jahre wie die Beratungsstelle für Nerven- und Geisteskranke oder die Beratungsstelle für Lebensmüde in Wien zum ersten Mal auch Homosexualität als Suizidmotiv erfassten, kann Hintermayr zeigen, dass heteronormative und eugenische Skripte und Fürsorgepraktiken zentral blieben.
Favorisierte Deutungen von Suiziden änderten sich mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich. Suizidales Handelns wurde jetzt in erster Linie mit Impulsen von „schwachen“ und „degenerierten“ Subjekten in Verbindung gebracht. Aufgrund der nach wie vor hohen Suizidzahlen blieben selbstgewählte Tode in der imaginierten NS-Volksgemeinschaft problematisch, wie auch Erklärungen für Suizide unter Nationalsozialisten. Die oft erzwungenen Suizide bekannter Nazi Funktionäre wurden mit der einzig möglichen Deutung vom ehrenhaften Ausweg eines Feldherrn in aussichtsloser Lage legitimiert und zugleich verschleiert. In den 1950er- und 1960er-Jahren verlor das Suizidthema seine öffentliche Bühne als Politikum. Ins Rampenlicht rückte vielmehr das psychisch kranke Subjekt. Mit der 1948 von der Caritas gegründeten Lebensmüdenfürsorge in Wien und der neu eingeführten Diagnose des „präsuizidalen Syndroms“ wurden zwar die Grundlagen der Professionalisierung der Suizidprävention gelegt. Allerdings, so Hintermayrs These, habe sich auch das pathologische Paradigma als Erklärungsmuster durchgesetzt, das suizidales Handeln entpolitisiere.
Hintermayr rückt einen Suiziddiskurs ins Zentrum, der sich als eugenisch-rassistisch und anti-liberal erweist. Sie kann überzeugend zeigen, welch zentrale Rolle Gender als Differenzkategorie in einem auch androzentrischen Diskurs spielt, der das suizidale Subjekt erst hervorbringt. Da die Interpretation des selbstgewählten Todes über weite Strecken nur weißen, männlichen und heterosexuellen Subjekten zugestanden wurde, kommt hier nicht nur in den Blick, wie Erklärungen und Einstellungen zu Sterben und Tod von Geschlechterdichotomien informiert waren, sondern auch, wie der Suiziddiskurs eine heteronormative Geschlechtermatrix immer wieder bestätigte und damit auch formte. Der weibliche Freitod galt als Ausdruck psychischer Schwäche, während der männliche als Folge vermeintlich objektiver sozialer Bedingungen oder eines freien Willens interpretiert werden konnte. Historische und soziale Wirklichkeit sind in der vorliegenden Interpretation vor allem diskursive Wirklichkeiten, und Identitäten werden in erster Linie als Diskurseffekte sichtbar. Hintermayr analysiert vor allem die Debatten in Medien und Wissenschaften und weniger Diskurse der Rechtswissenschaft, Religionen oder sozialer Bewegungen wie der Antipsychiatriebewegung der Nachkriegszeit. Ihr erklärtes Ziel, den erfahrungsweltlichen Diskurs mit dem speziellen Diskurs der Wissenschaften und dem „medialen Rauschen“ als Interdiskurs zu verbinden, gelingt in den einzelnen Kapitel unterschiedlich gut. Am überzeugendsten ist Kapitel 5 zum Nationalsozialismus, in dem durch die Interpretation von Selbstzeugnissen auch tatsächlich Ansätze eines lebensweltlichen Diskurses zum Vorschein kommen.
Bis heute ist der selbstgewählte Tod in vielen zeitgenössischen Gesellschaften Europas immer noch tabuisiert und durch die Bandbreite an Zuschreibungen von Selbstmord und Freitod, zu Suizid, Selbsttötung oder assistiertem Suizid nach wie vor ein Thema, an dem sich die Geister scheiden. Hintermayr legt eine lesenswerte Studie zur Kulturgeschichte des Todes vor, die die Rolle von Geschlecht bei der Deutung von Sterben und Tod ernst nimmt, und zugleich einen Beitrag, von dem auch die Medien- und Kulturwissenschaften sowie die Queer und Gender Studies profitieren werden.